Wenn Unternehmen Mut zur Veränderung demonstrieren möchten, aber sich dabei nicht zu sehr verausgaben, dann benennen sie erstmal was um. Sieht nach Wandel aus. Und setzt in der Regel keine mühseligen Umwälzprozesse in Gang.
In der vergangenen Woche hat die ARD angekündigt, Mut zur Veränderung demonstrieren zu wollen: Zum Jahreswechsel erhalten einige Doku-Labels neue Namen (DWDL.de berichtete): "ARD Story", "ARD History", "ARD Wissen". Und es ist offensichtlich, worauf das abzielt: einen universelleren Auftritt, der nicht mehr ans klassische Erste gebunden ist, sondern auch und vor allem in der ARD Mediathek funktioniert, wo so ein Themenkanal "ARD Story" natürlich viel besser ins Menü passt, um für das Genre, das durchaus als Rückgrat des linearen Fernsehens bezeichnet werden kann, neue und jüngere Interessent:innen einzusammeln, die sonst bei Netflix & Co. landen.
Der Namenstausch ändert nur leider rein gar nichts an einem Problem, das die Reihen – nicht nur die der ARD – haben: eine grundsätzliche Austauschbarkeit. Diese mag zu einem gewissen Teil gewollt sein, um sehr unterschiedliche Filme unter ein und demselben Logo zusammenfassen zu können. Zeitgemäß ist das aber nicht mehr.
Wozu Labels, die alles offen lassen?
Wozu brauchen Zuschauer:innen Labels, unter denen sie sich entweder nichts Genaues vorstellen können (fragen Sie mal Leute in der Fußgängerzone, was die genau von "ARD Story" erwarten), oder die so allgemein gefasst sind, dass man sie stattdessen auch weglassen könnte. (Grüße an "ARD History", das Geschwisterchen von "ZDF-History", nur echt mit dem Bindestrich.)
Das ist umso ärgerlicher, weil sich hinter den nichtssagenden Reihentiteln bisweilen äußerst sehenswerte Reportagen verstecken. "Die Story im Ersten" zur engen Verknüpfung des deutschen Lieblingssports mit den großen Brauereien beispielsweise: "Fußball und Bier: Wo Geld und Alkohol fließen". Mit großer Gründlichkeit listet der Film von Paul Hildebrandt und Shea Westhoff auf, wie von der Westfalen-Liga bis zur Nationalmannschaft alle die Nähe zu großen und mittelgroßen Brauern suchen, die im Gegenzug für finanziellen Support mit ihren Logos im Umfeld des Sports auftauchen oder sogar ganze Stadien nach ihren Marken benennen dürfen.
Ausgeruht erklären die Filmemacher:innen, warum Vergleichbares im europäischen Ausland unmöglich wäre, wie effektiv die Lobbyarbeit der Unternehmen funktioniert, wie bisherige Regulierungsversuche ins Leere liefen, weil sich Vereine und Brauereien gleichermaßen dagegen wehren, und welchen Einfluss die Präsenz der Suchtmittel auf die Jüngsten hat, die von ihren Eltern mit auf den Platz genommen werden.
Das 20.15-Uhr-Quotendilemma
Es ist ein beeindruckender Film geworden, dem es noch etwas besser zu Gesicht gestanden hätte, wenn darin erwähnt worden wäre, wie auch ARD und ZDF durch die Ausstrahlung entsprechender Sponsorings etwa vor Spielen der Nationalmannschaft dazu beitragen, das System weiter funktionieren zu lassem.
Und na klar wäre es passend gewesen, "Fußball und Bier" linear nicht nur deutlich früher als um 22.15 Uhr auszustrahlen, sondern außer im WDR auch direkt im Ersten. Aber, hey, im WDR mussten an diesem Abend "Markt" und "Der Haushalts-Check" mit Yvonne Willicks laufen und im Ersten eine Spielfilm-Wiederholung von 2017, da gilt es innerhalb der ARD einfach Prioritäten zu setzen.
Wie das ausgeht, wenn ein Sender gesellschaftskritische Reportagen aus dem Hier und Jetzt in die Primetime hebt, hatte kurz zuvor ausgerechnet Vox demonstriert. Vier Ausgaben seiner neuen Reportagereihe "Vox Inside" hatte der Sender mittwochabends zur besten Sendezeit programmiert – und bestätigte damit sämtliche stets auch bei ARD und ZDF gehegten Befürchtungen: Dass es damit quotentechnisch gegen die Konkurrenz nämlich keinen Blumentopf zu gewinnen gibt.
