Dass Christine Strobl in ihrem neuen Job noch mal zur Fliesenlegerin würde umschulen müssen, hat sie vorher vermutlich auch nicht gedacht. Und trotzdem erklärte die ARD-Programmdirektorin Kurz nach ihrem Amtsantritt Ende Juli im Medienmagazin von Radioeins, es zu ihren bedeutendsten Aufgaben zu zählen, "die ganz großen Kacheln" zu füllen: "Die sind wichtig, weil letztlich brauchen Nutzer diese Regelmäßigkeit, um dort immer wieder hinzukommen."
Gemeint hat Strobl die "Kacheln" in der ARD Mediathek: Die Plätze ganz oben auf der Startseite und in der App, die Zuschauerinnen und Zuschauern mit großen Vorschaubildern empfehlen, was sich gerade ganz besonders anzusehen lohnt – so wie bei Netflix, Disney Plus, Prime Video.
"Es ist nicht alles eine Perle, was wir machen", räumte Strobl in dem Gespräch außerdem ein. "Und mir wäre es lieber, dass wir (…) manchmal eins weglassen und eins zusammen machen, das dann aber auch wirklich die Qualität hat."
Die "Stage" ist die neue "Primetime"
Mit ihrem Plan, der ARD Mediathek einen größeren Stellenwert in der gemeinsamen Programmplanung einzuräumen, hatte Strobl zu diesem Zeitpunkt längst für Unmut im Senderverbund gesorgt: weil viele mit den damit verbundenen Umbauten im regulären Programm nicht einverstanden waren. Nachdem Unmut aus den Politmagazin-Redaktionen zu einer öffentlichen Debatte der eigentlich noch internen Pläne geführt hatte, mussten Strobl und ihr Vize Florian Hager Feuerwehr spielen – und in zahlreichen Interviews erklären, was sie vorhaben.
Im Kern gehe es ihr darum, "Das Erste und die Mediathek konsequent zusammen[zu]denken", argumentierte Strobl für ihren Plan, online gut funktionierende Inhalte sehr viel stärker nach vorne zu stellen, um ein Publikum zu erreichen, das vom linearen Fernsehen nicht mehr erreicht werde. Und das es von anderen Streaming-Diensten gewohnt sei, nach dem App-Start regelmäßig Top-Inhalte präsentiert zu bekommen: eine hochwertig gemachte Serie, einen fesselnden Film, eine ungewöhnliche Doku. Anders gesagt: Die "Stage" ist die neue "Primetime".
Vielleicht hat der NDR in der vergangenen Woche schon mal vorgemacht, wie das künftig aussehen könnte. Nämlich so wie mit "Kevin Kühnert und die SPD".
Für das Dokuprojekt haben die Macherinnen und Macher den damaligen Juso-Chef und jetzigen SPD-Vize über drei Jahre begleitet, von den Tiefs der Hessen- und Europawahl über die von ihm angestoßene Sozialismus-Debatte und den Andrea-Nahles-Rücktritt bis zum Bundestagswahlkampf. Das Ergebnis ist äußerst sehenswert, auch weil es sich so sehr von dem unterscheidet, was die ARD sonst an Politreportagen ins Programm stellt.
Politik im Moment ihres Geschehens
Sechs Teile nimmt die seriell erzählte Reihe sich Zeit, Politik im Moment ihres tatsächlichen Geschehens zu zeigen, anstatt sie später von Protagonistinnen und Protagonisten erinnern und nacherzählen zu lassen. Auf diese Weise werden Abläufe und Funktionsweisen des politischen Alltags sichtbar, die so im Fernsehen sonst nicht zu sehen sind (und im "Spiegel" immer gleich achtmal so dramatisch klingen).
Das Publikum ist dabei, wie Kühnert auf der verregneten Autobahn von Wahlkampftermin zu Talkshow-Auftritt eilt, um sich einzumischen; wie er selbst die paar Sekunden im Aufzug zu seinem Büro im Willy-Brandt-Haus noch mal schnell Twitter checkt; und wie sich alle in die Arme fallen, als das von den Jusos favorisierte Gespann aus Saskia Esken und Norbert Walter-Borjans in der Stichwahl der SPD-Mitglieder tatsächlich den Parteivorsitz erobert. (Ein Moment wie ein in Szenenmaterial gegossenes Dokumentarfilmergold.)
