Falls das TV-Jahr 2001, wachgerüttelt vom aktuellen Retrotrend im deutschen Fernsehen, demnächst auf die Schnapsidee kommen sollte, sein eigenes Comeback zu planen, müsste man ihm das aus vielen guten Gründen sanft wieder ausreden. Rückblickend betrachtet waren die Monate zwischen der Inauguration von George W. Bush als 43. Präsidenten der USA und dem Start des Euro im darauffolgenden Januar allerdings auch nicht weniger aufregend als die aktuellen.
Netflix haben die meisten TV-Verantwortlichen damals vermutlich noch für einen Fleckenentferner gehalten, und Amazon für einen Online-Buchhändler. Aber auf der Mattscheibe ging’s schon genau so rund, wie es sich seit Ankunft der neuen Streaming-Konkurrenz nicht geändert hat.
Wissen Sie noch? Kabel eins versuchte nach der "Was bin ich?"-Neuauflage mit der Wiederbelebung von "Dingsda" beim Publikum zu punkten (vergeblich). Günther Jauch moderierte irgendeine neue RTL-Quizshow. "TV total" wechselte bei ProSieben von der wöchentlichen zur fast werktäglichen Ausstrahlung, und Stefan Raab ließ sich live im Fernsehen von Regina Halmich vermöbeln. Der Grand Prix ging hierzulande erstmals offiziell als Eurovision Song Contest über die Bühne. Im ZDF startete "Frontal 21" mit Theo Koll, im WDR "Hart aber fair" mit Frank Plasberg, und Anja Reschke übernahm die Moderation von "Panorama".
„Big Diet“, „Der Doc“ und „Speed“
Jürgen von der Lippe beendete "Geld oder Liebe" und wechselte von der ARD zu Sat.1, wo seine neue Show "Blind Dinner" floppte. Das Erste sendete – vermutlich aus Versehen und auch nur kurz – die TV-Parodie "Kalkofe! Die wunderbare Welt des Sports". Sat.1 und RTL 2 hatten mit diversen Reality-Niederlagen zu kämpfen: Erst ließ sich die "Big Brother"-Kopie "Girlscamp" trotz moderativer Beteiligung einer gewissen Barbara Schöneberger nicht mehr retten; dann floh Margarethe Schreinemakers als Präsentatorin aus der quotenschwachen Abspeckshow "Big Diet".
Nach 104 Episoden ging bei RTL eine Ära zu Ende: die von "Dr. Stefan Frank", dem Arzt, dem die Frauen vertrauten (der Sender aber nichts mehr so). Bei Vox startete derweil der US-Krimi-Durchmarsch mit "CSI – den Tätern auf der Spur", ProSieben holte "Sex and the City" ins deutsche Free TV. Der aufstrebende Comedy-Autor Ralf Husmann versuchte seinen ersten Serien-Hit zu landen und schrieb – "Der Doc" für Ingolf Lück. Die Zeit der krawalligen Nachmittagstalks hatte trotz des Neustarts von "Britt – Der Talk um eins" ihren Zenith überschritten, "Hans Meiser" ging nach 1.700 Ausgaben vom Sender. Sonja Zietlow wechselte von Sat.1 zu RTL, um dort in der Primetime die klügsten Kinder, Lehrer und Bürgermeister zu testen, und "Richter Alexander Hold" zementierte in Sat.1 die neue Daytime-Dominanz der Gerichtsshows.
Währenddessen versenkte ProSieben mit "Desert Forges" erst eine Abenteuerspielshow und dann den frühen "Wer stiehlt mit die Show?"-Quiz-Vorläufer "Speed" mit Steven Gätjen, bei dessen Aufzeichnung ich damals zwecks Berichterstattung relativ ratlos in einem Münchner Studio stand und mich fragte, ob ich für meine journalistische Karriere nicht besser doch noch schnell auf einen seriöseres Hauptthema umschulen sollte. (Zu spät.)
Ein Fernsehjahr zum Medienmagazingründen
Anders formuliert: 2001 war ein Fernsehjahr, an dessen Ende man eigentlich gar nicht anders konnte, als ein neues Online-Medienmagazin zu gründen, um regelmäßig über die Turbulenzen in einer Branche zu berichten, in der es an Umwälzungen, Neuerfindungen und Überraschungen nicht mangelte – und die es schon deshalb verdient hatte, in ihrem Schaffen regelmäßig begleitet zu werden: wohlwollend und kritisch zugleich. Vor allem aber: nicht nur in Druckerzeugnissen, die durch ihre Erscheinungsweise oft viel zu spät dran waren, um das zu aufzugreifen, was zwischenzeitlich ins Programm hinein und manchmal auch schon wieder heraus gestürzt war.
Dass die Neuen nach dem eigenen verspäteten Start auch prompt die Chuzpe besaßen, der Branche 2001 frech als "Jahr der TV-Flops" vor Augen zu führen, ließ manchen möglicherweise nichts Gutes ahnen. Die Sorge hat sich glücklicherweise als unberechtigt herausgestellt.
