Sie ist das Wichtigste, auf das sich Medien verlassen können müssen. Ohne sie geht es nicht, da sind sich alle einig. Aber wenn sie plötzlich weg ist, weiß erstmal niemand: wohin – und erst recht nicht, wie lange sie da zu bleiben gedenkt: die eigene Glaubwürdigkeit, zu der deutsche TV-Sender bisweilen ein ambivalentes Verhältnis pflegen.
Zumindest haben gleich zwei große Anstalten in diesem Sommer begründete Zweifel daran gesät, in welchem Umfang ihren Bekräftigungen noch Glauben geschenkt werden darf.
Innerhalb der ARD weiß man nach der fristlosen Entlassung der bisherigen RBB-Intendantin Patricia Schlesinger, die sich zu einer stattlichen Affäre um den Rundfunk Berlin-Brandenburg ausgeweitet hat, immerhin um die damit einhergehende Problematik für den ganzen Senderverbund, der sich kaum mehr um weitgreifende Reformen herumdrücken können wird.
Ein Schaden fürs gesamte System
Der beim RBB verursachte Schaden für die Glaubwürdigkeit der ganzen ARD sei "immens", befand kürzlich u.a. die "taz". Und RBB-Investigativreporter Olaf Sundermeyer berichtete in der "Zeit" (Abo-Text) über seine Wut und die seiner Kolleg:innen: "Weil das höchste Gut beschädigt wurde, auf dem unsere journalistische Arbeit beim öffentlich-rechtlichen Rundfunk (ÖRR) gründet: unsere Glaubwürdigkeit."
Die Lösung: Verfehlungen aufarbeiten und abstellen, Glaubwürdigkeit zurück gewinnen. Bloß: wie geht das eigentlich, wenn man gar nicht weiß, wieviel davon (noch) da ist?
In einem System, das geradezu versessen darauf ist, die eigenen Erfolge (und Misserfolge) zu messen und daraus unmittelbar Konsequenzen fürs Programm abzuleiten, ist es in besonderem Maße erstaunlich, wie bereitwillig im Trüben gefischt wird, wenn es um die Frage geht: Wie groß ist das Vertrauen in die eigene Medienmarke noch? Sicher, es gibt Umfragen wie die der ARD/ZDF-Studie Massenkommunikation, in der regelmäßig ermittelt wird, wie eine repräsentative Auswahl der Deutschen die Notwendigkeit des öffentlich-rechtlichen Rundfunks bewertet. Erfreulicherweise meist: ganz gut.
Zuletzt (2021, PDF) gaben 61 Prozent an, seiner Unverzichtbarkeit "voll und ganz" zuzustimmen, 20 Prozent folgten dieser Aussage immerhin "weitgehend".
Wie unverzichtbar finden Sie uns?
Aber womöglich würde es sich lohnen, in Folge der aktuellen Ereignisse die Frage nochmal weniger manipulativ zu stellen – und die Befragten zwischen einem Rundfunk unterscheiden zu lassen, in dem es offensichtlich über Jahre hinweg möglich war, ein Großteil der Kreativität in der Chefetage eines Regionalsenders nicht auf die Ausgestaltung des Programms, sondern die üppige Selbstversorgung mit Gebührengeldern zu verwenden. Und einem Rundfunk, der im Wesentlichen das leistet, wofür er mal gegründet wurde – ohne den ganzen "aufgeblähten, unbeweglichen, ständig unter seinen eigenen Möglichkeiten arbeitenden Riesenapparat", wie es Claudius Seidl gerade in der "FAZ" (Abo-Text) formuliert hat.
Wie wenig offensichtlich die Angst vor dem Verlust der Glaubwürdigkeit des eigenen Senders in der RBB-Führung eine Rolle spielte, und wie lange sich die amtierende Geschäftsführung selbst nach dem hinausgezögerten Abschied der Intendantin geweigert hat, das selbst entwickelte Bonuszahlungssystem als solches zu benennen, muss als absolutes Warnsignal gesehen werden – weil man sich in der 13. Etage des Fernsehzentrums in der Berliner Masurenallee ganz offensichtlich bis zuletzt im Recht fühlte.
Anstatt sich aus dem Massagesessel herauszuwachsen und zu begreifen, welchen Schaden man dem ganzen System damit zugefügt hat.
Die anderen haben alles falsch verstanden
Im Vergleich dazu ist es natürlich schnuppe, wenn ein großer Privatsender verkündet, den erst im vergangenen Jahr öffentlichkeitswirksam geschassten langjährigen Chefjuror einer Castingshow für die nächste Staffel zurückzuholen. Aber es gibt durchaus gewisse Parallelen im Schönreden dieser Entscheidung, für die der Unterhaltungschef vorgeschickt wurde, um zu begründen, warum das neue, zahmere RTL irgendwie doch zum bislang jegliche Bändigung ablehnenden Pop-Titanen passt, der jetzt halt doch bloß vorübergehend auf der Strafbank sitzen musste.