Reise durch den deutschen Wohnungsnotstand
Dabei gehört z.B. der Film "2 Zimmer, Küche, Abzocke" zum Besten, was in den vergangenen Monaten zum Thema Wohnungsnot in Deutschland gelaufen ist: Mit großer Lust, sich selbst ein Bild der Lage zu machen, besuchten Wiebke Wittneben und Rainer Jilg Mieter:innen in Würzburg, Frankfurt am Main und Mönchengladbach, die zu völlig überzogenen Preisen in winzigsten Drecksbuden ausharren, weil sie sonst nichts anderes bekommen haben und nicht auf der Straße sitzen wollten; andere, deren Mehrfamilienhäuser nach Wasserschäden zur Tropfsteinhöhle wurden, weil das Wohnungsunternehmen kein gesteigertes Interesse daran hatte, einzugreifen; und solche, denen die Bude unterm Bett wegschimmelt, weil die Grundsanierung verpfuscht worden ist.
Anderthalb Stunden waren Zeit, um Versäumnisse einzuordnen und Großkonzerne beim Namen zu nennen, um sie in die Verantwortung zu nehmen. Und mal abgesehen von der arg RTL-ig geratenen Demonstration zum Schluss, wie leicht arglose Praktikantinnen bei der Wohnungssuche erst im Internet und dann (mit versteckter Kamera beobachtet) auch im echten Leben von Herren bedrängt werden, die ihre missliche Situation ausnutzen wollen, hätte dieses "Vox Inside" auch den beiden großen öffentlich-rechtlichen Sendern hervorragend zu Gesicht gestanden. (Ähnlich übrigens wie Nora Tschirners ebenfalls am Mittwochabend gezeigte Reise ins eigene Gehirn: "Reine Kopfsache".)
Beim Recherchieren über die Schulter geschaut
Dass Vox sich dazu entschied, trotzt des auch nicht gerade innovativ-mitreißenden Übertitels für die Reihe seine Reporter:innen auch vor der Kamera auftauchen zu lassen, damit ihnen vom Publikum im wahrsten Sinne des Wortes über die Schulter schauen kann, war gut, um die Zuschauer:innen durch die komplexe Recherche hindurch zu leiten.
Auch wenn diese Form der Personalisierung gewiss nichts Neues ist und regelmäßig auch von den Öffentlich-Rechtlichen eingesetzt wird. Sie mit festen Recherche-Teams zu verknüpfen, die sich beim Publikum eine Wiedererkennbarkeit erarbeiten können, wenn sie unter gleichbleibendem Titel immer wieder mit verschiedenen Recherchen in Erscheinung treten, passiert allerdings kaum noch.
Nach seiner Einführung 2001 versuchte "ZDFreporter" anfangs unter dem damaligen Moderator Steffen Seibert eine solche Kontinuität zu pflegen; schon im Vorspann wurden die Reporter:innen (ein bisschen arg wichtigtuerisch) in Szene gesetzt. Daran gab es auch schon einiges zu kritisieren. Mit der später aus dem Format gewordenen Wiederholungsschleife für Kontrolletti-Beiträge hatte das aber nicht viel zu tun.
Heute müht sich immerhin RTL mit seinem "Team Wallraff" ein gleichbleibendes Versprechen einzulösen: regelmäßig Missstände in Wirtschaft und Gesellschaft aufzudecken, indem sich die von ihrem Mentor beauftragten Reporter:innen undercover in das Zielobjekt ihrer Recherche einschleusen.
Von Aldi bis Hitler
Und im Zweiten? Sendet man schon seit Jahren dienstagabends das Reportage-Agglomerat "ZDFzeit", unter dem sich von Lebensmittel-Checks über "Hitlers Macht" bis zu Royal-Reportagen auch wirklich noch der allerletzte Unfug subsumieren lässt, ohne dass das irgendwem in Mainz weh täte. Vorläufiger Höhepunkt war im Sommer die "ZDFzeit"-Unterreihe "Die Insider", in der vermeintliche Experten Einblicke in die Verkaufsmaschen bekannter Unternehmen liefern sollten, für die sie mal tätig waren. Um einerseits nicht erkannt zu werden, andererseits aber nicht wieder nur sprechende Schatten vor eine Wand setzen zu müssen, kleisterte der Sender seinen Kronzeug:innen aus Latex gefertigte Zweitgesichter über die eigenen, um sie dann mit steifen Gesichtszügen vor der Kamera auspacken zu lassen.
