Wenn Sie heute Abend nach "Alles was Recht ist" mit Eisner & Fellner noch nicht genug vom "Tatort" haben und morgen gleich den nächsten schauen wollen, kann ich ihnen bloß raten, ein Stündchen früher von der Arbeit heimzukommen – um sich zu entscheiden. Weil: so richtig einfach macht einem das die ARD Mediathek mit ihrer zweifellos üppigen Programmauswahl ja nun nicht.
"Tatort"-Fans können sich auf der entsprechenden Unterseite ihrer Lieblingskrimireihe entweder aus den "Aktuellen Folgen und Highlights" bedienen oder ansehen, was bei anderen "Derzeit beliebt" ist, Filme nach Teams aussuchen, nach "aktuellen Ermittlern mit Ex-Kollegen" oder nach "Ehemaligen Ermittlern", falls nicht alternativ ein restaurierter "Kult-Tatort" geguckt werden soll – oder wär's nicht klug, erst einen aus der "Letzte Chance!"-Rubrik zu nehmen, weil der ja sonst bald weg ist?
Luxusproblem des Streaming-Zeitalters
Es ist zweifellos ein großes Privileg, vom heimischen Sofa jederzeit aus einem schier unerschöpflichen Fundus an Bewegtbildinhalten wählen zu können, um den wir uns noch vor zwei Jahrzehnten massiv beneidet hätten. Gleichzeitig hat die Möglichkeit, permanent Programmchefin bzw. Programmchef sein zu sollen, aber auch dafür gesorgt, ausgerechnet einem Lean-Back-Medium wie dem Fernsehen – Bedienungsanleitung: einschalten, zurücklehnen, unterhalten lassen – eine lästige Lean-Forward-Pflicht vorzuschalten. Denn wer streamen will, muss sich vorher entschlossen haben: was denn eigentlich.
Mit einer wachsenden Zahl an Plattformen und Anbietern ist das für viele, die doch einfach nur Kurzweil suchen, zu einem anstrengenden Hindernis geworden: Es gibt, wie's in den USA so schön heißt, "too many shows, too many platforms".
Den weniger Entscheidungsfreudigen bietet sich in allen Mediatheken und Streaming-Portalen dasselbe Bild: die Kacheln des Grauens, die Reihe für Reihe und Rechtsscroll für Rechtsscroll eine weitere Option eröffnen, was sich auswählen ließe, über das man aber im Zweifel schon hundertmal grundlos hinweg gegangen ist, ohne sich dafür (oder bewusst dagegen) zu entscheiden.
Vorsicht, potenzielle Abokündigung!
Was auf frühere Generationen wie ein Luxusproblem des Streaming-Zeitalters wirken muss, wird inzwischen auch von Anbietern als ernst zu nehmendes Problem begriffen, das schlimmstenfalls irgendwann zur Abokündigung führen könnte.
Netflix hat die "decision fatigue" vor einem Jahr dazu veranlasst, die neue Option "Play Something" einzuführen, bei deren Betätigung die Abonnentin bzw. der Abonnent Inhalte gezeigt bekommt, von denen der Algorithmus glaubt, dass sie ihr bzw. ihm gefallen könnten, um die Last der Entscheidung zu lindern. "Choose Play Something and we'll pick things for you to watch based on your tastes", erklärt Netflix seinen Mitgliedern. Es ist das leise Zugeständnis des Bewegtbildrevolutionärs, dass es mehrere Wege (und Nutzungssituationen) gibt, um online fernzusehen.
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Wettbewerber Peacock, Streaming-Ableger von NBC Universal, ist zum Start vor zwei Jahren direkt einen Schritt weiter gegangen und lieferte seinen Nutzerinnen und Nutzern von Anfang an nicht nur die gewohnte Auswahl an Kacheln und Genres zur Auswahl seiner Inhalte – sondern auch "virtual channels", die funktionieren wie im linearen Fernsehen: einschalten, zurücklehnen, sich überraschen lassen.