"Vielleicht war ich zu konzentriert", versuchte Dieter Bohlen im RTL-Interview mit Frauke Ludowig ("Willkommen zuhause, lieber Dieter") kürzlich zu erklären, warum er bislang wahrscheinlich immer von den anderen missverstanden wurde: "Ich hab selber nicht kapiert immer, dass ich so hart rübergekommen bin. (…) Ich werd mich null verbiegen, aber ich möchte eigentlich gar nicht so hart sein."
Und wenn dem wirklich so ist, müsste man sich bei RTL zumindest fragen lassen, warum sich dieses Missverständnis nicht früher hat aufklären lassen, während der freundlich lächelnden Juroren-Hyäne Staffel für Staffel neue Casting-Opfer zugeführt wurden.
Abschaffstaffel mit Versöhnungsquoten
Selbstverständlich kann man in Köln tun und lassen, was man gerade jetzt, in diesem Moment für richtig hält, und wenn das ausgerechnet eine "DSDS"-Abschaffstaffel mit nicht weiter sinkenden Einschaltquoten sein soll, anstatt jetzt gleich mit Würde in die Pause zu gehen – bitteschön. Allerdings zahlt man dafür den Preis, die gerade erst mühsam eingeworbene neue Marken-Glaubwürdigkeit schon wieder zu verspielen. Jedenfalls ist jetzt für alle und jede:n ersichtlich, wie sehr sich RTL um das schert, wofür man noch vor wenigen Wochen stehen wollte.
Mag ja sein, dass die 20. "DSDS"-Staffel tatsächlich freundlicher, zahmer, versöhnlicher wird – trotz Bohlen. Aber alle aus der Musik-Branche, die im vergangenen Jahr von Sender und Produktionsfirma vermeintlich gefragt worden sind, ob sie sich vorstellen können, hinters Jurypult zu rücken, um der Marke "Deutschland sucht den Superstar" eine neue Richtung zu geben, werden sich in ihrer Ablehnung mehr als bestätigt fühlen: Wenn der Sender nach einer Staffel schon wieder einknickt, war nichts davon richtig ernst gemeint.
Und Bohlen? Hat sich erst per Videobotschaft überraschend ins diesjährige Finale der Show schalten lassen, um zu erklären, dass er den Finalist:innen die Daumen drückt – um hinterher im Ludowig-Interview zu erzählen, dass er "nicht eine Sekunde" der Staffel gesehen habe, weil es das so weh getan habe – "da bin ich ganz ehrlich".
Ein GLiX für alle
Wenn die langjährigen Fans gemeinsam mit Bohlen zu "DSDS" zurückkehren und zum Abschied wieder bessere Marktanteile verzeichnet werden als in diesem Jahr, können sich die Beteiligten gegenseitig auf die Schultern klopfen. (Bohlen hat zudem schon angekündigt, dass man sich darauf verständigt habe, über "DSDS" hinaus "neue Sachen" zu machen.)
Aber das Einknicken des Senders und der Umgang mit der diesjährigen Jury – Dankeschön, adieu! – wird nicht nur in der TV-Branche noch auf Jahre nachhallen und erinnert werden. RTL hat sich damit in erster Linie selbst geschadet. Aber das scheint ja ein Muster in den Chefetagen deutscher Fernsehsender zu sein, unter denen sich der NDR mit seinem Funkhaus Schleswig-Holstein gerade als legitimer Skandalnachfolger zu bewerben scheint.
Damit wieder Ruhe einkehrt, gilt es nun, genau dieses Muster zu durchbrechen – mit einem neuen Ritual, das in den Managements augenblicklich verstanden und verinnerlicht wird, sagen wir mit Hilfe einer Messgröße, die tagesaktuell angibt, wie es um die Glaubwürdigkeit der eigenen Medienmarke bestellt ist: dem GLiX (Glaubwürdigkeit-Index)! Zur schnellen Gewöhnung ließe der sich für alle gut sichtbar im Teletext der Sender veröffentlichen, und – kleine Zusatzmotivation für TV-Chefs – das Erreichen bestimmter GLiX-Ziele mit der Auszahlung zusätzlicher Boni verknüpfen.
Um so dem Publikum und der Politik gleichermaßen zu demonstrieren, dass Glaubwürdigkeit und Quote keine Gegensätze sein müssen. Sondern allerhöchstens zwei Variablen, die nur entsprechend zu deuten sind. GLiX auf!
Und damit: zurück nach Köln.