Das passt hervorragend in die Leerstelle, die Strobl im Online-Angebot der ARD ausgemacht hat. Dem Deutschlandfunk sagte sie vor einigen Wochen: "Wir haben große internationale Player, die hier in den Markt drängen, die mit gigantischen Budgets gerade im Feld der Dokumentation uns angreifen. Und (…) wir wollen das nicht zulassen, dass wir [dieses Feld], in dem wir so stark sein wollen und stark sein sollten wie nur irgendwie möglich, (…) anderen überlassen."
Ohne Rücksicht auf lineare Erwartungen
Dafür braucht es freilich mehr Angebote wie "Kevin Kühnert und die SPD", das auch deshalb so besonders ist, weil darin alles ungewohnt unverstellt wirkt. Beim Zusehen hab ich mich permanent darüber gewundert, welch ungeheure Vertrauen der Hauptprotagonist dem NDR-Team entgegen gebracht haben muss, um ihn in all diesen sonst für die Öffentlichkeit verborgenen Situationen zu begleiten – auch auf die Gefahr hin, sich mancherorts unbeliebt zu machen, wenn nachher ein paar Lästereien über Konkurrenten und Kollegen drin geblieben sind.
Genau das habe ihn an dem Projekt gereizt, hat Kühnert gerade im DWDL.de-Interview verraten: "Viele leiten ihr Verständnis von politischen Prozessen und Parlamentarismus von dem ab, was sie in Filmen und Serien sehen, während das konkrete Verständnis des eigenen nationalen oder regionalen Parlaments sehr gering ausgeprägt ist." Er habe zeigen wollen, "wie Politik aussehen kann, wenn sie nicht aus dem parlamentarischen Zusammenhang heraus kommt".
Und es ist ein nicht ganz unpraktischer Nebeneffekt, dass der NDR parallel dazu zeigen kann, wie politische Dokumentationen auch aussehen können, wenn sie nicht in erster Linie den von Redaktionen vermuteten Erwartungen des Publikums auf einem etablierten Sendeplatz entsprechen müssen.
Inhalte, die es sonst so nicht gegeben hätte
Denn der war dem Langzeitprojekt im regulären Programm (bislang) nicht vergönnt: Am vergangenen Dienstag fragte "Visite" im Dritten Programm des NDR nach der "Tagesschau" zunächst: "Was tun bei Pilzvergiftung?", bevor "Panorama – Die Reporter" über einen zu Unrecht in Guantanamo Inhaftierten berichtete und "NDR Info" über einen Fahrradkurier, der eine Abkürzung durch den Elbtunnel genommen hatte; anschließend klang der Abend mit einer "Polizeiruf 110"-Wiederholung und "Weltreisen" aus – bevor ab null Uhr doch noch Platz war, alle Episoden von "Kevin Kühnert und die SPD" am Stück abzuhaken.
Diese Diskrepanz zwischen Mediathek und linearem Programm – eine Top-Position auf der Online-"Stage" und keine Chance in der linearen Primetime – ist längst gelebte Realität bei den öffentlich-rechtlichen Sendern.
Und so sehr ich es begrüße, dass durch diese Herangehensweise Inhalte entstehen können, die es im regulären Programm so sonst vielleicht nicht gegeben hätte, tue ich mich auch ein bisschen schwer mit dieser von Strobl und Hager ausformulierten Strategie der zwei Manegen, in denen voneinander unabhängig Attraktionen passieren, um ein Publikum zu begeistern, das schon die Eintrittskarte gelöst hat – aber eigentlich völlig unterschiedliche Vorstellungen sehen möchte.
Eine willkommene Ausrede
Das hat vor allem zwei Gründe. Erstens ist diese Strategie eine willkommene Ausrede dafür, an den linearen Programmen nichts Grundsätzliches mehr ändern zu müssen, weil dort ohnehin nur noch diejenigen einschalten, die halbwegs zufrieden damit sind, was da gerade läuft. (Auch die von Strobl und Hager bislang kommunizierten Änderungen sind ja vor allem den benötigten Umschichtungen hin zu Mediathek-affinen Inhalten geschuldet.)
Und zweitens besteht das sehr konkrete Restrisiko, dass sich mit der Mediathek einfach nochmal dieselben Irrtümer wiederholen, die der öffentlich-rechtliche Rundfunk mit seinem Zwang zur permanenten Formatierung schon seit Jahren im klassischen Programm pflegt. Zumindest klingt es so, wenn die neue Programmdirektion in erster Linie darüber redet, welches Format online relevante Inhalte künftig haben müssen. Und wie Hager es laut "Medienkorrespondenz" gegenüber den Intendantinnen und Intendanten mit der Überzeugung formuliert hat, dass vieles aus der linearen Welt für die Mediathek "in dieser Form keine Zukunft haben" wird.
