"Wilsberg"-Fans müssen jetzt ganz stark sein: Statt der üblichen Wiederholungen ihres Münsteraner Lieblingsermittlers zeigt ZDFneo am kommenden Mittwoch eine – huch! – Eigenproduktion um – nochmal huch! – 20.15 Uhr: die neue Staffel der düsteren Virusvision "Sløborn". Und einen Tag zuvor: schon mal! Das neue Jahr geht also ziemlich verrückt los.
Gleichwohl steht nicht zu befürchten, dass regelmäßige ZDFneo-Zuseherinnen und Zuseher sich dauerhaft auf die Zumutung einstellen müssen, zur Hauptsendezeit mit Premieren von Originalprogrammen belästigt zu werden. In der nächsten Woche ist schon wieder alles beim Alten: Wiederholungen soweit das Auge reicht. Daran wird sich vermutlich auch nichts ändern, wenn die Länder demnächst ihre Reform zur Aktualisierung des Programmauftrags von ARD und ZDF beschließen (siehe dazu der DWDL-Kommentar von Torsten Zarges). Der aktuelle Entwurf steht noch bis zum 14. Januar öffentlich zur Diskussion, die rheinland-pfälzische Ministerpräsidentin und Rundfunkkommissionsvorsitzende Malu Dreyer freute sich kürzlich über "ganz viel Input von außen", und das nehme ich als Einladung für den folgenden Text natürlich gerne an.
Eine der wesentlichen Änderungen besteht nämlich daran, dass die Politik die Axt an die bisher übliche Einzelbeauftragung des öffentlich-rechtlichen Senderwäldchens anlegt: Nur noch die Hauptprogramme, Dritte, Arte und 3sat müssen weiter verpflichtend veranstaltet werden. Bei allen übrigen Linearkanälen können die Anstalten selbst überlegen, ob sie weiter betrieben oder in vergleichbare Angebote im Internet überführt werden.
Der Albtraum vom "isolierten Einzelsender"
Das ist, auch wenn's so nicht im Entwurf steht, vor allem eine Lex Buhrow / ARD ("Spartenkanäle im linearen Fernsehen sind 2030 größtenteils Geschichte und werden in [der] Mediathek aufgegangen sein", Abo-Text). Fürs ZDF kommt die Neuregelung mehrere Jahre zu spät: Das 2013 aus Kostengründen linear eingestellte ZDFkultur musste noch zwei Jahre als Geistersender weiterflimmern, bis die Abschaltung von allen Entscheidungsträgern abgesegnet war. Seit 2019 ist ZDFkultur als reines Online-Angebot wieder da. Wenn die Politik den Sendern voraussichtlich zum Jahr 2023 großzügig neue Freiheiten gönnt, wird man über die in Mainz deshalb bloß müde lächeln – und einen Teufel tun, auch nur darüber nachzudenken, die verbliebenen Kanäle ZDFneo und ZDFinfo einzustellen.
Weil beide eine Absicherung der eigenen Existenz sind, die man sich über viele Jahre hart erkämpfen hat müssen, und die inzwischen mit richtig guten Quoten dafür sorgen, dass sich der Marktführer noch ein bisschen komfortabler zurücklehnen kann als ohnehin schon.
Zwei Jahrzehnte ist es her, dass Markus Schächter zum Intendanten gewählt wurde und bereits in seiner Antrittsrede eine seiner Prioritäten formulierte: das ZDF nicht weiter "als isolierte[n] Einzelsender" dastehen zu lassen, sondern zur Senderfamilie ausbauen zu wollen – mit einem "ZDF 2", um verstärkt jüngeres Publikum für sich zu gewinnen, ohne die sichere Bank bei den Alten (das Hauptprogramm) wesentlich anpassen zu müssen.
Abgebrochene Aufbruchsstimmung
Einen ähnlichen Plan hatte schon Schächters Vorgänger Dieter Stolte verfolgt, und einige Zeit sah es so aus, als könne der Mainzer Traum in Erfüllung gehen: mit Hilfe von 3sat, für das man auf dem Lerchenberg gerne die Alleinverantwortung gehabt hätte – bis irgendwann die nervige ARD wieder reinquatschen musste.
Die voranschreitende Digitalisierung wurde in Mainz als erneute Gelegenheit begriffen, das ursprüngliche Vorhaben in die Tat umzusetzen. Schächter musste damals versichern, ein zweites ZDF "würde sicher kein RTL 2 werden" und schätzte die dafür notwendige Überzeugungs- und Aufbauarbeit auf zehn Jahre. Es hat dann aber doch nur sieben gebraucht: Im Herbst 2009 ging ZDFneo an den Start – und für einen kurzen Moment sah es danach aus, als könnte der frisch geschlüpfte Sender tatsächlich eine lineare Vervollständigung des öffentlich-rechtlichen Programmangebots sein: mit US-Serien, die den Privaten nicht mainstreamig genug waren, jungem Dokutainment und den von MTV geholten Quatschköpfen Joko und Klaas.
