Anderthalb Wochen ist es her, dass die neue ARD-Vorsitzende im Interview mit dem "Tagesspiegel" den Ausbau von Tagesschau24 zum "Nachrichtenkanal mit vielen Schalten, Bildern und Gesprächen, der umfassend zu jeder Zeit informiert", ankündigte – "Schritt für Schritt". Und vermutlich hätte Patricia Schlesinger zum damaligen Zeitpunkt auch nicht geglaubt, dass dieser Wandel erst noch dem Hauptprogramm des von ihr geführten Senderverbunds bevorstehen würde, zumindest vorübergehend.
Exakt eine Woche später war es soweit: In der Nacht von Mittwoch auf Donnerstag wurde der lange befürchtete russische Angriff auf die Ukraine zur Tatsache – und das Erste, ähnlich wie das ZDF, für fast einen ganzen Tag quasi zum Nachrichtenkanal.
Aggregatzustand: Brei
Zahlreiche Sondersendungen sorgten dafür, dass der größte Teil des regulären Programms ausfiel. Der "Breaking-News-Fall", den Schlesinger zuvor theoretisiert hatte, war eingetroffen – und die Lage so ernst, dass nicht nur in der Sparte über die Lage zwischen Kiew und Mariupol berichtet werden konnte.
Bei den Privaten hatten RTL und ntv tagsüber bereits gemeinsame Sondersendungen gezeigt, ProSieben und Sat.1 lieferten am Abend ein "Ukraine Spezial". Im Ersten informierten derweil "Morgenmagazin", "Tagesschau extra", "Brennpunkt", "Maischberger. Die Woche" und extra lange "Tagesthemen", während das ZDF auf "heute spezial" setzte und ins "ZDF spezial" integrierte Sonderausgaben von "Maybrit Illner" und "Was nun?", bevor man ans verlängerte "heute journal" und "Markus Lanz" abgab.
Und ich weiß ja nicht, wie's Ihnen oder den anderen der Millionen Zuschauerinnen und Zuschauer nach diesem Tag ging – aber mein Gehirn war anschließend ziemlicher Brei.
Ehrlicherweise hatte sich dieser Aggregatzustand schon im Anschluss an den dreiviertelstündigen "Brennpunkt" nach der monothematischen "Tagesschau" eingestellt: "Einen solchen Angriffskrieg in Europa hat es seit über 80 Jahren nicht gegeben", ordnete Ellen Ehni gleich zu Beginn die historische Dimension dieses Tages ein – und versprach dann: "Wir wollen Ihnen in den nächsten 45 Minuten alle Informationen zur aktuellen Situation bieten, so wie das eben in einer unübersichtlichen und sich ständig ändernden Lage möglich ist."
Die 45-Minuten-News-Strapaze
Anschließend folgte eine Sendung, die mit einer in Tränen aufgelösten Übersetzerin und erschrockenen Passantinnen und Passanten aus Kiew begann, Analysen von zwei Militärexperten, einem Generalleutnant a.D. und einer Expertin für Sicherheitspolitik berücksichtigte, zu Korrespondentinnen und Reportern nach Moskau, Polen, Brüssel, Berlin und Washington schaltete, einen chronologischen Überblick der vorangegangenen Ereignisse zeigte, zwei Präsidentenansprachen miteinander verglich, Protestierende in mehreren deutschen Städten zu Wort kommen ließ, einen durch die Ukraine reisenden freien Journalisten befragte, den ukrainischen Botschafter aus Berlin und den litauischen Präsidenten aus Riga zuschaltete und eine Analyse der Reaktionen aus Deutschland, Brüssel und der Welt beisteuerte, bevor Sandra Maischberger nochmal mit gefühlt siebzig neuen Gesprächspartnerinnen und Gesprächspartnern in die Verlängerung ging.
Das war aus redaktioneller Perspektive wahrscheinlich nicht nur eine planerische Herkules-Aufgabe – sondern auch die perfekte Voraussetzung dafür, nachher mit dem Gefühl ins Bett zu gehen, nicht mal den geringsten Überblick über die aktuelle Lage zu haben.
(Vielleicht hätte ich aber auch einfach nicht noch anschauen sollen, wie Christian Lindner vermutlich aus der "Maischberger"-Umkleide live ins "heute journal" zugeschaltet wurde und die Augenzeugenschilderung des durch die Ukraine reisenden freien Journalisten im Gespräch mit Christian Sievers im ZDF noch ein bisschen dramatischer klang als zuvor im "Brennpunkt".)
Und wahrscheinlich ist das in solchen Ausnahmesituationen normal.
Reduktion aufs Allerwichtigste
Umso mehr hätte ich mir am Donnerstag aber gewünscht, dass mich die moderierenden Journalistinnen und Journalisten zwischendurch an die Hand nehmen, Verständnis dafür äußern, dass das alles ganz schön viel ist – und dann bei aller Unübersichtlichkeit eine Minute für Ordnung sorgen: mit dem Allerwichtigsten, um die Lage ganz grundlegend zu begreifen.
Die Idee eines solchen wiederkehrenden Informationsdestillats ist nicht neu: Ausgerechnet im noch hektischeren Online-Journalismus gehört sie inzwischen quasi zum Inventar. Und ich glaube, es wird höchste Zeit, dass sich das Fernsehen das abguckt.
