Die folgende Kolumne ist nicht für Leserinnen und Lesern unter 16 Jahren geeignet.
Wenn Sie ein Naturereignis sein dürften, welches würden Sie sich aussuchen? Tim Mälzer wäre: der Vulkan. Nicht annähernd so gefährlich wie der "Alte Höhenrücken" Cumbre Vieja, der seit einem Monat auf La Palma Lava speit. Aber für beide gilt: Ein Ende der Eruption ist derzeit nicht absehbar.
Niemand explodiert so verlässlich ins deutsche Fernsehen hinein wie der Pinneberger, der inzwischen auf eine fast zwei Jahrzehnte dauernde Karriere als Fernsehkoch zurückblicken kann. Perfektioniert hat Mälzer seinen Ruf als King of Kurzschluss aber erst mit seiner vor fünf Jahren gestarteten Vox-Show "Kitchen Impossible", in der sich die deutsche Spitzengastronomie gegenseitig in ferne Länder verschifft, um dort kulinarische Spezialitäten ohne Rezept möglichst originalgetreu nachzukochen und von einheimischen Stammgästen bewerten zu lassen.
Als die Dreharbeiten Corona-bedingt vorübergehend eingeschränkt waren, zeigte Vox im vorvergangenen Frühjahr statt neuen Reisen ein Best-of der "Größten Ausraster", was Mälzer im eigenen Format noch mehr Sendezeit bescherte als ohnehin schon.
Mutwillig herbei geführte Stresssituationen
Nun würde es auch sehr viel durchschnittlichere Menschen wie Sie und mich vermutlich nervös machen, wenn wir uns in Usbekistan beim Teigtaschen-Einsatz in einen über 1000 Grad heißen Tandur-Ofen die Unterarme verbrutzeln würden; oder in den Niederlanden von jetzt auf gleich feinste Patisserie beherrschen sollten; oder in Rumänien alleine rausfinden, dass die traditionellen Polentaknödel direkt in der Glutasche gegart werden; oder in Peru unter Zeitdruck neuen Pulpo auftreiben.
Mälzer aber hat die kamerabegleitete Blitzableitung solcher mutwillig herbei geführten Stresssituationen zu seinem Markenzeichen gemacht.
"Fickscheißeverdammtedrecksrotze", schimpft er, wenn er sich wieder eine über Jahrhunderte gepflegte Kochtechnik im Nirgendwo draufschaffen muss. Oder: "Den Teig soll ich selber machen? Wollt ihr mich verarschen?", "Was ist'n das für 'ne Aufgabe?", "Ich bin gerade wirklich genervt", "Ich versteh' den Sinn nicht", "Das ist Psychoterror", "Was ist bei euch kaputt in der Birne?", "Warum soll ich mich zerficken?", "Das seh' ich nicht ein", "Das wird Narben hinterlassen", "Backen und kochen in einem kotzt mich an", "Jetzt überschreiten wir hier gerade eine Grenze", "Ich sag' dir, Dicker: Bis hierhin und nicht weiter".
Der 50-Jährige ist ein pausenlos aufgeführtes Musical aus emotionaler Eskalation und Selbstüberschätzung, und das weiß er am allerbesten selbst. "Ich hab'n leichten Drang zum Übertreiben beim Jammern", gesteht er zwischendurch ein, und: "Man sieht mir meinen Gemütszustand direkt unter den Augen an." Nicht nur auf Reisen, sondern auch, wenn er sich den Kollegen Steffen Henssler ins heimische Revier an den Herd bestellt.
Der Ton noch ein bisschen rauer
Die beiden Hamburger Alphaköche necken sich schon seit längerem mit gegenseitigen Besuchen in ihren Formaten. Mit "Mälzer & Henssler liefern ab!" hat ihnen ihr Haussender Vox aber erstmals eine gemeinsame Sendung gegeben. In der wird – natürlich – wieder um die Wette gekocht, diesmal aber für ganz normale Gäste, deren Geschmack von den beiden möglichst treffgenau erraten werden muss, um sie mit spontan erdachten Lieferservice-Gerichten zur Punktevergabe zu animieren.
Von "Kitchen Impossible" mag dieser eher improvisiert klingende Spaß nicht nur bildkompositorisch Welten entfernt sein; er hat aber einen höheren Unterhaltungswert als es sich zunächst anhört, weil die lose in den Kochprozess eingestreuten Hinweise, welche Speisen erwünscht und welche Zutaten verpönt sind, die Profis immer wieder zum Umplanen und Neudenken zwingen. Und zwar, während zwischendurch auch noch hungrige Promi-Gäste wie Ina Müller, Smudo und Wigald Boning in reinplatzen, um Zwischenmahlzeiten einzufordern.
