Als Ricardo Simonetti neulich im "Masked Singer"-Finale überraschend aus der Mülltonne von Mülli Müller gesprungen kam, um am Jurypult die verbliebenen Promis hinter ihren Masken hervor zu raten, ging auf Twitter direkt wieder das Genöle los. Wer das überhaupt sei und warum er jetzt durch jede ProSieben-Show tingeln dürfe, wollte ein Nutzer wissen. Und obwohl man anonym in sozialen Medien herumätzende Deppen eigentlich ignorieren sollte, komme ich meiner Rolle als Servicekolumnist in diesem Fall besonders gerne nach und erkläre das mal kurz:
Riccardo Simonetti ist so ziemlich das Beste, was dem deutschen Fernsehen seit längerer Zeit passiert ist.
Dafür, dass gerade keine Woche vergeht, in der er nicht in irgendeiner Show sitzt, gibt es einen einfachen Grund. Der 29-Jährige hat einfach alles, was man sich von einem guten Gast zu wünschen traut: Er ist schlau, wahnsinnig höflich, immer interessant angezogen, bringt Herz, Witz und gute Laune mit – und hat dazu noch eine Mission: nämlich die LGBTQ+-Community durch seine Person im Alltag möglichst vieler Menschen sichtbarer und selbstverständlicher werden zu lassen.
"Influencer" im wahrsten Sinne des Wortes
Simonetti gibt der Berufsbezeichnung "Influencer" eine gänzlich unpeinliche Bedeutung, weil er seine zunehmende Bekanntheit im wahrsten Sinne des Wortes dafür nutzt, Einfluss auf sein Publikum zu nehmen, und seine Stimme dafür einsetzt, um über Dinge zu reden, "die ich als Teenager hätte hören müssen", wie er gerade in der Show von Carolin Kebekus erzählt hat.
Nämlich, dass es okay ist, man selbst zu sein, ohne irgendeiner gesellschaftlichen Norm entsprechen zu müssen; dass man kein Geheimnis aus seiner sexuellen Orientierung zu machen braucht; und dass man – anders als es ihm zu Beginn seiner Karriere angekündigt wurde – auch als schwuler Mann Unterhaltung für die ganze Familie machen kann.
Als Vielfaltsbotschafter mit beachtlichem Pailletten-Kleidungsstückefundus hat Simonetti einen Weg gefunden, im Fernsehen über Identitätsfindung, Coming-Out und die Marginalisierung gesellschaftlicher Gruppen zu sprechen – und im nächsten Moment, wie gerade fürs "Duell um die Welt", auf Grönland zwischen Eisbergen Wasserski zu fahren. (Was quasi die Vorstufe dazu ist, zum Mond zu fliegen, wie es ihm fast mal gelungen wäre, wenn er sich nicht stattdessen für die Karriere als Influencer mit Zusatzausbildung TV-Gast entschieden hätte.)
Er ist die perfekte Symbiose aus Ernsthaftigkeit und Entertainment und passt damit wahnsinnig gut in eine Zeit, die sich irgendwie nach beidem sehnt.
Umarmung für den Stammgast
Seinen vielleicht größten Auftritt hatte das "Statement auf zwei Beinen" (Eckart von Hirschhausen über R.S.) bzw. die "Erscheinung in der deutschen Medienlandschaft" (Joko Winterscheidt über R.S.) zu Beginn des Jahres als regelmäßiger Ratefuchs bei "Wer stiehlt mir die Show?" (Paradedisziplin: Songsrückwärtshören und alles, was mit "Titanic" zu tun hat, denn: "Aus Titanic kann man alles lernen"). Und schon alleine, weil es ihm nicht vergönnt war, dem Gastgeber tatsächlich einmal die Sendung abzuluchsen, hätte ich ihm gerne augenblicklich eine Vertragsverlängerung für die nächste Staffel vorgelegt – zumal es nicht so viele Leute gibt, die sich so souverän, witzig und Anekdoten-erzählbereit zwischen Showprofis wie Mark Forster und Anke Engelke behaupten können.
Inzwischen ist Simonetti Stammgast in den Sendungen von Joko und Klaas, die – wie neulich bei "Joko und Klaas gegen ProSieben" – auch nicht mehr anders können, als ihn mit einer Umarmung zu begrüßen, um nachher im App-Symbole-aus dem-Kopf-Malen gegen ihn zu verlieren.
In der letzten "Wer stiehlt mir die Show?"-Ausgabe durfte er das Senderlogo trotz anhaltender Sieglosigkeit in Regenbogenfarben hüllen, um "ein Zeichen zu setzen für mehr Vielfalt, mehr Toleranz und der LGBTQ+-Community eine Bühne zu geben". Und wer weiß, so gefragt wie er gerade ist, könnte Simonetti das mit dem Regenbogenlogo demnächst vielleicht senderübergreifend zur Bedingung für seine Auftritte machen. Als Fast-schon-Stamm-Co-Moderator beim "ZDF-Fernsehgarten", wie an diesem Sonntag wieder, wäre das doch eine gute Gelegenheit, auch ältere Generationen noch stärker für seine Botschaft zu gewinnen.
