Bei Asterix hatten die Gallier bekanntlich stets Angst davor, dass ihnen der Himmel auf den Kopf fällt, und manchmal, wenn ich Tagesschau24 gucke, geht's mir mit der Decke im Hamburger Newsroom von ARD aktuell ganz ähnlich. Um Berichte zur Weltlage an- oder abzumoderieren, sitzen dort Journalistinnen und Journalisten scheinbar direkt darunter, und das sieht nicht nur nach sprichwörtlich begrenztem Horizont aus, sondern leider auch: ziemlich trist.
"[W]as ist das für ein Setting? Was sind das für Kameraeinstellungen? Hat da beim Bau des Hauses niemand drüber nachgedacht?", wunderte sich Boris Rosenkranz kürzlich schon für Übermedien über das Sendefleckchen unterm Dach, obwohl das erst 2019 eröffnete Nachrichtenhaus eigentlich "kein hässlicher Bau" sei und es dort kameratauglichere Positionen gebe, "bei denen man den Eindruck hätte, dass das tatsächlich professionelles Fernsehen ist".
Das kann man pingelig finden; oder ein ganz hervorragendes Symbol dafür, wie schwer man sich bei der ARD damit tut, eine modern wirkende Nachrichtenberichterstattung auf die Beine zu stellen.
Prägend, aber in die Jahre gekommen
Irgendwie weiß das auch Markus Bornheim, Erster Chefredakteur von ARD aktuell, der vor ein paar Wochen in der Service-Sendung "Frag die Tagesschau" bestätigte, dass man sich bald an die Gestaltung eines neuen Studios wage, weil das alte technisch und optisch langsam in die Jahre kommt: "In der Tat ist es so, dass wir 2024, -25, -26 anfangen müssen, dieses Studio zu redesignen. Und wir haben auch schon ein paar Ideen. (…) Mit einem neuen Tagesschau24-Design müssen wir schon ein bisschen früher anfangen."
(Und man muss ein bisschen darauf hoffen, dass die Decke im ARD-aktuell-Nachrichtenhaus nicht einfach nur in Tagesschau-Blau gestrichen wird.)
Dabei dürfte es vermutlich auch 2024, -25, -26 gar nicht das vordringlichste Problem der ARD sein, kein topmodernes Studio mehr zu haben – sondern vor allem eine Hauptnachrichtensendung, die den journalistischen Erfordernissen der Gegenwart schon länger nicht mehr gerecht wird: die 20-Uhr-"Tagesschau".
Ende dieses Jahres wird die vermutlich bekannteste Sendung des deutschen Fernsehens 70 Jahre, und man soll ja nicht unhöflich zu älteren TV-Formaten sein, aber: man sieht und hört es ihr ein bisschen an. Sicher: Die "Tagesschau" ist weiterhin so prägend für das Medium, dass sich das Primetime-Programm sämtlicher TV-Sender nach ihrer Endzeit ausrichtet.
24 Stunden in 15 Minuten gepresst
Von einem Großteil des Publikums wird sie (zurecht) als verlässlichste Nachrichtenquelle ihres Alltags geschätzt. Sie besitzt eine enorme Glaubwürdigkeit, steht mit ihrer nüchternen Berichterstattung für journalistische Neutralität und hat den Anspruch, dass Wichtigste aus 24 Stunden innerhalb von 15 Minuten auf den Punkt zu bringen. Aber das ist nicht nur eine Herausforderung, sondern auch Teil des Problems.
Denn seit längerer Zeit lässt sich dabei zusehen, wie das, was nach der Baumarktwerbung und dem bekannten Gong im Ersten läuft, nur noch mit großer Mühe abbilden kann, was selbst an einem durchschnittlichen Nachrichtentag berichterstattenswert ist.
Viele andere europäische Sender nehmen sich dafür zu Beginn des Abends deutlich mehr Zeit. Im französischen Fernsehen laufen auf TF1 und France 2 ab 20 Uhr dreiviertelstündige Nachrichtenmagazine; der britische Channel 4 reserviert unter der Woche sogar 60 Minuten dafür, sein Publikum auf den neuesten Stand zu bringen – was nicht zuletzt seit Corona, Ukraine-Krieg und Klimakrise zu Dauerthemen geworden sind, schlichtweg angemessen scheint.