Was vielleicht ein klitzekleines bisschen davon ablenkt, dass wir doch in erster Linie über die Inhalte reden sollten, oder?
Online: Blockbuster, offline: Quotengift?
Natürlich muss man auch darüber sprechen, was es bedeutet, wenn längere Dokus online besser funktionieren als klassische TV-Magazinformate; und selbstverständlich kann man Geschichten, die im Ersten als Fernsehfilm gezeigt werden, für die Mediathek als mehrteilige Miniserie aufbereiten (wie beim aktuellen Fernsehpreis-Gewinner "Für immer Sommer 90" geschehen). Aber ich weiß nicht, ob es reicht, potenziell in beiden Kanälen gut laufende Inhalte künftig bloß unterschiedlich zu verpacken – und alles, was online als Blockbuster beworben wird, linear aber potenziell Quotengift wäre, möglichst geräuschlos im Nachtprogramm zu versenken.
Eigentlich befinden wir uns in der Diskussion über die Zukunft des öffentlich-rechtlichen Rundfunks längst in einer Formatierungsdebatte (bloß ohne dass das jemand konkret so ausgesprochen hätte). Und die hat so ihre Tücken.
SPD-Mann Kühnert sagt, er hoffe, dass die NDR-Langzeitdoku dabei helfe, der von ihm beobachteten "House of Cardisierung" der Politik entgegenzuwirken. Und das ist vor allem deshalb lustig, weil sich schon der Vorspann von "Kevin Kühnert und die SPD" für seine atmosphärische Collage unübersehbar bei der von "House of Cards" etablierten filmischen Ästhetik bedient: der aufsteigende Vogelschwarm, Quadriga und Siegessäule in der Berliner Abenddämmerung, Kühnert im Auto, am Rednerpult, beim Interview, ein rötlicher Schleier über allem und dazu Klavierbegleitung.
Klares Signal ans Mediatheken-Publikum
Berlin ist vielleicht nicht Washington. D.C. (wenn auch nah dran mit den richtigen Filtereffekten); aber als Signal ans Streaming-affine Publikum, hier keine klassische 20.15-Uhr-ARD-Politreportage vorgesetzt zu kriegen, funktioniert dieser Reiz natürlich sofort. Und selbst wenn der anschließend dokumentierte Politalltag gegen den Moloch des Fiction-Vorbilds geradezu harmlos wirkt, ahnt man beim Zusehen doch, wie sehr es auch hierzulande auf die richtige Taktik im Umgang mit der Öffentlichkeit, den Medien und der Gegenseite ankommt (vor allem der in der eigenen Partei).
So hübsch das auch sein mag: Ich hoffe sehr, dass sich prioritär für die Mediathek geplante Inhalte künftig nicht auf maximale Netflixhaftigkeit abklopfen lassen müssen, um durchgewunken zu werden und auf den ganz großen Kacheln besonders gut präsentierbar zu sein. Denn das kann eigentlich nicht die Logik sein, mit der man innerhalb der ARD die Selbsterneuerung anstoßen möchte.
Gleichwohl zeichnet sich ab, dass sich die in der Vergangenheit geführten Diskussionen um prominente Sendeplätze in der linearen Primetime online ein Stück weit zu wiederholen drohen mit der Frage: Was kommt künftig ganz oben in die "Stage"?
Ein irres Kunststück
Vielleicht eher keine kleine Fernsehsatire wie "Walulis Woche" vom SWR? In der hat Philipp Walulis vor kurzem passenderweise die "sehr, sehr gute" und sehr, sehr gewöhnungsbedürftige ARD Mediathek versenkt, in der eigentlich alles toller und leichter als auf YouTube sein müsste, die Redaktion aber trotzdem "einen unterbezahlten Programmierer bestechen muss, damit er uns auf die Startseite packt" (und dann die Grafikunfälle wegignorieren).
Wie viele Sender muss die ARD das irre Kunststück hinkriegen, unter derselben Marke auf mehrere Kanälen für sehr unterschiedliche Zielgruppen passende Inhalte zu produzieren – idealerweise, ohne sich dafür bloß ein neues Raster zu stanzen. Weil sie so sonst einfach die alten Probleme in die neue Welt importiert.
Und damit: zurück nach Köln.
"Kevin Kühnert und die SPD" ist in der ARD Mediathek abrufbar.