Die trüben Grenzen der Toleranz
Wie notwendig es weiterhin ist, für mehr Toleranz zu werben, verschweigt Simonetti auch nicht – indem er etwa öffentlich von den Anfeindungen erzählt, die ihm damals beim Mobbing in der Schule entgegen geschlagen sind und heute ganz extrem in den sozialen Medien, bis hin zur Morddrohung. (Weswegen er für sich entschieden hat, keine öffentlichen Verkehrsmittel mehr zu nutzen.)
Wie sich das anfühlt, wenn man mit seiner Person so stark provoziere, wollte Pierre M. Krause bei seinem Hausbesuch für den SWR kürzlich von Simonetti wissen, und der entgegnete zwischen Hollywood-Wandschriftzug, Selfie mit Mariah Carey und Simonetti-Schrein im Flur: "Ich bin eigentlich eine sehr unprovokante Person. Ich versuche die Leute nur auf was aufmerksam zu machen, das sie vielleicht nicht so gerne hören wollen."
Am bewundernswertesten ist vielleicht, auf welche Weise Simonetti für sich entschieden hat, aus den eigenen negativen Erfahrungen zu lernen: nämlich, indem er das Positive im Gespräch mit anderen umso stärker hervorhebt, um es zu betonen: "Wenn man ein Kompliment auf den Lippen hat, sollte man es sofort rauslassen." Und zwar auch bzw. erst recht, wenn gerade die Kamera läuft.
Das Fernsehen als Wohlfühl-Zuhause
Neulich bei "Limbus" im Ersten machte er vor Gastgeberin Tahnee einen kleinen Knicks zur Begrüßung und sagte als allererstes: "Du siehst gut aus!" Kebekus gegenüber wollte er loswerden: "Ich saß gerade Backstage in meinem Trailer und hab dir zugeguckt und muss sagen, du machst das so toll – ich hatte so viel Spaß." Und es wirkt nie, nie aufgesetzt, wenn er sein Lob verteilt – sondern einfach als würde er das, was er sich vorgenommen hat, konsequent in die Tat umsetzen.
Dass er das Medium, das ihn groß macht und gleichermaßen von seiner Lust auf Öffentlichkeit profitiert, gerade besonders fest an sich gedrückt hat, haben die sonst jeden Zitatfitzel ausschlachtenden Schlaubis von den Boulevardportalen natürlich übersehen. Deshalb sei es an dieser Stelle kurz nachgeholt: Er habe, so Simonetti bei Kebekus, schon in seiner Jugend "nach einem Ort gesucht, an dem ich für die Eigenschaften geschätzt werde, für die mich der Rest der Gesellschaft kritisiert".
Und das Fernsehen gefunden: "als Zuhause für Menschen, die anders sind". Was nun wirklich die Erfüllung der Simonetti'schen Komplimentregel in Reinkultur ist.
Mehr als Beauty- und Fashion-Auskenner
Auch wenn sich dieses Zuhause nun so langsam wirklich mal einen Ruck geben könnte, seinem mit Vorliebe blaue Getränke schlürfenden Nachwuchsstar eine eigene Sendung anzuvertrauen, in der er nicht ganz so oberflächlich bloß als Beauty- oder Fashion-Auskenner gebraucht wird, wie kürzlich beim "Frag doch mal die Maus"-Lippenpflegestift-Experiment (Simonetti zwischen Jörg Pilawa, Beatrice Egli und Horst Lichter als Ausgleich zu Andraes Gabalier ins reguläre Promi-Rateteam zu setzen, hat sich der WDR dann irgendwie doch nicht getraut). Oder im Herbst, wenn der Simonetti-Wettbewerb "Glow Up" für "Deutschlands nächsten Make-up-Star" bei ZDFneo läuft.
Und, nee, die WDR-Zeitreiseshow "Legendär!", in der Simonetti Archivschnipsel aus vergangenen Jahrzehnten anmoderieren darf (neue Folgen ab Juni), zählt nur halb.
Um's nochmal zusammenzufassen, und weil man das, was man auf den Lippen hat, ja bekanntlich immer sofort rauslassen soll, wiederhole ich mich deswegen gerne: Der (wie er selbst eingesteht) langsam ins Dunstabzugenaussuchalter kommende Riccardo Simonetti ist so ziemlich das Beste, was dem deutschen Fernsehen seit längerer Zeit passiert ist. Es wird allerhöchste Zeit, dass es ihm dafür was zurückgibt.
Und damit: zurück nach Köln.
Am heutigen Sonntag co-moderiert Riccardo Simonetti ab 11.50 Uhr den ZDF-"Fernsehgarten".