Medienschaffende haben's auch nicht leicht. Erst produzieren sie mit maximalem Aufwand eine Riesenshow, die deutlich weniger Leute einschalten als all die Jahre zuvor – und dann bescheinigt ihnen der nervige DWDL-Kolumnenonkel zu allem Unglück, trotzdem fast alles richtig gemacht zu haben.
Das ist auch für mich keine einfache Sache, glauben Sie mir. Aber da müssen wir jetzt zusammen durch.
Weil RTL tatsächlich einen über mehrere Wochen laufenden Musikwettbewerb veranstalten kann, in dem niemand beleidigt oder vorgeführt werden muss, um das Publikum zu unterhalten. Eben dieses traut der Sache noch nicht so recht. Aber am kommenden Samstag geht eine Staffel von "Deutschland sucht den Superstar" zu Ende, die fast durchweg sehenswert war – weil die Verantwortlichen erkennbar am Format gearbeitet haben, ohne dessen Grundprinzipien in Frage zu stellen. Und das hat der Show wahnsinnig gut getan.
Die Struktur
Keine Ahnung, wer im vorvergangenen Jahr entschied, die Castings auf einem Rheinschiff abzuhalten, wo sich alle Beteiligten schildkrötenhaft in ihre Kapuzenpullis zurückziehen mussten, um dem Fahrtwind zu entgehen; aber wahrscheinlich liegt er heute viergeteilt und arbeitslos im Bett.
Dafür hat diesmal alles umso besser gepasst: In den märchenhaft anmutenden Altstadtkulissen von Wernigerode und Burghausen hat die Produktion einen riesigen "DSDS"-Glaswürfel aufgestellt, in dem die angereisten Talente zwischen Eiscafé, Erdgasbus und Ratskeller vorsingen konnten, um sich ihr Recall-Ticket zu sichern. Das war nicht nur eine hervorragende Abwechslung zur immerselben Großstadtkulisse früherer Staffeln, sondern passte auch gut zur neuen, sehr viel heimeligeren Tonalität der Show. Die im Hintergrund von draußen in die Kamera starrenden, stetig mit dem Smartphone mitfilmenden, eisschleckenden Schaulustigen mögen anfangs irritierend gewesen sein – irgendwie hab ich sie mit der Zeit aber ins Herz geschlossen.
Dazu kommt, dass mit dem Recall diesmal kurzer Prozess gemacht wurde: Anstatt eine ganze Busladung an Kandidatinnen und Kandidaten auf ein Schloss zu schleppen und dort nochmal beim Scheunenvorsingen scheitern zu lassen, folgte das große Sortieren diesmal direkt am Ende jeder Casting-Folge – um anschließend mit den Top 20 direkt in den Auslands-Recall zu fliegen, der mit vier Episoden ebenfalls angenehm kompakt ausfiel. Ausreichend Zeit, die Teilnehmerinnen und Teilnehmer besser kennenzulernen, war trotzdem.
Die Jury
Ich geb's zu: Die Mum-Jeans, Batikmusterhemden und hochgekrempelte Sakkos tragende neue Jury hat sich für mich anfangs eher wie eine Notlösung angefühlt. Die niederländische Country-Sängerin Ilse DeLange war stets ein bisschen zu gut gelaunt und reagierte auch auf durchschnittliche Performances überpositiv; Erfolgsproduzent Toby Gad schien vor allem damit beschäftigt zu sein, immer wieder aufs Neue zu erzählen, wie das war, mit Beyoncé im Studio gewesen zu sein, um damit von seinen verlässlichen Klamottenunfällen abzulenken, denen er bis zum Schluss demonstrativ treu geblieben ist.
