Ich hätte Ihnen das gerne erspart, aber leider muss ich all den offen gebliebenen Fragen dieses an Lach- und Sachgeschichten nicht armen, nun zu Ende gehenden Bundestagswahlkampfs eine weitere hinzufügen. Sie lautet: Wie wollen wir künftig im Fernsehen miteinander streiten?
Und bevor wir zu den möglichen Antworten kommen, wäre mein dringlichstes Anliegen: Bitte nicht so.
Die "Schlussrunde" der Spitzenkandidatinnen und Spitzenkandidaten der Parteien bei ARD und ZDF war vor einigen Tagen quasi die Steigerung des Prinzips, das zahlreiche TV-Gesprächssendungen seit einer halben Ewigkeit beherrscht. Um der hochgradig statischen Abfragerei zumindest etwas Interessantes abzugewinnen, hab ich mir beim Zusehen ständig vorstellen müssen, wie die Teilnehmenden nachher mit ihren Düsenschlitten, hinter denen sie für anderthalb Stunden geparkt waren, aus dem Studio fliegen. (Wobei der von Alice Weidel ganz krass raucht, weil er mit Kohlekraft betrieben wird.)
Aber das ist natürlich Quatsch. Auch wenn dahinter lediglich die Sehnsucht steckt, einem der etabliertsten Genres im deutschen Fernsehen endlich ein Upgrade zu verpassen, das nicht allein daraus besteht, Politikerinnen und Politiker noch tiefer von irgendwelchen in Holzimitatkulisse herumstehenden Ledersesseln einsaugen zu lassen.
Praktischerweise haben ARD und ZDF selbst schon ein paar ganz vernünftige Vorschläge parat, wie sich die Themen unserer Zeit anders als bisher verhandeln lassen.
Konstruktiv und respektvoll diskutieren
Seit Ende Juli stehen in der ARD Mediathek die ersten beiden Folgen des SWR-Alternativtalks "Der Raum mit Eva Schulz", einer Kreuzung aus Gesellschaftsdebatte und Escape-Room-Game. Vier von unterschiedlichen Erfahrungen und Einstellungen geprägte Gäste treffen in einem eigens für diesen Anlass gebauten Raum aufeinander, aus dem sie sich spielerisch wieder befreien müssen, während sie sich zum Thema der Sendung austauschen.
"Meine Hoffnung war, dass Menschen mit so konträren Meinungen trotzdem konstruktiv und respektvoll miteinander diskutieren können", beschreibt Moderatorin Eva Schulz am Ende der ersten Ausgabe die Grundüberlegung des Formats, das da schon bewiesen hat, dass es funktionieren kann – weil sich Schweinebauer, Tierschutzaktivist und vegane Influencerin zum Thema "Ist Fleischessen noch okay?" zuvor ebenso zivilisiert wie lehrreich gestritten haben – ohne Pflicht, sich in allem einig werden zu müssen.
Das gelingt, weil "Der Raum" seine Gäste, die auf entgegengesetzten Seiten stehen, spielerisch zum gegenseitigen Kennenlernen und dann zur Kollaboration zwingt. Eine Garantie dafür gibt es aber nicht. Und das beste Beispiel dafür ist Episode zwei, in der sich zur Frage "Wie gerecht ist unser Bildungssystem?" trotz politisch gegenteiliger Besetzung über weite Strecken alles so sehr einig sind, dass es nur einmal ganz kurz zum Dissens, aber nie zu einer richtigen Debatte kommt.
So viel Liebe zum Detail
Das fällt erstmal gar nicht auf, weil "Der Raum" mit so viel Liebe zum Detail gemacht ist, dass man sich kaum sattsehen kann: Für die Schätzfragen im als Klassenzimmer designten Studio samt Overheadprojektor, Klassenbuch und von Elfährigen authentisch zugekritzelter Toilette ("Luisa ist schön", "Save our planet") müssen Ranzen an Haken mit den richtigen Prozentzahlen gehängt werden; zwischendurch gibt es Pausenbrote und Trinkpäckchen zur Stärkung; und die Raterunde zur Erstbeschnupperung hat die Redaktion eigens um Formulierungen aus den Originalzeugnissen ihrer Gäste herum gestrickt.
