Experten sind sich weitgehend einig, dass sich die Sesshaftwerdung der Menschen in Mitteleuropa ungefähr auf die Zeit um 5.500 v. Chr. zurückdatieren lässt. Und falls nachfolgende Generationen erforschen wollen, wann sich dieser prägende Trend langsam wieder umzudrehen begann, dann werden sie dafür ausreichend Zeugnis im Fernsehen der frühen 2020er Jahre finden.
Mit der kleinen Besonderheit, dass die Abkehr von Ackerbau und Viehzucht zu diesem Zeitpunkt bereits erfolgreich abgeschlossen war (durch Auslagerung an die Gebrüder Albrecht) und eine Rückkehr zum Jagen und Sammeln nicht zur Debatte stand – weil die Spezies mit Vorzeltaufbau und Bierdosenöffnung ausgelastet war.
Nie haben sich so viele Deutsche dafür entschieden, ihre Ferien in Wohnmobil, Campinganhänger oder Zelt zu verbringen, wie in den vergangenen Jahren. Und es gehört vermutlich zu den Besonderheiten dieser Zeit, dass dieser Entwicklung – im wahrsten Sinne des Wortes – live beigewohnt werden kann: weil es inzwischen kaum noch einen TV-Sender gibt, der diese Leidenschaft nicht in einem eigenen Camping-Format abbilden würde.
Ein Festival deutscher Urlaubsmarotten
Bei Kabel Eins lief gerade mit großem Erfolg die zweite Staffel von "Yes, we camp!", einer über mehrere Episoden sonntagabendfüllenden "Dokumentation" in der Heimat urlaubender Deutscher, nachdem RTLzwei sein Publikum Anfang August mit "Bella Italia – Camping auf deutsch" bereits aufs Thema eingestimmt hatte. Der HR machte den "Camping-Check" und legte mit dem "Campervan-Roadtrip" nach, im WDR lief wöchentlich "Wir werden Camper", der SWR dokumentiert seine Prioritäten mit "Hauptsache Camping", der MDR ist "Verrückt nach Camping", und während Sat.1 kürzlich die Reportage "Auf die Plätze, fertig … Camping!" zeigte und RTL ab Mitte des Monats im Nachmittagsprogramm gesteht: "Wir lieben Camping."
Jede Sendung ist ihr eigenes kleines Festival deutscher Urlaubsmarotten – von der sozialen Interaktion anreisender Paare ("Du wolltest doch deine Solarkugeln aufbauen") über gegenseitige Rücksichtnahme ("Oliver, kannst du mir was zu trinken bringen?" – "Haste vor einer halben Stunde schon mal gefragt") und Kulinarik ("Mach'mer Gulasch?") bis zur Navigationskompetenz beim Abstellen der rollenden Ferienwohnungen ("Pass auf, da ist ein Kind").
Man verliert ja schnell den Anschluss an die Realitäten der Programmgestaltung deutscher TV-Sender, wenn man zu sehr auf ambitionierte Politformate, neue TV-Journals und Leuchtturm-Shows schielt. Umso erdender ist es, Menschen zwischendurch dabei zuzusehen, wie sie sich von der Kamera beim Kreuzworträtsellösen über die Schulter schauen lassen, am Sortieren von Pavillonstangen scheitern ("Schnubbel, die Einser haben alle diese Schnacker"), Kinderschokoladelikörchen nach eigenem Rezept anrühren, ihr Revier mit Schalke-Fahnen markieren, Fleischberge auf dem Grill wenden, darüber streiten, wer zuviel Wasser verbraucht hat, Loungemöbel aus Europaletten zusammenschrauben, die Kinder anbrüllen ("Einfach mal zusammenreißen für ein paar Tage!"), Chemiezirkel zur Ameisenbekämpfung um ihr mobiles Heim ziehen, den Wohnwagen stundenlang mit der Wasserwaage justieren, Chemietoiletten entleeren – und eine Trilliarde Mal den Nachbarn mit dem dicken Anhänger auf seinen Platz einwinken.
Ohne Dramaturgie und ohne Ambition
2.800 Campingplätze gibt es laut offizieller Statistik derzeit in Deutschland, und dass einer davon noch keine eigenes Kamerateam hinter der Rezeption sitzen hat, scheint auch deshalb schon unwahrscheinlich, weil RTLzwei für seine Camping-TV-Premiere kürzlich schon an die Adria ausweichen musste.
Camping-Formate sind die Wirbellosen unter den TV-Sendungen: ein Fernsehen, das nicht nur gänzlich ohne Dramaturgie auskommt – sondern auch vollständig ohne Ambition der verantwortlichen Macherinnen und Macher. Kein TV-Team muss aufwändig nachhelfen, weil sich die nächste kuriose Situation fast immer von selbst ergibt: Camping-Newbies mit der Kamera zu begleiten, ist top – weil die alle Anfängerfehler nochmal von vorn machen (Adapter für den Stromanschluss!); bei den Camping-Profis dabei zu sein, ist aber genauso top – weil die für ihr "Glamping" technisch schon so hochgerüstet haben, dass das fahrende Hightechheim sich anschickt, demnächst die Moderation vom "K1 Magazin" zu übernehmen. (Technisch überlegen ist es dem regulären Moderationspersonal ja allemal.)