Und das war nicht nur hochgradig künstlich, peinlich und schlecht – sondern auch massiv irritierend, weil man ständig das Gefühl hatte, sich gerade von Chucky und seinen Kumpels erklären zu lassen, wie uns Ikea mit seinen "Verkaufstricks" das Geld aus der Tasche zieht (Vorsicht vor der gelben Tüte, "wer diese Tasche annimmt, gibt mehr Geld aus"!).
Besonders problematisch war die Folge, in der eine stark gesichtsverkleisterte ehemalige Marketing-Mitarbeiterin des Discounters Lidl zu enttarnen versuchte, wie ihr früherer Arbeitgeber Bio-Kund:innen angeblich an der Nase herumführe: nämlich, indem man zusätzlich zum viel beworbenen Siegel des Partners Bioland, der mit seinen Prinzipien eine besonders hochwertige Herstellung garantiert, auch Artikel "mit dem eigenen Bio-Siegel von Lidl" führt – die dann günstiger seien, leicht mit Bioland zu verwechseln und dem Discounter höhere Margen brächten.
Geht Sensation vor Genauigkeit?
Das war, gelinde gesagt, ziemlicher Unfug – weil die "Expertin", um ihre These zu stützen, kurzerhand aus der Bio-Eigenmarke des Discounters ein "Siegel" machte. Und bereitwillig darüber hinweg ging, dass neben auf den regulären Bio-Produkten mit demselben Logo einfach das reguläre EU-Bio-Siegel abgebildet war.
Mag ja sein: Lidl setzt darauf, "dass das gute Bioland-Image auf die eigenen Lebensmittel abfärbt". Aber erstens müsste man das ungefähr allen Händlern mit Bio-Eigenmarken vorwerfen; und zweitens ist es unredlich, Dinge zu behaupten, die bei näherer Prüfung sehr viel differenzierter hätten erklärt werden müssen. (Zum Beispiel so wie es Mai Thi Nguyen-Kim bei "Maithink X" zu den "Mythen und Unterschieden von Biolandwirtschaft" getan hat.) Aber das wäre natürlich komplizierter und weniger sexy als zu raunen, "die geheimen Strategin des Konzerns" aufzudecken, und über Dinge zu sprechen, die das "Management nicht preisgeben will".
Niemand sagt, dass die Öffentlich-Rechtlichen immer nur besonders sperrige Dokukost um 20.15 Uhr programmieren sollen, um damit ersehnte Mehrheiten zu vergraulen. Und vielleicht verrät irgendwer demnächst den Kulturspezialist:innen von 3sat, dass ein Wortungetüm wie "3satDokumentarfilmzeit" nicht zur Kenntlichmachung vermeintlich interessanter Inhalte taugt, eher zur Abschreckung.
Reporter:innen, denen das Publikum vertraut
Aber ganz so sensationalistisch-beliebig, wie es das ZDF bisweilen auf dem Dienstagssendeplatz angehen lässt, funktioniert's eben auch nicht – zumal der Glaubwürdigkeit des darüber stehenden Doku-Label ein Bärendienst erwiesen wird.
Es wird allerhöchste Zeit, dass die Sender nicht mehr nur überlegen, wie sich Reportagen und Dokumentationen möglichst uniform verpackt in unterschiedliche Ausspielwege pressen lassen; sondern sich viel stärker damit beschäftigen, wie sie ihrem Publikum recherchierte Inhalte mit gleichbleibender Qualität bieten können – und zwar, kleiner "Insider"-Tipp: im Idealfall von Reporter:innen, denen man als Zuschauerin vertraut, weil man sich daran erinnert, dass sie schon beim letzten Mal gute Arbeit abgeliefert haben.
Und damit: zurück nach Köln.
"Fußball und Bier: Wo Geld und Alkohol fließen" ist in der ARD Mediathek abrufbar; "Lidl: Die Insider" steht auf ZDF.de; "2 Zimmer, Küche, Abzocke" ist derzeit zahlenden Abonnent:innen von RTL+ vorbehalten.