Nur im Ersten Deutschen Fernsehen muss das alles in einem Drittel der Zeit (und am Wochenende wegen Fußball-Bundesliga schon nach zehn Minuten) abgehakt sein, bis das Wetter kommt.
Eine Strategie, die den Namen nicht verdient
Wenn es wirklich gar nicht anders geht, wird zur Vertiefung eines zentralen Ereignisses ein "Brennpunkt" nachgeschoben, der jedoch aus der Verantwortung von ARD aktuell in die wechselnde Zuständigkeit der unterschiedlichen Landessender fällt (mit ebenso wechselnder Qualität). Um dann oft nochmal dieselben Bilder zu zeigen, die gerade schon im "Tagesschau"-Beitrag dazu gelaufen sind (wie zuletzt z.B. zur von den USA einberufenen Konferenz in Ramstein).
Diese Strategie (die den Namen eigentlich nicht verdient hat) mag historisch gewachsen sein; sie ist aber weder nachvollziehbar noch zeitgemäß. Entweder ist ein Thema in der journalistischen Beurteilung so wichtig, dass man sich ihm ausführlicher widmet, ohne zwischendurch die Lottozahlen vorzulesen – oder halt nicht.
Dass die 20-Uhr-"Tagesschau" alles andere als knackfrisch wirkt, liegt vermutlich auch daran, dass sie aus Tradition gesprochen wird und nicht moderiert. "Wir halten auf jeden Fall am Sprecherprinzip fest, ich glaube, das ist ein Teil des Zaubers, der 'Tagesschau' ausmacht", sagte der damalige ARD-aktuell-Chef Kai Gniffke zum 60. Formatgeburtstag vor zehn Jahren, bevor er sich später zum SWR-Intendanten wegkomplimentierten ließ.
Seine Nachfolger in Hamburg scheinen zumindest zu ahnen, dass das Quatsch ist – und modernisieren die Sendung deswegen. In Tippelschrittchen: Seit Ausbruch des Ukraine-Kriegs werden regelmäßig Korrespondentinnen und Korrespondenten aus Moskau, Kiew und europäischen Grenzstädten live in die Sendung zugeschaltet, um direkt zur Lage an ihrem Einsatzort befragt zu werden. Fast wie in einem – Interview.
Drehung in die Kamera
Dazu drehen sich Susanne Daubner, Julia-Niharika Sen, Judith Rakers, Constantin Schreiber und Thorsten Schröder gegen Ende der Sendung seit einiger Zeit seitlich vom Tisch zur Kamera, um Beiträge aus Wissenschaft, Kultur, Sport und Geschichte anzukündigen, während der Bildschirm neben ihnen durch ein großformatiges Foto zum Thema ausgefüllt wird, ohne dass die Nachricht dazu noch einmal verschriftlicht wird. Zum Beispiel, wenn es im folgenden Beitrag um den Sieg von Eintracht Frankfurt im Finale der Europa League geht (19. Mai).
Oder um das Ranking von Reporter ohne Grenzen zum Tag der Pressefreiheit (3. Mai).
Oder eine totale Mondfinsternis (16. Mai).
Oder die Versteigerung des Warhol'schen Marylin-Monroe-Porträts für eine Rekordsumme (10. Mai).
Darum, dass in Rio de Janeiro erstmals seit Corona wieder groß Karneval gefeiert wird (18. April), um die bevorstehende Austragung des Eurovision Song Contest (13. Mai), die ersten Fotos von einem Schwarzen Loch (12. Mai), erstaunlich oft um die Flüge des amerikanischen Unternehmens Space X zur ISS und zurück (8., 25., 28. April), und wenn's mehrere Anlässe gibt (die Austragungsorte der WM 2024 in Deutschland stehen fest) bzw. die Regie besonders mutig ist, auch zweimal in der Sendung, samt Wechselbild (10. Mai). Und dann nicht immer, aber recht oft: nochmal fürs Wetter.
