Als Alfred Biolek im vergangenen Sommer mit 87 Jahren verstarb, ist irgendwer bei seinem ehemaligen Haussender WDR tief ins Archiv gestiegen und hat für die Sonderprogrammierung eine Hommage herausgesucht, mit der sich der Entertainer und Moderator zu seinem 70. Geburtstag im Jahr 2004 beschenken ließ. Und die eigentlich Pflichtprogramm für alle sein sollte, die im neuen Jahr vorhaben, ungewöhnliches, begeisterndes Fernsehen zu machen.
In "Bahnhof für Bio" treffen sich Anke Engelke und Hape Kerkeling mit Biolek vor dem ehemaligen Depot der Köln-Frechen-Benzelrather Eisenbahn, das zum damaligen Zeitpunkt einen ziemlich scheußlichen Fliesenladen beherbergte – aber gut zwei Jahrzehnte zuvor eine der außergewöhnlichste Kulissen im deutschen Fernsehen war, weil von dort 30 Ausgaben der Unterhaltungssendung "Bios Bahnhof" gezeigt wurden.
"Wir wollten einen Originalraum, in dem wir so ein bisschen erdig, fast schmutzig [sein konnten], weg von der gelackten Glattheit der ganzen anderen Shows", erinnert sich Biolek beim Gespräch über die Idee der Redaktion für die Sendung, die auch wegen dieses Orts "einen so unglaublichen Charme" hatte. Das Publikum wurde in einer Straßenbahn mit Live-Band hinkuschiert; Stars kamen auf Schienen in echten Zügen direkt in die Show gefahren; das RIAS Tanzorchester wurde durch die großen Eisentore hineingezogen; und auf der Bühne ("da, wo jetzt diese ganzen Regale mit den Fliesen sind") passierten Duette, wie es sie sonst nirgendwo gab: Elke Sommer mit Adriano Celentano, Milva mit Mario Adorf, Udo Lindenberg mit Nana Mouskouri. Ein weitgehend unbekannter Herr Sting aus Großbritannien bestand darauf, seine Band The Police mitbringen zu dürfen; und eine gewisse Kate Bush ließ sich von Biolek nach ihrem Erstauftritt prognostizieren, bald schon die Hallen dieser Welt zu füllen. (Er hat recht behalten.)
"Eine unglaublich bestechende Atmosphäre"
Biolek war stolz darauf, dass die Künstlerinnen und Künstler gespürt haben, "dass hier eine so unglaublich bestechende Atmosphäre ist". Als Sammy Davis Jr. 1982 aus den USA eingeflogen kam, machte er dem Gastgeber während der laufenden Sendung ein Riesenkompliment: "I've been in showbusiness for 53 years – and I must say, that this is the most unique and wonderfully mixed television show I ever had the pleasure of being on." Da blieb auch Biolek mal kurz die Spucke weg.
Nach vier Jahren war schon wieder Schluss, das Bahnhofsdach hatte immer mehr Lecks, und die Sanierung eines leerstehenden Eisenbahndepots wäre den Beitragszahlerinnen und Beitragszahlerinnen vermutlich auch damals schon schwer vermittelbar gewesen.
Die Ausgehlaune des deutschen Fernsehens hält sich seitdem leider in Grenzen. Und wahrscheinlich gibt es tausend gute Gründe dafür: Fernsehstudios sind, um Fernsehsendungen zu produzieren, nunmal nicht nur ungeheuer praktisch, sondern mit ihren bespielbaren LED-Wänden, Glitzerböden und all den Lichteffekten auch um ein Vielfaches spektakulärer aussehend als vor vierzig Jahren.
Andere Orte für TV-Übertragungen nutzbar zu machen, ist oft teuer und vor allem unkontrollierbar.
Und wahrscheinlich fehlt es auch an Formaten, die nach einer gewissen Schmutzigkeit verlangen, um als Gesamtkonzept zu wirken – so wie einst "Bios Bahnhof", wo ernsthafte und unterhaltende Musikauftritte ineinander griffen, um das Publikum gleichermaßen zu entertainen und zu fordern. (Weil viele im Alltag sonst vermutlich eher selten dazu neigen, experimenteller Klangkunst zu lauschen.) Dass das durchgesetzt werden konnte, war auch schon damals Glücksfall und Ausnahme zugleich: "War das denn schwierig, den WDR zu überzeugen?", fragt Kerkeling in "Bahnhof für Bio". Und Biolek antwortet: "Ja. Ja!"
