66 Millionen Jahre ist es her, dass die Dinosaurier ausstarben, und die Wissenschaft ist bislang uneins, durch was: Asteroideneinschlag? Vulkanausbruch? Neues James-Blunt-Album? Alles auf einmal? Fest steht bloß, dass die Urzeit-Reptilien heute lebendiger denn je sind: Museen und Parks haben wir gebaut, um an sie zu erinnern. Wir haben sie zu Filmstars gemacht, Enzyklopädien über ihre Ernährungs- und Verdauungsgewohnheiten verfasst, es gibt sie als Waschlappen, Radiergummis, Nachttischlampen zu kaufen. (Letztere kann ich nur wärmstens empfehlen.)
Und vielleicht blüht den Show-Dinos jetzt einfach dasselbe: Die Unsterblichkeit?
Am gestrigen Samstagabend jedenfalls ist der Brachiosaurus der TV-Unterhaltungsklassiker wieder durchs Hauptabendprogramm des ZDF gestapft – sieben Jahre nach seinem Ableben. Und hat, aller Dinohaftigkeit zum Trotz, tiefe Fußspuren in der öffentlichen Wahrnehmung hinterlassen.
Alles wie immer und so wahnsinnig langsam
Auf einem viel zu großen Sofa saß ein Haufen älterer Leute und erzählte abwechselnd sich und den jüngeren von früher, vorher wurden der Oberbürgermeister von Nürnberg und der Programmdirektor von Mainz begrüßt, am Ende gab es Blumensträuße für die Damen und zwischendurch fing ein Bagger Frisbees mit der Schaufel, Kandidatinnen erkannten "Yellow Submarine" am Toilettenbürstenkratzen im passenden Takt, der spätere Wettsieger warf Dartpfeile auf Länder, ohne die dazu gehörige Weltkarte zu sehen, Helene Fischer guckte ängstlich, die Herren von ABBA mussten wirklich zum Flieger, und Thomas Gottschalk vergaß ein paar Namen, Anschlüsse und dass er anderswo im Fernsehen gar nicht so penetrant anzügliche Witze machen muss, um unterhaltsam zu sein.
Alles war wie immer, und gleichzeitig so wahnsinnig langsam, dass man schon nach einer Dreiviertelstunde, als gerade ein süßer Hund enthusiastisch Verpackungsmaterialien in die richtigen Mülltonnen trennte, eine sehr konkrete Ahnung davon bekam, warum diese Art der TV-Unterhaltung irgendwann ausgestorben ist.
Am späteren Abend halfen Joko und Klaas dann trotzdem noch bei der gemeinschaftlichen "Wetten dass..?"-Exegese, und Show-Erfinder Frank Elstner forderte Gottschalk auf: "Rede mit dem Programmdirektor vom ZDF!" – damit sich die Nation künftig einmal jährlich kollektiv an eine Zeit erinnern kann, in der samstagabends im Live-Fernsehen noch nicht eingeblendet werden musste, dass alle Anwesenden geimpft, genesen oder getestet sind.
Erst die Exhumierung, dann das Event
"Unser Plan ist, dass es ein einmaliger Event bleibt", hatte sich ZDF-Unterhaltungschef Oliver Heidemann zuvor im DWDL.de-Interview schon mal alle Optionen offen gehalten. Wohingegen Gottschalk per "Hörzu" verlauten ließ: "Eine jährliche Ausgabe war das, was ich dem ZDF zu meinem Abschied angeboten und empfohlen hatte. Man hat dort anders entschieden, und jetzt ist der Zug, glaube ich zumindest, abgefahren." Aber notfalls wird sich da sicher noch die ein oder andere Weiche stellen lassen.
Schließlich ist unübersehbar, wie sehr die Klassiker des deutschen Unterhaltungsfernsehens gerade eine Renaissance feiern – nicht in der alten Frequenz, dafür aber als herausgeputzte "Events", der universellen Verteidigungswaffe des linearen Fernsehens gegen die Streaming-Konkurrenz, bei der sonst bingegewatched wird, bis der Optiker kommt.