Und wenn's dazwischen Abwechslung braucht, kauft in diesem Land gerade immer irgendwer einen maroden Campinganhänger, um sich an dessen Renovierung in Eigenregie zu übernehmen oder versucht mit einem alten Bully in Hanglage einzuparken.
So viele weggepixelte Schniedel
Von Zeit zu Zeit lässt es sich dennoch nicht vermeiden, dass die Redaktionen ihren Restehrgeiz zusammenkehren, um der Nacherzählung der beliebig umfangreich ins Programm ausklappbaren Camping-Chroniken von Germania doch noch einen ganz besonderen Schliff zu verpassen.
Bei der Essenszubereitung für den gemeinschaftlichen Fußballabend formuliert der MDR-Off-Kommentator dann ganz keck: "Bekommt der faule Salat die erste rote Karte?"; die WDR-"Servicezeit" ließ kürzlich Camping-Frischlinge zuhause auf dem Sofa ein Best-of ihrer bereits im Fernsehen dokumentierten Outdoor-Urlaubspremieren (und die Schusseligkeiten der anderen) kommentieren, um daraus eine neue Sendung zu machen; nach dem Besuch auf einer FKK-Camping-Anlage mussten in der Kabel-Eins-Postproduktion für die Ausstrahlung haufenweise Schniedel weggepixelt werden; und während im NDR der Rentner-gewordene Alptraum der Fridays-for-Future-Jugend im bewohnbaren Zehntonner zur gebuchten Pferdekutschfahrt anreiste, durchkämmten bei RTLzwei bereits die ersten Hamburger Berufsstripperinnen den Campingplatz ihres Vertrauens nach zu verwendendem Ferien-Flirtmaterial.
Das Camping-Fernsehen verrät demnach nicht nur ungeheuer viel über die Spießigkeit deutscher Urlauberinnen und Urlauber, sondern ist auch Spiegel der Persönlichkeit des jeweiligen Senders, der sich zur Ausstrahlung der abgefilmten Nichtigkeiten entschieden hat.
Camping-Bekehrung im NDR
Insofern ist es bloß konsequent, dass Bettina Tietjen den TV-Trend mit "Tietjen campt" auf die nächste Stufe hebt und prominenten Kolleginnen und Kollegen ihre eigene Camping-Leidenschaft aufzuschwatzen versucht, weshalb man nun (u.a.) Jürgen von der Lippe im NDR dabei zusehen kann, wie er auf Fehmarn erst in einem mit Muskeln bedruckten T-Shirt von einem Stand-up-Paddel ins Wasser gleitet und im Anschluss an einen erfolglosen Bingo-Abend mit Freigetränk sehr ausführlich darlegt, wie er sich des nachts beim Wasserlassen in der zu kleinen Campingwagentoilette festgeklemmt hat. Das wird der ganzen Rentnerhaftigkeit dieses seltsamen Genres durchaus gerecht, hat bislang aber trotzdem nicht zu dessen Abschaffung beigetragen – ganz im Gegenteil. Oder wie's einer der dauercampenden Protagonisten von "Yes, we camp!" bei Kabel Eins kürzlich formuliert hat: "I bin der Roland und i bin die nächsten vier Wochen auch noch do."
Ich bin nicht der Roland, und ich kann auch nicht mit Bestimmtheit sagen, warum sich Menschen vom Fernsehen dabei filmen lassen, wie sie sich dem ganzen Stress aussetzen, endlich mal entspannt Urlaub zu machen – aber noch weniger erschloss sich mir bislang, warum ich ihnen als Unbeteiligter auch noch dabei zusehen sollte.
Das hat sich nach intensiver Sichtung für diese Kolumne in den vergangenen Tagen schlagartig geändert, weil ich seitdem abends seelenruhig schlummernd in mein nicht zusammenklappbares Bett sinke und daran denken kann, wie irgendwo auf einem von 209.000 deutschen Camping-Stellplätzen gerade jemand für die vorübergehende Nichtsesshaftigekit sehr aufwändig in die richtige Parkposition rangiert, bevor er stundenlang ein Vorzelt aufbaut, um sich anschließend mit einem selbst mitgebrachten Bier dafür zu belohnen. Und daran nicht teilnehmen zu müssen, hinterlässt bei mir wirklich ein tiefes Gefühl von Zufriedenheit.
Und damit: zurück nach Köln.
Alle im Text genannten Camping-Formate lassen sich notfalls in den Mediatheken der Sender abrufen.