Florian Silbereisen mühte sich als einzig im klassischen Sinne prominenter Neuzugang derweil, zu demonstrieren, dass er nicht nur der nette Schlager-Conferencier sein kann, sondern auch taffer Talentaussieber: "Da müsste man mich beinahe festbinden mit dem Gurt hier", protestierte er gegen den Wunsch Semibegabter zur ausführlicheren Präsentation ihrer Sangeslust. Oder: "Da tun wir dir keinen Gefallen, wenn wir dich jetzt noch'n Lied singen lassen."
Aber im Laufe der Staffel hat sich diese Konstellation tatsächlich als Glücksfall erwiesen. Niemand musste sich in den Vordergrund spielen oder demonstrieren, wer hier den Ton angibt. Kritik an den Auftritten der Teilnehmenden wurde sachlich fundiert oder nachvollziehbar emotional vorgetragen. Entscheidungen erfolgten offensichtlich nach einem gemeinsamen Abwägungsprozes (über den man ab und an gerne etwas mehr erfahren hätte).
Und spätestens in Italien, zwischen der Felsenbucht von Polignano a Mare und dem Amphitheater in Lecce, war klar: Die drei sind für "DSDS" goldrichtig. Anstatt sich vor der Gruppe aufzuspielen oder im Alleingang Extra-Challenges anzuberaumen, wechselten sich DeLange, Gad und Silbereisen als Mutzuredner und Motivatorin ab. Nach der obligatorischen Party-Nacht setzte es keine Standpauke wegen übermäßigen Alkoholkonsums, stattdessen kam DeLange zum Kaffeetrinken vorbei und grinste: "Wer einen Kater hat, ist selber Schuld."
Die Entscheidung eines Kandidaten-Teams, ihren für den Auftritt zugeteilten Song durch einen anderen zu ersetzen, weil man mit dem ersten nicht klar kam, wurde nicht donnernd sanktioniert – sondern verständnisvoll hingenommen. Silbereisen erzählte im Schneidersitz sprichwörtlich auf Augenhöhe, was das für eine Herausforderung war, in jungen Jahren für die Musikkarriere ständig unterwegs zu sein. Und Gad, der sich fürs abendliche Entspannungssingen mit Gitarre zur Gruppe gesellte ("Hoffentlich kann ich helfen, etwas von dem Druck wegzunehmen"), stellte nachher fest: "Das hat sich heute wie Familie angefühlt."
Wie sehr das die Stimmung einer Show verändert, die bislang voll und ganz auf eine über allem thronende Person zugeschnitten war, ist durchaus erstaunlich – und hat möglicherweise auch manche Produktionsbeteiligte überrascht: Als der freundliche Besitzer des Cafés in Wernigerode, dem der daneben aufgebaute "DSDS"-Castingkubus den Umsatz seines Lebens beschert haben dürfte, der Jury als Dankeschön eine Torte vorbeibrachte, war das erste, das Silbereisen dazu einfiel: "Können wir die kaltstellen, damit das Team später auch was davon kriegt?" Sowas hätte es früher nicht gegeben.
Man muss nicht jede Marotte des Trios mögen: Die übermäßige Ausflipp- und Tanzbereitschaft hinterm Jurypult wirkte in vielen Fällen eher peinlich. Und irgendwer muss mir noch erklären, wie es Gad hinkriegt, sein ganz offensichtlich herausragendes Gespür für große Popmelodien so wenig in die Bewegungen des eigenen Körpers umsetzen zu können.
Aber ich hoffe wirklich, dass RTL – wie in den Bewerbungstrailern für die nächste Staffel zumindest angedeutet – mit gleich bleibender Jury-Besetzung in die nächste Runde geht, damit sich die Chemie zwischen den dreien weiter entwickeln kann. (Dann ließe sich auch nochmal ausführlicher beleuchten, ob Silbereisens Manager Michael Jürgens mit Unterstützung von RTL und "DSDS" nach der Schlager- tatsächlich in großem Stil in die Pop-Vermarktung einzusteigen versucht.)