Die TV-Sender wehren sich gegen Netflix, Disney+ & Co. mit dem, was sie am besten können: dem wohligen Gefühl der Vertrautheit, ihrem Publikum einen unbeschwerten Abend zu bereiten. Im Sommer hat das ZDF jubiläumsbedingt bereits "Dalli Dalli" und die "Hitparade" exhumiert. Und in zwei Wochen lädt Sat.1 erneut zum Zocken bei "Geh aufs Ganze!", 24 Jahre nachdem die letzte Sendung im Programm lief. Gemeinsam mit Daniel Boschmann als Moderator darf Tor-Hüter und Zeremonienmeister Jörg Draeger wieder Gewinne und Zonks unters Publikum bringen, diesmal aber nicht im Vorabendprogramm, sondern zur besten Sendezeit am Freitagabend in drei Spezial-Ausgaben.
Eine Zeit, die irgendwie besonders war
Dass er dafür noch in Form ist, bewies Draeger vor ein paar Wochen bei "Promi Big Brother", als er vor seinem Einzug als Kandidat einem Freiwilligen aus dem Publikum demonstrieren durfte, wie er vor einem Vierteljahrhundert Leute im Fernsehen aufs Glatteis führte: Kurzer Blick auf die Moderationskärtchen, dann weg damit, "Brauch ich nicht, danke" – und los ging's.
"Ich hab dir'n Auto weggenommen, 'ne Reise weggenommen, deine Unschuld weggenommen – ich hab dir alles weggenommen", fasste die "Sat.1-Moderatorenlegende" anschließend ihren Job von früher zusammen, bevor sie ihn weggenommen bekam. Doch Draeger hat auch gegeben – nämlich einer ganzen Generation von Zuschauerinnen und Zuschauern, die mit dem Privatfernsehen aufgewachsen sind, das Gefühl, sich an eine Zeit erinnern zu können, die irgendwie besonders war.
Daran anzuknüpfen, ist für die Sender, die sich zunehmend auf ein älteres Publikum einstellen müssen, bloß folgerichtig. Und die Wiederbelebungsversuche müssen ja nicht unbedingt den Originaltitel der Shows tragen, von denen sie unübersehbar inspiriert worden sind.
Wenn Bruce Darnell in seiner neuen ProSieben-Sendung "Surprise!" ab Dezember Gästen "unvergessliche Momente" schenkt, indem er sie mit Hilfe befreundeter Lockvögel überrascht, wird der Geist von Rudi Carrell über allem schweben: abwechselnd rauchend, "Lass dich überraschen" summend und mahnend, wie das damals bei der "Rudi Carrell Show" viel besser gelaufen ist.
Bei seiner versuchten Linda-de-Mol-Werdung hat sich Guido Maria Kretschmer mit seiner Vox-Sendung "Guidos Wedding Race" verkalkuliert, die aller Traumhochzeitigkeit zum Trotz nach nur einer Folge schon wieder abgesetzt wurde.
Wie "Flitterabend", aber 2021 und mit Schmitz
Und als Ralf Schmitz bei Sat.1 im September erstmals zum Pärchen-Wettstreit "Paar Wars" lud, war das streckenweise eine einzige Reminiszenz an Michael Schanzes "Flitterabend", wo frisch Verheiratete in den 90er Jahren in den "Siebten Himmel" gegurtet wurden, um bei der Falschbeantwortung von Fragen nach vorne in ein Kissenpolster zu kippen. In der von Ralf Schmitz moderierten 2021er-Variante (hier bei Joyn ansehen) bekam das Spiel wechselnde Namen und Kulissen verpasst (Dschungel, Romeo-und-Julia-Balkon, Titanic), und anstatt die Kandidatinnen und Kandidaten tippen zu lassen, wieviele Prozent der Männer in der Halle nachts heimlich an den Kühlschrank gehen, fusionierte die Redaktion das große Kippen einfach mit dem "Flitterabend"-"Übereinstimmungsspiel", bei dem die Paare möglichst viele gleiche Antworten zu ihren Beziehungsgewohnheiten geben sollten. ("Welches Körperteil mag euer Partner an euch am liebsten?")