Aber die Aufbruchsstimmung währte nicht all zu lange. Und schon seit längerer Zeit ist klar, dass ZDFneo nie der konzeptionelle Jungbrunnen war, den man Öffentlichkeit und Politik einst verkauft hatte (letzterer zudem ursprünglich als "ZDF Familienkanal": "Im Mittelpunkt (...) stehen eine realitätsnahe Orientierungs- und Ratgeberfunktion").
Mehr noch: Zu keinem Zeitpunkt in den vergangenen 13 Jahren ist ZDFneo prägend für das Hauptprogramm gewesen – mit Ausnahme von Jan Böhmermanns 2013 gestartetem "neo Magazin", dessen Wechsel zum "ZDFmagazin Royale" sich sein Präsentator über Jahre mit der ihm eigenen Selbstüberzeugung hart erkämpfen hat müssen.
Keine nennenswerten Akzente
Nicht mal im eigenen Programm setzt ZDFneo noch nennenswerte Akzente. Man muss sich bloß mal das Sendeschema für diese und nächste Woche ansehen, aus dem lediglich "Sløborn" heraussticht wie ein Zahnstocher aus den Barten eines Wals. Die übrige Zeit läuft Archivware: fünf Stunden "Schwarzwaldklinik" am Stück (an diesem Wochenende nachmittags), der große Horst-Lichter-Thementag (nächsten Samstag ab morgens: "Lafer! Lichter Lecker!", "Lichters Reisen", "Bares für Rares – Sammlerstücke", "Kessler ist… Horst Lichter", "Horst Lichter sucht das Glück", "Bares für Rares" – das Original), "Ein starkes Team" und der "Erzgebirgskrimi" (Sonntag), "Inspector Barnaby" (Montag), "Die Toten vom Bodensee" (Dienstag), "Wilsberg" (Mittwoch), "Monk" (Donnerstag) sowie haufenweise uralter US-Filme (am Freitag kommender Woche: "Meine Stiefmutter ist ein Alien" von 1988 und "Basic Instinct" von 1992). Der sehr viel passendere Name für diese Veranstaltung wäre eigentlich: ZDFpaleo.
Ein bisschen Restoriginalität hat sich der Sender erhalten: die oft gar nicht so guten Minibudget-Serien unter dem Label "neoriginals", der unerschütterliche Late-Night-Optimismus, gelegentlich eine neue Comedy, und alle paar Monate ein "Factual", in dem gesellschaftlich relevante Themen bisweilen ganz interessant verhandelt werden – das aber wie "Supermoms" mit Collien Ulmen-Fernandez im Schema sang- und klanglos untergeht. Weil das meiste zwischen der Archivware gar nicht gefunden oder bis in die Nacht am Stück versendet wird, notfalls auch eine Eigenproduktion (wie "Schlafschafe" im vergangenen Frühjahr: sechs Episoden in einer Werktagsnacht ab 0.45 Uhr).
Dagegen war "MaiThink X – Die Show", Ende des vergangenen Jahres prominent am Sonntagabend platziert, geradezu eine Ausnahmeerscheinung. (Wenn auch nicht durchweg gelungen.)
Lieber gleich in die Mediathek
Das ändert aber nichts daran, dass ZDFneo heute im Wesentlichen zwei Funktionen hat. Erstens: als lineare Abspielstation für Inhalte, für die man die jüngere Zielgruppe lieber direkt in die Mediathek lotst (selbst die Trailer im Hauptprogramm fordern: "Jetzt streamen"), die aber derzeit auch linear laufen müssen, um sie online verwerten zu können. (Was bald wegfallen dürfte.)
Und zweitens, noch viel wichtiger: zur Flankierung des Hauptprogramms. Das geschieht entweder durch Komplementärprogrammierung: immer wenn im ZDF gerade mal kein Krimi laufen kann, läuft einer bei Neo und sammelt so das Publikum ein, das andernfalls bei der Konkurrenz landen würde, weil es keinen Bock auf "Rosamunde Pilcher" oder die "ZDFzeit"-Doku über Herzogin Kate hat. Oder indem, gänzlich ohne Restscham, einfach auf beiden Sendern parallel unterschiedliche Krimis gezeigt werden.
Aus Quotensicht funktioniert das so hervorragend, dass ZDFneo sich mit seinem abendlichen Programmangebot nicht nur regelmäßig vor sämtliche Privatsender schiebt, so wie im Juli des vergangenen Jahres mit "Marie Brand"; sondern teilweise auch auf einer Wellenlänge mit dem großen ZDF liegt, so wie im Oktober mit "Nord Nord Mord". Ende Juni 2021 gelang in Mainz sogar das Kunststück, mit einer EM-Übertragung und fast 50 Prozent Marktanteil fast die komplette Konkurrenz hinwegzufegen – und ZDFneo mit "Inspector Barnaby" im Doppelpack noch ein paar Prozentpunkte obendrauf satteln zum lassen.
Aber die Quoten: sind spitze!
