Die politischen Jahreszeiten haben oft wenig mit ihren meteorologischen Verwandten gemein, und deshalb war in der zurückliegenden Woche für Armin Wolf Zeit zum Angrillen – mitten im Oktober. Am Mittwoch saß der ORF-Moderator in der aus deutscher Sicht verwirrend majestätischen K.-u.-K.-Kulisse am Wiener Ballhausplatz dem frisch ins Amt improvisierten österreichischen Überraschungskanzler Alexander Schallenberg gegenüber und drehte in dessen Premieren-Roast langsam, ganz langsam die Hitze hoch.
Hat er sich schon an die neue Anrede gewöhnt? Warum ist er nicht ins Büro seines Vorgängers gezogen? Zögern sei keine Option gewesen, hat er gesagt, als er den Job angeboten bekam – "war Neinsagen eine?"
Kurze Zeit später hatte Schallenberg schon den Anfängerfehler gemacht, seine vorher zurechtgelegten Metaphern zu schnell zu verfeuern, was ihm im weiteren Verlauf des Interviews keine andere Wahl ließ, als permanent dieselben Floskeln zu wiederholen: "Ich bin am Montag erst angelobt worden", "Ich habe großes Vertrauen in die Justiz", "Ich will das Regierungsschiff wieder in ruhigere Gewässer steuern".
Gespräch mit tatsächlichem Erkenntnisgewinn
Aber da hatte Wolf den Neuen mit seinem Fragen längst am Spieß, brachte ihn bei der Erklärung seiner ersten bereits getätigten Fehltritte ins Schlingern und ließ ihn schlagzeilenfertig das künftige Verhältnis zu seinem als "Schattenkanzler" geführten Wegbereiter erklären – um zwischendurch ruhig, aber sehr bestimmend zu widersprechen, zu korrigieren und Ablenkungsversuche zu enttarnen: "Sie wissen, dass es so nicht gemeint war", "Warum haben Sie das nicht so gesagt?", "Herr Bundeskanzler, das stimmt ja nicht!"
Diese 29 Minuten waren ein einziges großes Argument dafür, politisches Spitzenpersonal nicht von Studio-, Redaktionsleiterinnen oder gelegenheitsmoderierenden Chefredakteuren interviewen zu lassen – sondern von Journalisten wie Wolf, der jahrelange Erfahrung damit hat, sich nicht in Routineabfragen zu verlieren und politische Gespräche so zu führen, dass sie einen tatsächlichen Erkenntnisgewinn liefern.
Vor allem aber war an diesem Mittwochabend nicht nur ausreichend Zeit dafür, das vollständige Schallenberg-Interview im eigens dafür verlängerten ORF-2-Hauptnachrichtenjournal "ZIB 2" zu zeigen; sondern auch, um es anschließend auch live im Studio analysieren zu lassen, bevor noch der Finanzminister ins Kreuzverhör zur Budgetrede kam. (Außer für die Zuschauerinnen und Zuschauer von 3sat, die nach einer halben Stunde mit "Alles Liebe aus Wien" verabschiedet wurden, damit die neue Folge von "Der Pass" rechtzeitig abgefahren werden konnte.)
Nachtblau durchs Regierungskrisenfeuerwerk
Während im politischen Berlin in den vergangenen Tagen alle damit beschäftigt waren, im Zuge der Koalitionsanschmusung öffentlich möglichst wenig Drama zu veranstalten, hatte man sich in Wien in der gleichen Zeit entschieden, ein ordentliches Regierungskrisenfeuerwerk abzufackeln. Und nicht nur aus deutscher Sicht war es eine lehrreiche Erfahrung, zu beobachten, wie das Fernsehen im Nachbarland journalistisch damit umgeht. Zum Beispiel so wie in der "ZIB 2"-Redaktion: mit größtmöglicher Gelassenheit.
Und obwohl es erschöpfende Tage gewesen sein müssen vom Bekanntwerden der Hausdurchsuchungen in ÖVP-Parteizentrale und Bundeskanzleramt bis zur Notrettung der türkis-grünen Koalition durch den Sturzrücktritt des Kanzlers und der ersten Regierungserklärung des nächsten, lässt sich den "ZIB 2"-Verantwortlichen in Wien bescheinigen, in dieser Ausnahmesituation eine Sendung abgeliefert zu haben, die als gänzlich untadelig einzustufen ist.