"Es ist kein Spiel, es ist eine Prüfung", erinnerte Ralf Schmitz zwischendurch penetrant. Aber die Frauen ihre Männer daran erkennen zu lassen, wie sie die Spülmaschine einräumen, Hemden falten, Geschenke einpacken, Kartoffeln schälen und Betten machen, hätte in seiner ganzen Harmlosigkeit auch hervorragend in Schanzes "Flitterabend" von vor dreißig Jahren gepasst.
(Obwohl die Wohnzimmer-Boxen, in denen die Paare zu Beginn der Sendung sitzen, natürlich aus Mike Krügers "Vier gegen Willi" entliehen sind, das die Gute Stube der damaligen Kandidatenfamilien tatsächlich vor der Sendung mit dem LKW abholen und im Studio wieder aufbauen ließ.)
Keine Reanimations-Garantie
Vielleicht gibt es eine Sehnsucht des Publikums nach der Harmlosigkeit längst vergangener TV-Zeiten; das Goldene Zeitalter der Show-Unterhaltung wird sich in dieser Form aber kaum mehr replizieren lassen. Dafür haben sich die Gewohnheiten des Publikums doch zu nachhaltig geändert. (Wenn man mal vom anhaltenden Erfolg von "Verstehen Sie Spaß?", der Kakerlake des deutschen TV-Entertainments, absieht.)
Manche Elemente der Klassiker sind ganz selbstverständlich in den regelmäßigen Branchengebrauch übergegangen: Permanent müssen Kandidatinnen und Kandidaten wie einst in der "100.000 Mark-Show" irgendwo einen Heißen Draht überwinden, um Gewinne zu erspielen; und als Luke Mockridge in einem Spezial seiner "Greatnightshow" im vergangenen Jahr das Fernsehen feierte, stand plötzlich wieder Werner Schulze-Erdel auf der Bühne und lud zum "Familien-Duell" zwischen Mockridges und der Familie Hausmeister Krause.
Garantien für erfolgreiche Reaktivierungen gibt es aber nicht. Der Versuch von Nitro, "Tutti Frutti" zurückzuholen (ebenfalls mit Jörg Draeger, übrigens), ging im Programm weitgehend unter – zu sehr war die Ursprungsidee an die Zeit gekoppelt, in der sie als Privatfernsehen-Provokation ihre größten Erfolg feierte (eine tolle Rekapitulation dazu gibt's bei "Zapping for Freedom"). Wenn das Erste heute versuchen würde, "Geld oder Liebe" neu aufzulegen, wäre das vermutlich ebenfalls zum Scheitern verdammt – weil bei der munteren Sofaflirterei von damals für heutige Gewohnheiten viel zu wenig passieren würde.
Und wie sich ProSieben mit der Neuauflage von "TV total" schlägt, dessen Titel-Trägermedium als Hauptreferenz im Jahr 2021 arg gewagt wirkt, wird hochinteressant zu beobachten sein.
Spielfreude ist auch mit 76 ansteckend
Womöglich müssen sich auch eingeschworene Nostalgiker daran gewöhnen, dass die Show-Klassiker von früher so untrennbar mit denen verbunden sind, die sie präsentiert haben, dass die Wiederkehr schon aus Altersgründen irgendwann schwierig wird.
Gut, Gottschalk ist 71 und kann sich locker noch ein paar Jahre auf Mallorca mit dem Streitwagen in die Showarena einfahren lassen, wenn man es in Mainz so entscheidet; und als 1945er-Jahrgang wusste Jörg Draeger schon bei "Promi Big Brother", dass alle, die ihn jetzt im Fernsehen sehen, "viel jünger als ich" sein werden – aber das ändert ja nichts daran, dass Spielfreude auch mit 76 noch ansteckend sein kann. Die Unsterblichkeit kommt, wie bei den Dinosauriern, dann in der Erinnerung. Oder wie Gottschalk am Samstagabend zum Achtjährigen aus der Kinderwette sagte: "Du bist im Fernsehen – weißt du noch, was das ist?"
Und damit: zurück nach Köln.
Die drei neuen Folgen von "Geh aufs Ganze!" laufen ab 26. November freitags um 20.15 Uhr in Sat.1.