Das bessere Welterklärformat
Das ist für das Team um "Chefsprecher" Jens Riewa natürlich insofern begrüßenswert, als dass die Gags über Damen und Herren ohne Unterleib damit ein- für allemal der Vergangenheit angehören dürften. Beim Seitendreher muss auch niemand mehr so tun als würde immer noch vom Blatt abgelesen, anstatt sich auf den Teleprompter zu verlassen.
Aber wenn die "Tagesschau" jetzt zunehmend mit moderativen Elementen angereichert wird, könnte man auch gleich konsequent sein und auf dem bisherigen Stammsendeplatz von vornherein dem geeigneteren Welterklärformat den Vortritt lassen: den "Tagesthemen".
Am späteren Abend gelingt es der Redaktion um das Modekations-Team aus Aline Abboud, Caren Miosga und Ingo Zamperoni unter der Leitung von Helge Fuhst schon heute sehr viel besser, Ordnung in Tage zu bringen, an denen sich alles zu überschlagen scheint. Weil sie mehr Zeit dafür haben, stärker gewichten können, Interviews führen, die übers Abfragen der reinen Fakten hinausgehen, Hintergründe und Einordnung liefern, kurz: weil sie genau das tun, was sich ein öffentlich-rechtlicher Sender mit einem Informationsanspruch wie die ARD zur besten Sendezeit leisten können müsste, anstatt nach einem Viertelstündchen ins Nachfolgeprogramm zu hetzen.
Ausführliche "Tagesthemen" um Punkt 20 Uhr
Auf 45 Minuten verlängerte "Tagesthemen", die um Punkt 20 Uhr beginnen, wären ein Glücksfall für alle, die sich nach Feierabend umfassend über den Tag informieren wollen – und nicht bis 22.15 Uhr damit warten. Zum einen, weil die Schlafforschung nicht müde zu betonen wird, wie schädlich es ist, sich unmittelbar vorm Zubettgehen noch mit der schwierigen Weltlage zu befassen, die man dann auch nachts nicht mehr los wird.
Und zum anderen, weil es ja längst nichts ausgemacht ist, dass die gewünschte ausführliche Einordnung im Ersten auch tatsächlich zur gewohnten Zeit läuft.
Erstaunlich oft werden die "Tagesthemen" verkürzt und verschoben, weil sie zwischen zwei Halbzeiten eines Fußballspiels zu passen haben, einem Polittalk den Vortritt lassen oder darauf warten müssen, dass eine Unterhaltungsshow in Überlänge zu Ende geht oder weil sie von Doppelkrimis tief in die Nacht gedrückt werden, bis es um 23 Uhr, 23.15 Uhr, 23.40 Uhr losgeht. Im Zweifel ist vorher wieder ein "Brennpunkt" ins Programm gegrätscht, der die nachfolgenden Sendungen zusätzlich nach hinten verschiebt.
Ein ziemliches Ärgernis
Es ist, kurz gesagt, ein ziemliches Ärgernis, wie stiefmütterlich die ARD ihr eigentliches Nachrichten-Flaggschiff behandelt – mindestens für alle Zuschauerinnen und Zuschauer, die vom öffentlich-rechtlichen Sender ihres Vertrauens nicht in erster Linie erwarten, dass die staubsaugende Mutter aus dem Vorspann des "Endlich Freitag!"-Gutelaunefilms pünktlich aufs Sofa fällt.
Vieles spricht dafür, es den Nachrichtenjournals in Frankreich, Großbritannien und anderswo gleichzutun – und sich einzugestehen, dass nicht nur zehn Jahre alte Nachrichtenstudios regelmäßig ein Update brauchen. Sondern auch vor vielen Jahrzehnten etablierte Programmstrategien. Zumal ja niemand auf das gewohnte "Tagesschau"-Feeling zu verzichten bräuchte: Auch in den "Tagesthemen" gibt es den klassisch gesprochenen Nachrichtenblock für alles, was am Tag außerdem wichtig gewesen ist. Nur halt eingebettet in mehr Hintergrund, Einordnung und eine Moderation, die ihr Publikum durch all das hindurch zu leiten bereit ist.
Deshalb: Schafft endlich die 20-Uhr-"Tagesschau" ab!
Und damit: zurück nach Köln.
Das Erste zeigt die "Tagesthemen" derzeit täglich zwischen 21.35 Uhr und 23.40 Uhr.