Maximal unvirtuelle Tageseinordnung
Zumindest aus Sicht der deutschen Fernsehbeobachtung, in der sich im Vergleich mit den eigenen Nachrichten-Usancen am späten Abend so manche Besonderheit ausmachen lässt. Zuallererst nämlich, wie einfach es sein kann, ein auf 30 Minuten angelegtes aktuelles Format bei Bedarf auf die doppelte Sendezeit zu verlängern, wenn es die Lage hergibt, um alle Berichte und Gespräche unterzubringen, die dem Publikum dabei helfen, die Ereignisse des Tages einzuordnen.
Oder wie hilfreich, Gästen aus Politik und Medien beim Interview im Studio direkt in die Augen sehen zu können, anstatt für den Splitscreen frontal in die Kamera oder nach links ins leere Studio, weil da von der Regie der Bildausschnitt mit dem zugeschalteten Gast hingetackert wird. Oder wie entlarvend, Abend für Abend wieder zu erwähnen, welche Politikerin und welcher Politiker nicht im Studio sitzen wollte ("hat unsere Einladung heute leider nicht angenommen", "wollte leider nicht zu uns kommen").
Mit der langweiligen Schlichtheit ihres maximal unvirtuellen Nachrichtenstudios, in dem sich weit und breit kein warmer Holzton durchzuschimmern wagt, und dem einen Kameraschwenk von der linken auf die rechte Videowand während der Anmoderation zu Beginn jeder Ausgabe mag die "ZIB 2" nicht gerade wie ein State-of-the-Art-Exemplar des modernen Nachrichtenjournalismus wirken.
Aber vielleicht ist genau das auch die Stärke dieses Studioformats, das viel konsequenter als seine deutschen Pendants auf live geführte Interviews und Analysen setzt. Und das den klassischen Korrespondentenbeitrag zumindest in der vergangenen Woche allenfalls benötigte, um auch noch zu erklären, was es mit dem vom polnischen Verfassungsgericht provozierten EU-Affront auf sich hat und wie es nach den Turbulenzen um die Wahl im Nachbarland Tschechien weitergeht.
Der Restkontinent ist auch noch da
"Ein bisschen was hat sich auch außerhalb Österreichs noch getan", moderierte Lou Lorenz-Dittlbacher am vorvergangenen Freitag den anderthalbminütigen Meldungsblock gegen Ende der Sendung an und widerstand pflichtschuldig der Versuchung eines Augenzwinkerns.
Und womöglich ist es schon aus Gründen des Selbstkorrektivs ganz heilsam, zu sehen, dass die politischen Vorkommnisse in Berlin den österreichischen Kolleginnen und Kollegen in den vergangenen Tagen exakt zwei Kurzmeldungen wert waren: "In Deutschland hat Armin Laschet seinen Rücktritt angedeutet" und "In Deutschland sollen die Sondierungsgespräche für eine Ampel bis Freitag abgeschlossen sein." Was, wenn wir mal ganz ehrlich sind, die Ereignisse der vergangenen Woche doch erschöpfend zusammenfasst – auch wenn durch die Sondierungsdauerbegleitung im Inland ein völlig anderer Eindruck entstanden sein mag.
Selbstverständlich lässt sich kritisieren, in welch – trotz Regierungskrise – erschöpfendem Maße es der "ZIB 2" fast ausschließlich um innenpolitische Verwerfungen geht, ohne dann noch Zeit zu haben, über den Rand des eigenen Kontinents hinaus zu blicken, der im Hintergrund aus der Weltraumperspektivenkulisse nüchtern an seine Existenz erinnert.
Was sagt die Politikwissenschaft dazu?