Am Samstag ist Ihr Lieblingsmedienmagazin DWDL.de zwei Jahrzehnte alt geworden. 20 Jahre, das ist halb so lange wie Kabel eins schon "Rosins Restaurants" sendet (gefühlt). Eins ist das Geburtstagskind trotz längst hinter sich gelassener Volljährigkeit aber noch immer: ganz grün hinter den Ohren. (Überall sonst ja auch.)
Zum Geburtstag eine Rankingshow!
Programmchefs und Intendantinnen mögen gekommen und gegangen sein, Erfolgsformate wurden beerdigt und wieder wachgerüttelt, so manches Programm ist glücklicherweise gleich ganz aus der Erinnerung des Publikums verschwunden. (Wie die 2001 bei RTL und Sat.1 improvisierten Hochzeitsshow-Klone "Ich heirate einen Millionär" und "Wer heiratet den Millionär?") Aber auch nach zwanzig Jahren lohnt es sich nach wie vor, ein für die Flüchtigkeit seiner Momente bekanntes Medium regelmäßig mit geschriebenen Worten zu erfassen: in aktuellen Nachrichtenmeldungen, ausführlichen Hintergrundberichten, meinungsstarken TV-Kritiken, fundierten Quotenanalysen, tiefgründigen Porträts und motzigen Kolumnen.
Und wie ließen sich die Gründe dafür besser zusammenfassen als mit dem Schweizer Taschenmesser des deutschen Fernsehens: der Rankingshow!
Deshalb: Herzlich willkommen zu "Die 20 spektakulärsten Gründe, übers Fernsehen zu schreiben – im Jahr 2001 und heute". Sonja Zietlow ist leider schon in der mentalen Vorbereitung für die Dschungel-Premiere in Südafrika, deshalb müssten Sie mit mir als Micky Beisenherz des sonntäglichen Fernsehkolumnenfeuilletons Vorlieb nehmen (bloß weniger gut aussehend). Dafür steigen wir aber direkt ein:
Platz 20: Wegen Katharsis. Kaum etwas hat einen derart reinigenden Einfluss auf irritierte Zuschauerinnen und Zuschauer, die verstört aus einer abendfüllenden Show oder einem dampfenden Reality-Spektakel entlassen werden, wie eine flott das Gesehene destillierende TV-Kritik. (Sagen wir zum Beispiel: wenn die "Live-Entscheidung" einer großen Castingshow vor einem Reisebus auf dem Parkplatz eines Gewerbegebiets am Rande von Köln passiert.)
Mainstream und Nische in einem
Platz 19: Wegen der schönen Einschaltquoten. Jeden Morgen eine neue Mischung aus Soap und Krimi abzuliefern, ohne dafür irgendwas skripten zu müssen – das kriegt nur das Fernsehen hin. Welche Senderfamilie hat Grund zu jubeln? Welchen Formatstart haben die Zuschauerinnen und Zuschauer eiskalt abgemurkst? Und wo hat sich wieder ein Kleinstsender an den großen Geschwistern vorbeigemogelt? Die tägliche Quotenanalyse liefert das ganze Drama auf einen Blick. Ja, klar: Sie könnten sich die wichtigsten Zahlen auch selbst aus dem Videotext heraussuchen. Es hält Sie ja auch niemand davon ab, sich eine Wählscheibe auf Ihren Smartphone-Screen zu schrauben.
Platz 18: Weil Fernsehen Mainstream ist. Und es wie kein anderes Medium schafft, mit seiner Unmittelbarkeit Millionen von Menschen gleichzeitig zu unterhalten.
Platz 17: Weil Fernsehen Nische ist. Und in den Nischen an den Rändern der scheibenhaften Programmwelt, ganz kurz vorm Absturz ins Nichts, oft die kuriosesten, wagemutigsten, originellsten Ideen entstehen und Talente gedeihen. Wenn man etwas nachhilft, das Spotlight auf sie zu richten.
Platz 16: Weil kein anderes Medium so schlecht darin ist, sich selbst zu erklären. Oder kennen Sie ein TV-Magazin, das regelmäßig souverän über Ernsthaftes und Unterhaltendes der eigenen Branche berichtet? Eben.
Viele kleine lodernde Lagerfeuerchen
Platz 15: Wegen Nachhaltigkeit. Wiederverwertung war im Fernsehen schon in Mode, als anderswo noch niemand wusste, wie man Recycling buchstabiert. Bis heute werden immer wieder Formate aus dem Archiv geholt, die nach ein bisschen Abstauben doch noch gut sein müssten – und das Publikum schaltet dankbar ein. Fernsehen hat verstanden, dass niemand von ihm verlangt, sich ständig neu zu erfinden; sondern manchmal einfach nur, das schon Dagewesene nicht mehr ganz so alt aussehen zu lassen.
Platz 14: Weil Fernsehen verbindende Momente schafft. Das Gefühl, ein gemeinsames Erlebnis zu kreieren, war, ist und bleibt eine der größten Stärken des Fernsehens. Gegenprobe: Haben Sie das schon mal mit Twitter versucht?