Für jeden Geschmack ein eigener Kanal
Es gibt einen "Great Moments"-Kanal, auf dem sich nochmal die Höhepunkte der Olympischen Spiele Revue passieren lassen; "Fallon Tonight", auf dem rund um die Uhr Ausgaben von Jimmy Fallons Late-Night-Show laufen; einen für "Real Housewives"- und einen für Wrestling-Fans; "SNL Vault" mit "Saturday Night Live" am laufenden Band usw.
Neu ist die Idee nicht: Vorbild sind Anbieter von Pluto TV über Tubi bis Xumi, die sich schon länger darauf spezialisiert haben, ein lineares Fernsehen mit unzähligen virtuellen Sendern und entsprechenden Inhalten zu simulieren, – eine Art werbefinanziertes Gegenmodell zu den verschiedenen Abo-Anbietern. Fast alle gehören inzwischen zu großen Medienkonzernen (Paramount, Fox, Comcast), die damit über weitere Ausspielwege für bereits vorhandene Inhalte verfügen. Ganz ähnlich, wie es die großen deutschen Sendergruppen mit ihren Digitalspartenkanälen handhaben.
Aber gerade weil sich RTL und ProSieben, ARD und ZDF schon so gut mit dem Neukombinieren von Archivware auskennen, ist es mir ein Rätsel, warum sie diese Kompetenz nicht auch für ihren eigenen Mediatheken nutzen.
Zaghafte Versuche mit "Now!" & Co.
Zugegeben: Es gibt zaghafte Versuche, die in diese Richtung gehen. Bei der Deutschen Telekom betreibt man nicht nur den mit eigenen Inhalten befüllbaren Streaming-Sender "Dabei TV", sondern stampft virtuelle Channels auch ereignisbezogen aus dem Boden (und danach wieder ein) – so wie im vergangenen Jahr zur nachgeholten Fußball-EM, als die erworbenen Rechte auf zwei im Magenta-TV-EPG ganz nach vorne geholten Sport-Kanälen verwertet wurden. (Und zwar durchaus konkurrenzfähig zum Angebot von ARD und ZDF.)
Auf RTL+ zeigt ein einziger virtueller Kanal namens "Now!" in Anlehnung an den alten Plattformnamen Serien und Soaps am Stück – aber nur zwischen 20.15 Uhr und 0 Uhr. Das müsste doch verdammt noch mal auch besser und vor allem individueller gehen.
Denn der Segen der virtuellen Kanäle ist ja, dass sie so spitz und speziell sein können, wie es eine klassische lineare Vermarktung sonst kaum zuließe. Und dass sie sich theoretisch nicht nur an Genres, sondern auch an Personen, konkreten Ereignissen oder sogar Stimmungen ausrichten ließen.
Auswandern, aber rund um die Uhr
In Köln böte sich die einmalige Chance, die zahlreichen durch das Angebot von RTL+ mäandernden Reality-Kuppeleien endlich an einem Ort zusammenzuführen, um dort – auch noch senderübergreifend! – ein Drama nach dem anderen eskalieren zu lassen, anstatt dem Publikum zuzumuten, sich zwischen "Are You the One", "Ex on the Beach", "Temptation Island" und "Love Island" entscheiden zu müssen. Martin Rütter und Guido Maria Kretschmer kämen endlich zu ihrem Recht, einen ganzen Sender mit von ihnen geprägten Inhalten befüllen zu können – Welpen und Shopping Queens den ganzen Tag! Ein eigener Channel, auf dem permanent ausgewandert wird, wäre ja wohl selbstverständlich (AT: "Hello, Goodbye Deutschland!").
Und anstatt hinter gut gemeinten Inhalte-Gruppierungen noch weitere Übersichtsseiten mit Kacheln des Grauens aufzutürmen, ließe sich redaktioinell Rubriziertes doch auch gleich als Kanal anlegen – so wie die aktuelle RTL+-Empfehlungsleiste "Es gibt ihn noch – den guten 90-Minüter", wo dann ein Anderthalbstünder nach dem nächsten liefe. (Dann sieht dort vielleicht doch noch jemand aus Versehen "Balko: Teneriffa" oder "Einsatz in den Alpen".)