Die Kandidatinnen und Kandidaten
Huch, was war denn da los? Keine schmalstimmigen Spalter, die trotzdem weiter gelassen werden, weil sie in der Gruppe garantiert für Stunk sorgen? Kein Kurze-Rock-Bonus mehr? Sondern einfach Talente, die Lust haben, auf der großen Bühne zu stehen, und eine sehr viel ausgewogener besetzte Top 10 als im Vorjahr? Tatsächlich hat sich "DSDS" in diesem Jahr darauf zurückbesonnen, wie wichtig eine sorgfältige Auswahl unterschiedlicher Charaktere ist, die vom Publikum auf ihrer Heldinnen- bzw. Heldenreise begleitet werden. Und dass bei den Castings niemand der Lächerlichkeit preisgegeben werden muss, bloß weil er nicht ins Raster passt – selbst wenn sie oder er das eigene Können maßlos überschätzt.
Über eine Kandidatin wie Tamara, die sich für Inklusion engagiert und mit knallbunten Socken zum Vorsingen kam, hätte sich "DSDS" früher minutenlang lustig gemacht und ihre Bewegungen mit lustig gemeinten Quietschgeräuschen unterlegt. Stattdessen bestätigte Silbereisen ihr beim Auftritt eine "tolle Persönlichkeit" und die Jury stand ganz vorne mit am Piano, als Tamara sich selbst zu Kerstin Otts "Regenbogenfarben" begleitete – Recall-Einladung inklusive.
Und das passt nicht nur soviel besser in die aktuelle Zeit, es hilft dem Format auch, seine Stärken neu zu definieren – ohne deswegen weniger unterhaltsam zu sein. (Im Gegenteil.)
Ganz ohne Fettnäpfchen scheint es auch im neuen "DSDS" nicht zu gehen – selbst wenn diesmal glücklicherweise kein Juror wegen offensichtlicher Neigung zu Verschwörungstheorien ersetzt oder wegretuschiert werden musste. Der Entschluss, Kandidat Mechito im Nachhinein die Teilnahme an den Liveshows zu verwehren, war aber ebenfalls ein Spagat: weil über viele Wochen, in denen ihn die Jury im längst aufgezeichneten Recall immer weiter ließ, am Bildschirmrand der spätere Rauswurf eingeblendet werden musste. (Seine von ihm verschwiegene Vorstrafe wäre von der Produktion früher mit Kusshand in den Liveshows ausgeschlachtet worden; ob man mit den neuen "DSDS-Prinzipien", die das Verschweigen als Ausschlussgrund werten, nicht päpstlicher als der Papst reagiert, ließe sich aber durchaus diskutieren.)
Die Liveshows
Gottseidank, "Deutschland sucht den Superstar" hat die große Bühne zurück – und nach der Corona-bedingten Sparversion im Vorjahr ist dieses mal alles noch ein bisschen üppiger als früher, Liveband inklusive. (Schon um sich gegen das parallel auf ProSieben gelaufene "Masked Singer" keine Blöße zu geben.) Statt wochenlang auf den Titel hinzuarbeiten, reichen diesmal vier Shows, um die Siegerin bzw. den Sieger zu küren – die bzw. der sich nicht der Illusion hinzugeben braucht, im nächsten Jahr noch umfassend erinnert zu werden. Aber bei "DSDS" war der Weg schon immer ein großer Teil des Ziels, auch wenn das bislang niemand so recht zugeben mochte. (Und, hey, Erstgewinner Alexander Klaws hat sich immerhin bis zum Jesus hochgesungen!)
Fest steht, dass "Deutschland sucht den Superstar" live immer noch super aussieht. Auch wenn sich Silbereisen nachträglich große Mühe gegeben hat, den vorher erarbeiteten positiven Eindruck mit mittelmäßigen Gags wieder zu demolieren. Niemand interessiert, was der Flori zuhause "auf dem stillen Örtchen" für einen Spruch hängen hat und wie das damals hinterm Schlagzeug in der "Schüler-Lehrer-Rockband" war. Auch der auf links gedrehte Lobes-Llambi als Gastjuror ("Das Orchester hat die Bühne abgefackelt") wäre wirklich nicht notwendig gewesen.