Bei fast alle großen Online-Nachrichtenmedien hat es sich eingebürgert, über die sich entwickelnde Lage bei großen Ereignissen in Liveblogs zu berichten. In chronologischer Reihenfolge steht dort, was jetzt gerade passiert. Weil diese Detailliertheit für alle, die zwischendurch einsteigen, aber eine ungeheure Zumutung ist, ergänzen viele Redaktionen in regelmäßigen Abständen Zusammenfassungen, die in aller Kürze und auf einen Blick das Wichtigste der zurückliegenden Stunden liefern.
Das geschieht in den unterschiedlichsten Formen: Der "Guardian" aktualisierte am Freitag regelmäßig eine Ereignisliste unter der Überschrift "Day 2: What we know so far"; der "Spiegel" stellt seiner Live-Berichterstattung "Das Wichtigste in Kürze" voran, Zeit Online macht's ähnlich; CNN.com verlinkte am Morgen einen "Catch-up" mit dem Titel: "It's 7:15 am in Kyiv. Here's what you need to know"; und die "New York Times" pinnt Kurz-Zusammenfassungen zentraler Entwicklungen zu Beginn ihrer Live-Berichterstattung fest.
Ein Anker im Sondersendungs-Ozean
Wenn's nach mir ginge, könnten ARD und ZDF das Prinzip jederzeit für ihre eigene Live-TV-Berichterstattung übernehmen: ein "Was Sie jetzt wissen müssen", das sich 60 Sekunden Zeit nimmt, um Zuschauerinnen und Zuschauer, die gerade erst zugeschaltet haben, auf den neusten Stand zu bringen. Das sortiert, ordnet und auch visuell als Anker im Ozean der vielen Sondersendungen erkennbar ist. Das ohne Karten, ohne Experten und – im Idealfall – sogar ohne ablenkende Bilder auskommt, sondern einfach die nackten Fakten untereinander referiert, laufend angepasst von fest zuständigen Redakteurinnen und Redakteuren, die sich während ihrer Arbeit voll und ganz der Vogelperspektive verpflichtet sehen.
Quasi eine "Tagesschau in 100 Sekunden" – aber noch viel reduzierter, und geeignet, um formatübergreifend auch im Hauptprogramm eingesetzt und von unterschiedlichen Moderatorinnen und Moderatoren vorgetragen zu werden, bevor es mit dem nächsten Schaltgespräch, dem nächsten Interview, der nächsten Detailanalyse weitergeht.
Ein Schalter, der sich – wie in der Berichterstattung des "Guardian" – umlegen lässt: "Show key events only."
So wie das in einer unübersichtlichen und sich ständig ändernden Lage halt nötig ist.
Handreichung fürs Publikum
Dieser Wunsch mag auf den ersten Blick der Arbeits- und Funktionsweise voneinander unabhängig arbeitender Redaktionen widersprechen, die alle für sich – zurecht – in Anspruch nehmen, dem Publikum mit ihrem Format die wichtigsten Einordnungen liefern zu können. Es wäre aber eine enorme Erleichterung für alle, die nicht den ganzen Tag über Teil eines Nachrichtenapparats sind, der mit jeder neuen Stunde nach Beginn eines Ereignisses ein Vorwissen voraussetzt, das sich kaum mehr aufarbeiten lässt, wenn man dazu stößt, nachdem die Arbeit erledigt, das Essen gekocht und die Kinder im Bett sind.
Und bevor Sie jetzt einwenden, dass ein solcher Erklär-Anker im Widerspruch zur Unmittelbarkeit des Mediums Fernsehens steht: Im Internet mit seiner schwindelereregenden Promptheit funktioniert es – genau deswegen! – doch auch. (Bei Schlesingers Lieblingsprojekt Tagesschau24 hätte sich das am Donnerstagabend z.B. schon mal gut üben lassen, anstatt ohne zusätzlichen Nutzen einfach "Brennpunkt" und "Maischberger" aus dem Ersten durchzuschalten.)
Dabei geht es nicht darum, eine komplizierte Situation wie die in der Ukraine zwanghaft zu simplifizieren – sondern bloß um eine Handreichung, die das Publikum zwischendurch auf den ohne Halt weiterrasenden Nachrichtenzug auf- und später wieder abspringen lässt.
Die Verlässlichkeit des Überblicks
"Wenn wir in den letzten Tagen etwas gelernt haben, dann, dass man sich eigentlich auf nichts mehr verlassen kann", formulierte Ellen Ehni am Donnerstagabend im "Brennpunkt" das Gefühl vieler Politikerinnen, Experten und Journalistinnen, die bis zuletzt davon überzeugt waren, dass Wladimir Putin es schon nicht soweit kommen lasse würde wie an diesem Tag. Umso wichtiger ist, dass das Fernsehen seinen Zuschauerinnen und Zuschauern genau das bietet: die Verlässlichkeit, das Nachrichtengeschehen vielleicht nicht vollends verstehen zu können – aber mit Hilfe des Mediums ihrer Wahl zumindest ausschnittsweise überblicken zu lernen, ohne davon überrollt zu werden.
Und damit: zurück nach Köln.