Gerade in besonderen Situationen gewöhnt man sich ja schnell an neue Routinen, um etwas Halt zu fassen, und ich sag’s ganz ehrlich: meinen täglichen 20.15-Uhr-Peter-Kloeppel wieder herzugeben wird mir irgendwann ein bisschen schwer fallen. Auch wenn es weltpolitisch vermutlich ein gutes Zeichen wäre, dem RTL-Anchor abends wieder frei geben zu können, damit er auf dem Sofa zuhause die neue „Bachelor“-Folge ansehen kann, anstatt den Zuschauerinnen und Zuschauern im Studio beizubringen, dass sich ihr Reality-Eskapismus aus naheliegenden Gründen mal wieder um eine Viertelstunde nach hinten verschiebt.
Seit dreieinhalb Wochen herrscht Krieg in der Ukraine, Corona hat das Land weiterhin im Würgegriff, und das Fernsehen scheint sich so langsam im Dauerausnahmezustand eingerichtet zu haben.
Weil die Nachrichten des Tages sich kaum noch in die dafür vorgesehenen regulären Formate pressen lassen, vergeht quasi kein Tag mehr ohne spontan ins Programm genommene Sondersendungen – auf fast allen Kanälen.
Ausgeruht moderierte Hauptabendnachrichten
Angesichts des beinahe täglichen „RTL aktuell spezial“ um viertel nach acht ist man inzwischen fast zu übersehen geneigt, dass die Hauptnachrichtensendung aus Köln eigentlich bereits anderthalb Stunden zuvor über den Sender geht. Und so langsam mag zwar das Informationsbedürfnis des nach Fußball und Show-Ablenkung dürstenden Publikums an seine Grenzen geraten. Aber die Sonderberichterstattung aus Köln hat sich zuletzt durchaus als ganz gute Alternative zum besonders starr wirkenden „Brennpunkt“ im Ersten entwickelt (der sich seit dieser Woche auch noch mit „ARD Extra“ abwechseln darf, um die Verwirrung zu komplettieren).
Kloeppel hatte in der zurückliegenden Woche tatsächlich frei, dafür lotste Maik Meuser souverän durch das viertelstündige News-Update, zu dessen Beginn begrüßenswerterweise immer kurz die wichtigsten Entwicklungen des Tages erläutert werden, um dann eines der Themen zu vertiefen.
Am vergangenen Donnerstag räumte RTL vor Beginn der Europa League wieder doppelt soviel Sendezeit für sein „Spezial“ frei, in dem TV-Moderatorin Karolina Ashion das Publikum überraschend auf Ukrainisch begrüßte, um neben Meuser anzukündigen, dass sie ab sofort regelmäßig Nachrichten für ihre Landsleute in der gemeinsamen Landessprache bei RTL im Netz präsentieren wird. Meuser schaltete nach Odessa, zeigte den Bericht eines Kollegen aus Lwiw und schwenkte mittendrin im „Krieg in der Ukraine“-Spezial aufs Thema Corona, um mit dem live zugeschalteten Volker Bouffier den Unmut der Länder über die neue Infektionsschutzordnung zu besprechen, wobei der erstmal ansetzte: „Bevor wir zum Thema kommen, möchte ich ihrer Sendergruppe mal gratulieren“ – zur Idee, Nachrichten für Geflüchtete zu senden. „Das Lob nehmen wir gerne an. Die Fragen werden deshalb aber nicht netter“, entgegnete Meuser, bevor weitere Berichte zu den beiden prägenden Themen dieser Zeit folgten.
Und ich bin gar nicht scharf darauf, diese Art Ausnahmezustand unnötig zu verlängern – aber an so eine ausgeruht moderierte halbstündige Nachrichtensendung zur besten Sendezeit könnte ich mich durchaus gewöhnen.