Schon in der ersten Ausgabe war der Ton deshalb noch ein bisschen rauer als sonst: "Habt ihr euch mal die Rotze angesehen, die der Henssler da zusammenkloppt?", ätzte Mälzer gegen den Konkurrenten. "Ganz ehrlich: Bei dem Gewichse kann ich mir nix abgucken", und: "Ich bin kurz davor, dir auf die Fresse zu hauen – das ist ein Zeichen von Respekt". Dafür war er sich mit gut verstecktem Augenzwinkern der eigenen Künste sicher: "Die ganze Zeit koch' ich wie Michelangelo als er die Kirchendecke bemalt hat!", "Wenn ich nicht so schön anrichten würde, müsstet ihr euch alle entschuldigen, dass das 'ne kulinarische Sendung ist", "Was ich heute abgeliefert hab, war schwerste Arte-Qualität" – im Gegensatz zur "Bumsbacke Henssler", die da mit ihrem "Lumpenfressen" "so einen kulinarischen Wolpertinger hingekloppt" hat.
Aber halt einen, der der den belieferten Gästen am Ende besser schmeckte, was Mälzer sichtlich zum Verzweifeln brachte.
Bis in die Pfannengriffe motivierte Widersacher
Episode zwei geht etwas ruhiger los, schließt dann aber nahtlos an das Getobe an: "Ich hab' schon Essen hinfallen lassen, das sah besser aus", lästert Mälzer über das Gewerk seines Gegenübers und setzt erneut zum Höhenflug der Selbstüberzeugung an ("Das war mördergekocht, ich kann mir nichts vorwerfen"), um sich von der Lieferessenrealität einholen zu lassen ("Drei Punkte? Das hat mich verletzt. Ich war persönlich angegriffen").
Der zweite Namensgeber der Sendung steht dem in nichts nach, schimpft, spottet und flucht lustvoll mit ("Hör ma' zu, Arschgeige", "Du bist so eine Schlampe", "Du verschissener Nachmacher") und obwohl bzw. weil das alles so gar nicht jugendfrei ist, womit Vox sein Publikum da in die neue Woche entlässt, ist "Mälzer und Henssler liefern ab!" die meiste Zeit unterhaltsam anzusehen – zumal zwischendurch doch immer mal wieder Fairness und gegenseitige Rücksichtnahme durchschimmern, bevor sich die alte Schlampe und die Bumsbacke am Ende quasi einig sind: "Wenn wir nicht aufpassen, werden wir noch Freunde."
Das ist einerseits ein schönes Indiz dafür, dass Fernsehen für gutes Entertainment manchmal gar keine besonders aufwändige Kulisse braucht – sondern im Zweifel bloß eine simple Grundidee und zwei bis in die Pfannengriffe motivierte Widersacher, die nach gemeinschaftlicher Küchenzerstörung zusammen im Wagen durchs sonnendurchflutete Hamburg cruisen, um ihre Spontankulinarik zeitgemäß ans hungrige Volk zu bringen. (Fortsetzung folgt auf jeden Fall.)
Mach ich nicht, seh' ich nicht ein
Andererseits verfestigt sich beim Zusehen endgültig der schon seit längerem brodelnde Eindruck, dass manche Eruption inzwischen arg berechenbar daherkommt.
"Mach ich nicht, seh' ich nicht ein", schimpft Mälzer bei "Kitchen Impossible", wenn er keinen Bock auf eine ihm gestellte Aufgabe hat, in hundert Variationen: "Gibt es heute noch'n Flieger zurück?", "Ich werd's nicht kochen, das macht keinen Sinn", "Wozu soll ich mich quälen? Ich glaub ich brech' ab", "Gibt nix. Abbruch. Null Punkte. I don't do this." Und auch bei "Mälzer und Henssler liefern ab!" taucht wieder eine ähnliche Situation auf, als Mälzer einsehen muss, dass sein Mitbewerber allen ihm zugeschriebenen Unzulänglichkeiten zum Trotz die besseren Wertungen für sein Essen erhält. Bockig kocht Mälzer in der nächsten Runde drauf los, ignoriert sämtliche Hinweise und lässt sich auch nicht von den Beschwichtigungen des Gegners wieder einfangen: "Jetzt sei nicht so 'ne Pussy, Alter." So lange, bis seine schlimmen dreißig Minuten halt wieder rum sind.