Auf dem Mainzer Lerchenberg wird man nur schwer bestreiten können, dass die Pläne für einen eigenen "Bares für Rares"-Kanal nicht ohnehin schon seit Jahren fertig in der Schublade liegen – und man sich bislang bloß aus medienpolitischer Vorsicht mit einem entsprechenden Vorstoß zurückhielt.
Frühstücksfernsehen den ganzen Tag
Joko und Klaas non-stop dürfte derweil für Joyn ja wohl kein Problem sein. So ein virtueller "Masked Singer"-Channel wüsste die wenigen Lücken zwischen neuen Staffeln, Spin-Offs und der ausführlichen Begleitberichterstattung zu füllen. Und was wäre das für ein Segen für den schichtarbeitenden Teil der Bevölkerung (und Sat.1), endlich den ganzen Tag über Frühstücksfernsehen zeigen zu können! (Lachen Sie nicht, Peacock macht mit seinem "Today All Day"-Channel genau das.)
Die womöglich größten Chancen allerdings sehe ich für die ARD Mediathek, die ihrer Unübersichtlichkeit mit einem üppigen Channel-Angebot noch sehr viel mehr Nachdruck verleihen könnte. Der erste Schritt dazu ist ja bereits getan, seit dieser Woche gibt es im Angebot eine eigene "Themenwelt Tagesschau", in der alles Aktuelle noch "schneller und einfacher auffindbar" sein soll – wenn es Ihnen gelingt, im vierten Vorschaubild des Stage-Karussells ganz oben auf der Startseite den blauen Button zu klicken (Stand: Freitagnachmittag), in der Rubrik "tagesschau | Nachrichten" ganz nach rechts zu scrollen und dort auf "Mehr" zu gehen oder ganz weit runterzurollen und unterhalb von "Meine Merkliste" auf das "Tagesschau"-Logo vor dem doppelt dunkelblauen Hintergrund. (Erklärt sich doch von selbst.)
Gerade weil man sich in der ARD schon damit auskennt, die selbst produzierten Inhalte über eine unverschämt hohe Zahl an Sendern immer wieder neu zu verteilen, wäre es an den Profis in München, Köln, Hamburg und anderswo, mit virtuellem Beispiel voranzugehen – und zusätzlich zu den bereits etablierten "Themenwelten" gleich reihenweise Channels zu starten, deren Veranstaltung keinen Gebührencent extra kostet!
24 Stunden am Stück Schmunzelkrimis
Einen, auf dem ohne Pause eingekaufte skandinavische Lizenzserien laufen; einen, auf dem Jörg Schönenborn wirklich alle von ihm angelegten Balkendiagramme zur Saarland-Wahl zeigen darf; einen, bei dem endlich kein Gremium mehr zustimmen muss, wenn dort 24 Stunden am Stück Schmunzelkrimis laufen; einen mit Schlechte-Laune-Garantie und Polittalks ohne Pause; einen, um Pierre M. Krause mit seinem gebündelten Schaffen aus den Fängen von Sat.1 zurückzulocken; einen mit Non-Stop-Haushaltstipps von Yvonne Willicks, bloß um meinen geschätzen Vorgänger und Sonntagskolumnengroßmeister Hans Hoff zu ärgern; einen für den "Tatort", natürlich; und noch zwanzig andere, um all das zu kompilieren, was sonst in den Untiefen des Programmarchivs versenkt wird. Ganz im Ernst!
Ich gebe zu, dass diese Einforderung den klitzekleinen Nachteil hat, dass man sich, um von virtuellen Spezialkanälen berieselt werden zu können, zuerst bewusst für einen entscheiden muss. Die gute Nachricht ist aber, dass der dann, einmal gemerkt, immer wieder angeklickt werden kann, um im Hintergrund zu laufen, während man – wie in der guten alten Zeit – vor dem Fernseher bügelt, Essen kocht oder die Kinder ins Bett bringt, ohne das Gefühl zu haben, Entscheidendes zu verpassen.
Weil es manchmal genau das ist, was wir uns vom Fernsehen wünschen, ohne uns dafür vorher eine Entscheidung abringen zu müssen.
Und damit: zurück nach Köln.