Informationsbedürfnis und Ablenkung
Die Frage ist, ob es das Publikum, ob wir alle es irgendwann als normal hinnehmen, dass die Welt aus den Angeln gehoben ist, weil uns das Medium, das uns gleichzeitig auf dem Laufenden halten und davon ablenken soll, durch stetige Sonderprogramme daran erinnert. Wenn ich einen Antwortvorschlag liefern müsste, dann wäre das: nein, vermutlich nicht – weil es auch nach intensivem Nachrichtenschauen immer noch unfassbar schwer fällt, die verzweifelten Angehörigen vor ihren in Trümmern liegenden Toten knien zu sehen, die mit ihren Müttern geflüchteten Kinder und die Berichte aus Kellern und U-Bahnschächten, in denen so viele Schutz vor den Bomben suchen.
Vielleicht ist es auch notwendig, stetig daran erinnert zu werden, dass diese Zeit nicht normal sein kann, selbst wenn zwischendurch immer wieder so getan wird, sobald das Programm läuft, das zu Gunsten der vielen Extras und Spezials verschoben werden musste.
Verändert sich auch das Fernsehen durch die Zeit der Dauerkrisen? Das hat es wahrscheinlich schon, wie sich an der neu erwachten Nachrichten-Ambition der Privaten zeigt – auch wenn es, wie beim „Ukraine Spezial“ von ProSieben und Sat.1, nach wie vor gewöhnungsbedürftig ist, Claudia von Brauchitsch und Linda Zervakis hinter zwei Moderationsröhren in einem in kurios leeren Studio stehen und merkwürdig steif „Tagesschau“ spielen zu sehen. Weil man dem Format, so gut es gemeint sein mag, doch arg anmerkt, dass es in Unterföhring an einer eingespielten Nachrichtenredaktion-Routine fehlt.
Gespieltes Nachrichtenfernsehen im RBB
Wobei das natürlich immer noch angenehmer ist als Stefan Aust am Dienstag bei Welt in seiner ganzen Stefanausthaftigkeit die „Angst vor dem Atomschlag“ beschwören und erklären zu lassen, dass „die Menschheit“ nach dem russischen Angriff auf die ukrainische Atomanlage Saporischschja wieder am „atomaren Abgrund“ steht – inklusive Best-of der im Ersten Kalten Krieg glücklicherweise verpassten Schrecklichkeiten.
Beim RBB in Berlin scheint man sich derweil nach einer Bedeutung zu sehnen, die noch über den amtierenden ARD-Sendervorsitz hinausgeht. Vielleicht sieht das Donnerstags-„RBB Spezial“ mit „Abendschau“-Moderator Volker Wieprecht deshalb gerade immer so aus als sei in der Regie jemand auf den Schalter mit dem CNN-Filter gefallen.
Nach der Runde zum Thema „Frieden – aber wie?“ in der Vorwoche hatte Wieprecht diesmal zur Auseinandersetzung „Corona – Freiheit oder Vorsicht?“ geladen, und während die beiden Gäste aus der Politik wie erwartet darüber stritten, zündete die Grafik rundherum ein Feuerwerk der Ablenkungen: Unter dem eingerahmten Hauptbild, in dem die drei Köpfe immer wieder einzeln nebeneinander montiert wurden (anstatt einfach die Tisch-Totale zu zeigen), tickerten im Laufband ihre gerade gesagten Zitate durchs Bild und in der durchgehend eingeblendeten Infosäule rechts wechselten sich Balken mit aktuellen Inzidenzen aus Berlin und Brandenburg mit denen zur Impfquote und den Anteilen von Erst-, Zweit- und Drittimpfungen in der Region mit bebilderten Zitaten von Markus Söder und Stephan Weil ab, und zwar, als alles einmal durch war: in Dauerschleife wieder vorn vorn, bevor Wieprecht das Publikum mit der Ankündigung des nachfolgenden Films „Sauerkrautkoma“ in die RBB-Realität zurückholte.