Das geht schon eine ganze Weile so. Bereits vor dreieinhalb Jahren urteilte DWDL.de in einer Analyse: "Tatsächlich punktet ZDFneo fast ausschließlich mit aufgewärmten Krimis. Unter den 50 meistgesehenen Sendungen des vergangenen Jahres liegen ausschließlich Ermittler-Reihen, die schon einmal im Hauptprogramm liefen. Das macht ZDFneo zu einem kostengünstigen Quotenbringer, der noch nicht einmal Auswirkungen auf das große ZDF zu haben scheint, das seine Marktführerschaft bekanntlich schon seit Jahren erfolgreich verteidigt."
Mit Blick auf die Jahresmarktanteile könnte es fürs ZDF mit seinem spät erfüllten Senderwunsch in der Tat kaum besser laufen. 2021 holte Neo zusätzliche 2,8 Prozent in die Programmfamilie (immerhin 1,9 Prozent 14- bis 49-Jährige). Das ist zwar weniger als im Rekordjahr 2018, aber im vergangenen April stand auch schon mal wieder eine Drei vorm Komma. Und die Schwester ZDFinfo bringt ja zusätzlich 1,7 Prozent mit (2,0 Prozent in der jungen Zielgruppe).
Die guten Quoten dürften auch der Grund dafür sein, warum ZDFneo auf den ersten Blick so aussieht wie das, was die auf Sparkurs getrimmte BBC in Großbritannien für ihren stillgelegten Sender BBC Four angekündigt hat: dass er nämlich "home of archived content" würde. ZDFneo zelebriert das – mit Ausnahme weniger Programmfenster in die Gegenwart – schon lange.
Und das ist, man kann es nicht anders sagen, von Grund auf falsch.
Vorgegaukelte Programmvielfalt
Nicht nur, weil man in Mainz damit eine Programmvielfalt vorgaukelt, die es gar nicht (mehr) gibt; sondern weil das ausschließlich der Sendergruppe selbst zugute kommt, die sich mit zusammengerechnet fast 20 Prozent Marktanteil argumentativ hervorragend gewappnet sieht gegen die wiederkehrende Zusammenlegungsdebatte: Was wollt ihr denn, wir sind doch erfolgreicher als je zuvor?
Das ZDF mag sich erfolgreich aus seinem Albtraum des "Einkanalsenders" heraus lobbyiert haben. Da ist es bloß konsequent, dass dieses Jahr mit Norbert Himmler der erste Ex-Neo-Programmleiter in die Intendanz einzieht. Aber die Anstrengungen, die seit geraumer Zeit für Himmlers ehemaligen Verantwortungsbereich betrieben werden, sind viel zu gering, als dass es die Politik den Zuständigen mit der geplanten Auftragsreform jetzt auch noch erlauben dürfte, weiter wie bisher zu machen. (Und im Zweifel auch noch die Spätausstrahlungen ungewöhnlicher europäischer Serien abzuschaffen, die dann ausschließlich in der Mediathek landen könnten, damit noch mehr Platz für einen dritten "Inspector Barnaby" am Abend ist.)
Selbst wenn man in Mainz die eigene Strategie ernst nähme – stark verkürzt: das Hauptprogramm für die Alten, die Mediathek für die Jüngeren – müsste das eigentlich den Gnadenstoß für Neo bedeuten, weil der Sender der nackten Erfüllung des Auftrags nichts Wesentliches hinzu zu fügen hat.
Ungewöhlich, mutig, kontrovers
Dabei ließe sich ZDFneo durchaus als Verpflichtung verstehen, ein ambitioniertes Programm mit linearer Relevanz zu machen, das auch beim jüngeren Publikum, welches sonst zweifellos gerne die Mediatheken ansteuert, erfolgreich sein könnte. (Wie das geht, demonstriert ziemlich lässig, wenn auch auf zunehmend wackeligen Füßen: ProSieben.)
Das mit ungewöhlichen, mutigen, kontroversen Inhalten von sich reden machen könnte, um das Hauptprogramm in seiner erfolgreichen Trutschigkeit nicht zu bequem werden zu lassen.
Das regelmäßig Argumente dafür abliefern würde, warum die Finanzierung eines (immer noch weitgehend linearen) öffentlich-rechtlichen Bewegtbildangebots auch in der Streaming-Zukunft gerechtfertigt ist.
Anstatt, wie derzeit, vorrangig als Quotenscherge zum Marktanteile-Einsammeln und Abklingbecken für Archiv-Inhalte gebraucht zu werden und sich Katastrophen wie "The Drag and Us" zu leisten.
Die Politik scheint sich in ihrer schwachen Neuformulierung des Programmauftrags für ARD und ZDF entweder nicht dafür zuständig zu fühlen, den Beitragszahlenden eine derartige Vielfaltsverpflichtung zu garantieren – oder es ist ihr, wie so manches in der Vergangenheit, schlichtweg egal. Aber dann müsste man in Mainz immerhin so ehrlich sein, Neo künftig als das zu benennen, wozu man den Sender im Laufe der Jahre zurechtgestutzt hat: ein ZDF 2, nur ohne den Ballast, zwischendurch Nachrichten zeigen zu müssen.
Und damit: zurück nach Köln.
Die zweite "Sløborn"-Staffel läuft am Dienstag- und Mittwochabend ab 20.15 Uhr bei ZDFneo.