Eventuell ist es sogar zuviel des Guten, an solchen Abenden auch noch Deutungsduelle von Kanzler-Biografen zu veranstalten, wie gerade geschehen. (Wobei sich der dazu eingeladene "Bild"-TV-Politprofi Paul Ronzheimer von der gänzlich unaggressiven "ZIB 2"-Studiostimmung derart runterzähmen ließ, dass Wolf ihn explizit dazu anstacheln musste, Kurz in drei Jahren die Kanzlerschaft zurückzuprognostizieren: "Ich wette mit Ihnen um eine Flasche Wein!")
Aber genauso gut ließe es sich in Hamburg, Mainz und Köln natürlich als Impuls verstehen, dass die Kolleginnen und Kollegen in Wien es für gebotener halten, das politische Tagesgeschehen in ihrer Sendung von Politikwissenschaftlern und Verfassungsjuristen analysieren zu lassen, anstatt Vollständigkeit suggerierend auch noch durch Börse, Lottozahlen und Sport hecheln zu müssen.
Vor allem, wenn unterm Strich dann sensationelle 30 Prozent Markanteil stehen (siehe dazu das stets empfehlenswerte DWDL.de-Austria-Update des Kollegen Timo Niemeier).
"Nicht alle Aussagen, die wir gerade gehört haben, waren leicht zu verstehen – es gibt einiges, was wir übersetzen müssen", versprach Moderatorin Lorenz-Dittlbacher vor ein paar Tagen – und ließ anschließend wieder den im Dauereinsatz arbeitenden Peter Filzmaier, Professor für Demokratiestudien und Politikforschung, gut gelaunt erklären, was Bundespräsident Alexander Van der Bellen in seiner Rede nicht explizit gesagt, aber gemeint hat, wo es sonst noch "Signale zwischen den Zeilen" zu lesen gab und warum das inhaltsleere Statement von Noch-Kanzler Kurz einer "kommunikationsstrategischen Dringlichkeit" geschuldet war.
Sehnsucht nach mehr Formatelastizität
Das ist ohnehin eine schöne Umschreibung der allermeisten Statements des politischen Betriebs, in dem es sich eigentlich immer nachzufragen lohnt, was wer jetzt eigentlich wie gemeint hat, ähnlich wie Lorenz-Dittlbacher im Gespräch mit der verklausuliert formulierenden SPÖ-Vorsitzenden Pamela Rendi-Wagner, die sich nach einmaliger Ermahnung wegen Nichterscheinens doch noch zum "ZIB 2"-Studiobesuch bewegen ließ: "Was genau heißt das jetzt?" – Rendi-Wagner: "Das heißt genau das." – Lorenz-Dittlbacher: "Das kann ja alles heißen."
(Im Herzen könnte Loriot irgendwie auch ein bisschen Österreicher gewesen sein.)
Ich geb ja zu, dass diese Schwärmereien auch bloß einer gewissen Sehnsucht nach Abwechslung und Flexibilisierung geschuldet sein könnten, die ich mir für "Tagesthemen" und "heute journal" manchmal wünschen würde (und von der derzeit noch nicht klar ist, ob sie "RTL Direkt" bei seiner längst nicht abgeschlossenen Selbstfindung irgendwann erzielen könnte).
Aber vielleicht müssen wir uns auch damit begnügen, dass im deutschen Fernsehen alle paar Jahre mal jemand für die Anmoderation auf den Moderationstisch steigt oder eine Punkband das Sendungsintro spielen lässt, um minimale Formatelastizität zu signalisieren.
Österreich ist halt nicht Deutschland, ganz bestimmt und erst recht nicht was den tagesaktuellen Nachrichtenjournalismus im öffentlich-rechtlichen Fernsehen betrifft – und das ist letztlich genauso in Ordnung wie manchmal halt bedauerlich. Oder wie's der aus Versehen zum deutschen Interviewpapst aufgestiegene Markus Lanz in der vergangenen Woche in seinem ZDF-Talk über Österreich formuliert hat: "So ein schönes Land – und wieder kein Kanzler." Was ziemlicher Quatsch ist, aber erschütterenderweise halt auch: Deutscher Fernsehpreis für die "Beste Information".
Und damit: zurück nach Köln.
Die "ZIB 2" läuft in Deutschland werktäglich ab 22 Uhr bei 3sat.