Die Nachrichtensenderwerdung von Tagesschau24
Ich bin nicht sicher, was dieses inszenierte Nachrichtenfernsehen seinem Publikum für einen Mehrwert bieten soll, und ob es nicht in erster Linie der Selbstberauschung eines Regionalsenders dient, der damit maximale optische Distanz zur grundpiefigen Berichterstattung aufbaut, die sonst im Programm gepflegt wird.
Aber passt sich der RBB damit auch bloß der kürzlich ARD-intern beschlossenen und von seiner Intendantin forcierten Nachrichtensenderwerdung von Tagesschau24 an, das sich künftig öfter mit aktueller Berichterstattung ins Geschehen einklinken soll, was bislang – zumindest nach meiner sporadischen Beobachtung der vergangenen Tage – gleichzeitig ganz gut und überhaupt gar nicht klappt.
Mit dem Sender verfügt die ARD (insbesondere jetzt) über eine ideale Voraussetzung, um alles, was in den regulären Nachrichten des Hauptprogramms eher kompakt abgehandelt werden muss, noch einmal ausführlicher erklären zu können. So wie am Dienstagabend, als in den „Tagesschau-Nachrichten“ – wie das laufende Newsprogramm von Tagesschau24 kurioserweise heißt – Platz war, um Ina Ruck in Moskau über mehrere Minuten zuzuschalten; Robert Kempe im ukrainischen Winnyzia konnte ohne Zeitdruck berichten, wie die Stimmung in der Stadt zu kippen beginnt und sein Team am Morgen von nervöser Polizei und bewaffneten Soldaten erst nach längeren Beschwichtigungen wieder die geplante Berichterstattung aufnehmen durfte; Olaf Bock ordnete anschließend aus Warschau den Besuch der Staatschefs von Polen, Tschechien und Slowenien in Kiew ein. Als „Schwerpunkt“ lief dazu die Reportage einer Journalistin vom französischen (?) Fernsehen, die in Mykolajiw eine Nacht mit den Anwohnerinnen und Anwohnern im Luftschutzbunker verbracht hatte.
Die Stunde der Korrespondenten
An diesem Abend war zumindest zu ahnen, wie sich mit Tagesschau24 das Wissen und die Erfahrungen aus dem Korrespondentinnen- und Korrespondenten-Netzwerk der ARD abschöpfen ließe – wenn sich in Hamburg denn jemand den Ruck geben würde und daraus eine abendliche Stunde der vertiefenden Berichterstattung vor Ort zu kompilieren.
Einfach wie am Freitag in der regulären 20-Uhr-„Tagesschau“ eine „Sondersendung“ in der Sparte anzukündigen, in der eine Stunde später dann nochmal exakt dieselben „Tagesschau“-Beiträge zum Thema laufen, bloß neu anmoderiert, und neu geschnittene Interviews vom früheren Abend zu wiederholen, wird dem zunehmend prominenter kommunizierten Anspruch von Tagesschau24 allerdings kaum gerecht. „Notwendigkeit und Relevanz“? Eher nicht, so lange abends die meiste Zeit ja doch bloß Wiederholungen von Reportagen und Magazinen aus den Regionalsendern gezeigt werden, wie in einer Art linearen Info-Mediathek. (Sehenswert in der vergangenen Woche: u.a. die WDR-„Story“ „Der Krieg, die Flucht und wir“ von Freiwilligen aus Hamm und Dortmund, die Geflüchtete von der ukrainischen Grenze abholen und ihnen ein vorläufiges Zuhause in ihrer Nachbarschaft herrichten.)
Ich kann mir gerade noch nicht vorstellen, wie das alles sein wird, wenn es irgendwann wieder weniger zu berichten gibt (falls das überhaupt realistisch ist). Aber bei einem bin ich mir sicher: Die Extraisierung der TV-Nachrichten wird noch eine ganze Weile nachwirken, bei Verantwortlichen und Berichterstattenden genau wie bei denen, die zusehen. Vorerst gilt: Spezial ist das neue Normal.
Und damit: zurück nach Köln.