Professionell, aber steril
Dabei gäbe es eigentlich keine bessere Zeit, um an diese Tradition anzuknüpfen. Die öffentlich-rechtlichen Sender sehen sich gegenüber der Politik einem zunehmenden Rechtfertigungsdruck ausgesetzt, Unterhaltung weiter als prägendes Genre ihres Kernauftrags begreifen zu dürfen – und da hilft's auch nur begrenzt, immer bloß darauf zu verweisen, dass man bei tausendundeiner Quizshow auch mal ein bisschen schlauer werden kann, wenn die Aufmerksamkeitsspanne zum Antwortenmitraten reicht. Regelmäßige Kurzweil, von ungewöhnlichen Orten gesendet, wäre noch dazu ganz hervorragend geeignet, um sich weiter von der Konkurrenz der zahlreichen Streaming-Kolosse zu unterscheiden, denen die Sender doch Paroli bieten wollen.
Wesentliches Ziel von "Bios Bahnhof" (das ursprünglich "Freds Musikpinte" heißen sollte) war es, sich von anderen Shows wie "Starparade" oder "Musik ist Trumpf" abzuheben: "Die waren entweder in sehr sterilen Studiodekorationen oder sind in diese Hallen gegangen – und das ist ja nun auch nicht gerade etwas, wo man von Atmosphäre sprechen kann", argumentierte Biolek.
Atmosphäre scheint auf der Prioritätenliste deutscher Show-Verantwortlicher aber eher nicht auf den oberen Rängen zu stehen, seitdem die Stierkampfarena von Palma de Mallorca ohne Sommer-"Wetten dass..?" auskommen muss und in der Live-Sendung von "Günther Jauch" niemand mehr die Flugzeuge übers Gasometer in Berlin-Schöneberg donnern hört.
Willkommen im Lübecker Hafen
Ja, zugegeben: Wenn Sonja Zietlow und Daniel Hartwich sich Ende dieses Monats mit "Ich bin ein Star – Holt mich hier raus!" erstmals aus Südafrika melden, wird die Hälfte des Publikums alleine schon deswegen einschalten, um sich prüfend anzuschauen, wie der neue Dschungel aussieht. (Daumendrücken für eine Corona-freie Produktion.) Und mancher Talk in den Dritten bittet seine Gäste durchaus zum Gespräch an Nichtstudio-Orte, von "Inas Nacht" in der Kneipe über die BR-"Nachtlinie" in der (visuell arg eintönig zu inszenierenden) Tram bis zum NDR-"Käptn's Dinner" in einem alten U-Boot ("13 Quadratmeter kuscheliger sowjetischer Stahl", findet Gastgeber Michael Abdollahi). Aber wenn das ZDF in den Gutwetterjahreszeiten sonntags in den "Fernsehgarten" auf sein Außengelände in Mainz lädt, scheint die Outdoor-Tauglichkeit des deutschen Live-Fernsehens damit schon weitgehend ausgereizt zu sein.
Im Sommer sah es kurz so aus, als hätten auch die Verantwortlichen Lust darauf, das zu ändern: Mit sichtlicher Begeisterung begrüßte NDR-Chefredakteur Andreas Chichowicz die Zuschauerinnen und Zuschauer der "Wahlarena" im Ersten "live aus dem Lübecker Hafen", "nur einen Steinwurf von der Ostsee entfernt", wo das Townhall-Format Politik und Wählende in der Kulturwerft Gollan zusammenbrachte. Auf die Idee, danach dort – mit welchem Format auch immer – regelmäßig Station zu beziehen, um ein bisschen Erdigkeit ins glattgebügelte Programm zu kriegen, scheint aber keiner gekommen zu sein.
Gar nicht, "um was Besseres zu machen", wie Biolek die Motivation zu "Bios Bahnhof" erinnerte, sondern: um sich vom übrigen abzuheben. Fast ein halbes Jahrhundert später könnte das deutsche Fernsehen genau das wieder hervorragend gebrauchen.
"Ich bin total dagegen, zu sagen: Früher war alles toll und heute ist es nicht so toll", hat Biolek den Gratulierenden damals mit auf den Weg gegeben – und dennoch unüberhörbar durchklingen lassen, wie hilfreich es war, etwas Neues zu wagen, um etwas Einzigartiges auf die Beine zu stellen. Er selbst wird dabei leider nicht mehr helfen können. Aber wie wär's, wenn stattdessen einfach mal jemand Engelke und Kerkeling fragt?
Und damit: zurück nach Köln.