Zuvor hat Mälzer schon ein ganzes Stakkato an Selbstzufriedenheiten abgefeuert ("Du brauchst nicht anrichten. Ist geil bei mir") und anschaulich dargelegt, dass es von "Ich koch' wirklich richtig gutes Zeug – ohne Wenn und Aber" bis "Ich bin richtig ratlos – ich weiß nicht, was die Leute essen wollen" bloß ein Katzensprung ist.
Der Typ, der sich nicht zu verstellen braucht
"Küche, weißt du. Da muss das auch mal raus", erklärt er zwischendrin das ganze Geschimpfe. Und vielleicht geht's Ihnen anders, aber bei mir machen sich so langsam gewisse Abnutzungserscheinungen dieser Masche breit, weil sie in ihrer Wiederkehr inzwischen so routiniert wirkt. Das ist auch für Mälzer schade, weil er sich so viel stärker auf die Rolle des kochenden TV-Rumpelstilzchens versteift als er es eigentlich nötig hätte.
Es sagt ja niemand, dass er seine "wilden Zeiten" verleugnen oder seine "geistreiche Prolethenhaftigkeit" (Mälzer über Mälzer) abstellen soll; aber vielleicht würde es schon helfen, sie eher so einzusetzen wie ein besonders intensives Gewürz beim Kochen: in leichter verdaulichen Maßen. Dann könnte er im Fernsehen noch öfter seine anderen Stärken ausspielen: ein bisschen so wie bei der "Mälzer & Sasha Show", die RTL im Frühjahr 2020 zweimal live sendete und bislang nicht fortgesetzt hat, obwohl sich das mit einigen Feinjustierungen durchaus anböte; oder wie die Überraschungsmoderation von "Denn Sie wissen nicht, was passiert" als Ersatz für Günther Jauch dieses Jahr; oder wie in der Jury des RTL-Formats "I Can See Your Voice", wo er sich beim Raten in gewohnter Weise aus dem Fenster zu lehnen traute.
Mälzer hat ein Gespür für Menschen (okay: so lange die kein Lieferessen bei ihm bestellen), Mälzer hat Timing, vor allem aber hat Mälzer: so richtig Bock, sich reinzuhängen, um was zu reißen. All das mag schon in der Gastronomie wahnsinnig wertvoll sein; in der Entertainment-Branche ist es – pures Gold. Jedenfalls wenn man es nicht dauerhaft hinter überinszenierter Rumpeligkeit verschwinden lässt.
Eigentlich ist Mälzer der Typ, der sich im Fernsehen nicht zu verstellen braucht, weil er – egal wie man ihn findet – authentisch wirkt; dass er trotzdem aus irgendeinem Grund das Gefühl hat, immerzu noch einen draufsetzen zu müssen, ist ein kleines Rätsel.
Mehr emotionale Ausgewogenheit
Vor allem, weil es ja auch anders geht. Zu Beginn der Corona-Krise, als der Lockdown das öffentliche Leben über mehrere Wochen zum Erliegen brachte, saß der Gastronom Mälzer bei "Markus Lanz" im Studio und ließ sich dort vor laufender Kamera von den Realitäten für seine Branche einholen. Arbeitsminister Hubertus Heil hatte gerade erklärt, dass die Restaurants noch eine ganze Weilt geschlossen bleiben würden müssten – und Mälzer war angesichts der unerwarteten Deutlichkeit dieser Ansage den Tränen nahe: "Ich geh' mal kurz raus, ehrlich", überraschte er den Gastgeber mit zitternder Stimme, blieb dann aber doch sitzen und erklärte später sichtlich angefasst: "Ich schaff' es nicht mehr, mich schützend vor meine Mitarbeiter zu stellen." Um damit auf den Punkt zu bringen, wie es vielen in seiner Branche (und anderen) zu diesem Zeitpunkt ging.
Wie gut stünde es dem "Anführer des Hinterfotzigen" (Koch-Kumpel Tim Raue über den Entertainment-Mälzer), wenn er sich zwischendurch öfter zusammenreißen würde, um sich auch im Fernsehen darauf zu konzentrieren, was seine Gäste vom Besuch eines seiner Restaurants erwarten würden: eine gewisse emotionale Ausgewogenheit.
Oder wie es Mälzer heute Abend selbst formuliert: "Ich kann gar nicht anders, als mir Mühe zu geben." Prima: kann losgehen!
Und damit: zurück nach Köln.
Vox zeigt die zweite Ausgabe von "Mälzer und Henssler liefern ab!" an diesem Sonntag ab 20.15 Uhr; die Premieren-Episode ist bei TV Now abrufbar.