Gleichwohl schleppt die Show immer noch allerlei Altlasten aus der Vergangenheit mit. Und damit ist gewiss nicht Rückkehrer Marco Schreyl gemeint, dem man einfach für die Professionalität dankbar sein kann, mit der er so einen dreieinhalbstündigen Samstagabend moderiert, zumal man ihm ansieht, wie wohl er sich da auf der "DSDS"-Bühne fühlt (und beim Mitfiebern auch mal ein Tränchen verdrückt, wie gestern Abend für Kandidatin Amber). Die ollen Rauszögersprüche, die er vom Karteikartenstapel vorlesen muss, um die finale Entscheidung in die Länge zu ziehen, wirken jedoch nur noch albern.
Dabei hätte es durchaus bessere Möglichkeiten gegeben, die auf diese Weise geschundene Zeit einzusetzen. Nach wie vor ist der Übergang vom durchgetaktet erzählten Auslands-Recall mit seinen Dokusoap-Elementen zur ersten Liveshow, in der plötzlich alle zu topgestylten Bühnenprofis geworden sind, aus Sicht des Publikums nämlich ziemlich holprig. Mit einer Erzählung, wie es den Kandidatinnen und Kandidaten in den Monaten dazwischen ergangen ist, wie sie sich als Gruppe gefunden haben, wie die einzelnen Talente darin funktionieren, ließe sich das abmildern.
Kurz: Auch im Jahr 2022 fehlt ein erzählerisches Element, das die unterschiedlichen "DSDS"-Phasen sinnvoll miteinander verbindet.
Die Bilanz
Hilft natürlich alles nix, weil: All den Veränderungen zum Trotz haben in diesem Jahr deutlich weniger Zuschauerinnen und Zuschauer "Deutschland sucht den Superstar" sehen wollen als zuletzt. Die, die bislang wegen der Gags auf Kosten anderer eingeschaltet haben, werden nicht zurückkommen. Und es ist keine kleine Aufgabe, allen, die sich bislang aus guten Gründen ferngehalten haben, zu vermitteln, dass diese Show sie künftig gut unterhalten in den Frühling hinein begleiten könnte.
Ich bleib dabei: Eine Pause hätte der Mission, das Format neu aufzuladen, definitiv helfen können. Aber in Köln scheint man sich (anders als beim "Supertalent") schon dagegen entschieden zu haben, und die Äußerungen von RTL-Chef Henning Tewes, dem Publikum – in anderer Hinsicht – Zeit geben zu wollen, das "neue" RTL kennenzulernen, unterstreichen die Taktik.
Dabei gilt für "DSDS" ziemlich genau das, was sich Kandidat Dominik vor zwei Wochen nach seinem Auftritt von der Jury hat sagen lassen müssen: "Du hast die Töne getroffen – aber es ist mehr als das. Das muss connecten!" Nach all den Jahren, in denen man sich – vorrangig aus Angst vor genau den Quoten, die es jetzt auszuhalten gilt – nicht getraut hat, das Format mit einer neuen Zielgruppe connecten zu lassen, braucht es bei RTL vermutlich nicht nur den viel beschworenen langen Atem, bis sich die Änderungen herumgesprochen haben und positiv zu Gunsten des Formats auswirken. Sondern: ein Sauerstoffgerät. Aber die Mühe könnte sich lohnen.
Ach, und falls Sie sich fragen, ob ich mich arg anstrengen musste, in den vergangenen Absätzen Dieter Bohlen nicht zu erwähnen: Nee, war ganz einfach. Er hat keine einzige Sekunde gefehlt.
Und damit: zurück nach Köln.
RTL zeigt das Finale von "Deutschland sucht den Superstar" 2022 am kommenden Samstag ab 20.15 Uhr.