Platz 13: Wegen des Goldenen Günters. Grimme-Preis, schön und gut. Aber das Medium braucht mehr Spielraum zur Bepreisung denkenswerter Ereignisse, insbesondere solcher, die – in Anlehnung an einen ehemaligen ARD-Programmdirektor – "ziemlich ui-jui-jui" sind.
Platz 12: Wegen Lagerfeuer. Zugegeben: Inzwischen mögen es viele Feuerchen sein, die alle eher auf kleinerer Flamme lodern – aber um die versammeln sich zahlenmäßig oft immer noch sehr viel mehr Menschen herum als um einen Influencer-Post auf Instagram.
Platz 11: Weil irgendwer Bescheid sagen muss, wenn die Konkurrenz wieder Sachen plant, die sonst noch keiner wissen soll. Wer wechselt demnächst zum bisherigen Erzfeind? Hängt das neue Logo schon an den Fahnenmasten vorm Sendezentrum? Und wer hat sich die Rechte an "The Masked Chancellor" geschnappt? Auf Pressemitteilungen zu warten ist langweilig, und per Eilmeldung liest sich so mancher bemerkenswerte Deal doch ohnehin viel flotter.
Das Heldenmacher-Medium
Platz 10: Weil Fernsehen der Motor der Wiederholung ist. Und Wiederholung – in der richtigen Frequenz – dafür sorgt, dass uns Dinge ans Herz wachsen.
Platz 9: Weil kein anderes Medium so souverän aus ganz normalen Leute Heldinnen und Helden macht. Leute, die mit Baggern Frisbees fangen. Sportlerinnen, die in Windeseile über aufgebaute Parcours turnen. Kandidaten, die zum Millionär werden, weil sie wissen, dass Europaletten aus elf Brettern bestehen. Kinder, die schneller schwimmen, turnen, dribbeln als ihre großen Sportidole. Und all die anderen, die das Fernsehen zu sich einlädt, um über ihr Talent zu staunen.
Platz 8: Weil Fernsehen der Motor der Wiederholung ist. Und Wiederholung dafür sorgt, dass uns … – ach, Sie wissen schon.
Platz 7: Damit jemand das Fernsehen in die Verantwortung nimmt. Vor allem dann, wenn es das selbst versäumt, wenn es übers Ziel hinaus schießt, den falschen Ton anschlägt, eigentlich schutzwürdige Protagonistinnen und Protagonisten der Lächerlichkeit preisgibt – all das, was eigentlich nicht passieren sollte. Und getadelt werden muss, damit es nicht mehr vorkommt.
Platz 6: Wegen des nie enden wollenden Trubels. Dem vor, aber vor allem dem hinter den Kulissen. Weil dieser Trubel oft genauso bestaunenswert ist wie das Programm. Oder was hätten Sie gesagt, wenn ich Ihnen vor einem Jahr erzählt hätte, dass RTL sich bald von Dieter Bohlen trennen und superseriös werden will?
Live ist alles möglich
Platz 5: Weil in jeder und jedem von uns eine kleine Intendantin bzw. ein kleiner Intendant steckt. Fernsehkolumnen-Fuzzis wissen von Berufs wegen nicht nur immer alles besser. Sie sind auch noch so unverschämt, sich nicht erst in den Chef- bzw. Chefinnen-Sessel wählen zu lassen, bevor sie ihre Weisheiten verbreiten.
Platz 4: Um Programmverantwortliche morgen an das zu erinnern, was sie gestern erzählt haben. Wenn große Ambitionen urplötzlich ganz klein werden, vollmundig versprochene Innovationen auf sich warten lassen oder überzeugt vorgetragene Programmstrategien nicht die gewünschte Wirkung entfalten, ist es immer hilfreich, sich auch noch beim nächsten Interview daran zu erinnern – und ganz höflich nachzuhaken, was da eigentlich schief gelaufen ist.
Platz 3: Zur Beitrags-Kontrolle. Was stellen ARD und ZDF mit dem hübschen Sümmchen an, das wir ihnen monatlich überweisen? Welche Art von Programm können wir deswegen erwarten? Und welches sollten die Sender besser sein lassen? Der Auftrag des öffentlich-rechtlichere Rundfunks lässt (bislang) große Interpretationsspielräume. Um so wichtiger ist es, regelmäßig darüber zu diskutieren, ob er auch tatsächlich erfüllt wird. Alleine schon, um das nicht den Populisten und Systeminfragestellern zum überlassen.
Platz 2: Wegen Live. Im Live-Fernsehen kann alles passieren. Das ist für alle Beteiligten ein ungeheures, aus Sicht der Veranstaltenden eigentlich nicht zu verantwortendes Risiko. Und exakt deshalb so genial, weil sich dieser Nervenkitzel bestenfalls aufs Publikum zuhause überträgt.
Platz 1: Ganz einfach – weil wir Fernsehen lieben. Und man das, was man liebt, sonst ja auch nicht einfach sich selbst überlässt. Deshalb: Happy Birthday, DWDL.de – und danke, Fernsehen, für die vielen guten Gründe, dich nicht aus den Augen zu verlieren!
Und damit: zurück nach Köln.