So viel Lust am Fernsehmachen sieht man sonst selten. (Und an der Transparenz: alle im Verlauf der Sendung erwähnten Studien und Quellen sind per Fußnoteneinblendung am Bildschirmrand referenziert.)
Leider steigert sich "Der Raum" irgendwann so sehr in den Zwang zur Auflockerung hinein, dass interessante Diskussionen schon nach wenigen Sätzen abgewürgt werden. Ist der Bildungsföderalismus wirklich eine gute Lösung? Keine Ahnung, weil: Alarm!, der Boden ist Lava, alle müssen schnell auf irgendwas klettern, das kein Tisch und kein Stuhl ist.
Rätselhaft bleibt auch die Rolle von Gast- und Namensgeberin Eva Schulz, die das Geschehen aus einer etwas zu sehr mit Dekoarmaturen und Zusatzknöpfen aufgemöbelten Schaltzentrale hinter den Kulissen verfolgt, ab und zu Anweisungen per Mikrofon gibt, Motivationspakete abwirft ("Ihr macht das super!") und Debatten anzuregen versucht, ohne diese nachher führen zu können.
Ein Schritt nach vorn – und wieder zurück
Das mag Teil des Konzepts sein, die Gäste größtenteils sich selbst zu überlassen, um zu sehen, wie sich die Dynamik zwischen ihnen entwickelt. In ihrer Rolle als simple Spielleiterin kann Schulz aber so gut wie keine ihrer Stärken in der empathischen Interviewführung ausspielen, die sie regelmäßig im "Deutschland 3000"-Podcast demonstriert. Was die Personalisierung des Formats umso rätselhafter wirken lässt. Ein treffenderer Titel wäre vermutlich: "Der Raum ohne Eva Schulz".
(Und was soll eigentlich passieren, wenn die Gruppe das Finalspiel versiebt und – wie es die Spielregeln vorsehen – dann nicht aus dem Raum raus darf?)
"13 Fragen", das bereits seit vergangenem Jahr in der ZDF Mediathek zuhause ist, nähert sich seinen Themen sehr viel systematischer: Zu Beginn jeder Ausgabe sind die in eine alte Brauereihalle gebetenen Gäste angehalten, sich für oder gegen die Grundthese der jeweiligen Sendung auf farblich markierten Feldern zu positionieren. Die Hosts Salwa Houmsi und Jo Schück lassen die Teilnehmenden ihre Überzeugung anschließend mit exakt 13 Fragen begründen. Trifft eines der Argumente bei der Gegenseite auf Zustimmung, ist diese aufgefordert, ein Feld nach vorne zu gehen – bei Ablehnung geht es ein Feld zurück.
Ziel jeder Sendung ist, möglichst viele Gäste in die Nähe der Kompromisszone in der Mitte zum bringen – ganz zum Schluss, indem erst die Redaktion und dann die Kontrahenten selbst konkrete Vorschläge zur gegenseitigen Einigung formulieren.
Die Argumente der anderen
Ausgerechnet zum Thema "Sollen religiöse Symbole in öffentlichen Einrichtungen verboten werden?" gelingt das überraschend gut: Trotz emotional geführter Diskussion um die Neutralitätspflicht des Staats und das Recht auf persönliche Entfaltung im Beruf und trotz grundsätzlich verschiedener Sichtweisen lassen sich die Teilnehmenden ausreden und Argumente der anderen zu: "Das ist ein Punkt, den ich mir nicht überlegt habe", gesteht Schauspieler und Regisseur Dani Levy an einem Punkt ein – und geht einen Schritt auf sein Gegenüber zu. Am Schluss ist selbst Moderator Schück ganz baff, "dass ihr alle relativ weit vorne steht – das hätte ich vor dieser Folge nicht erwartet".
Es geht aber auch anders: In der Episode "Ist Erben gerecht?" lässt sich dem Konzept von "13 Fragen" ganz langsam beim Entgleisen zusehen, weil sich die Diskutierenden alle so sehr in ihrer eigenen Argumentation verbissen haben, dass "Kompromissonkel" Schück mit seinen Vermittlungsversuchen spätestens nach der Hälfte der Zeit zunehmend auf verlorenem Posten steht.
Die meisten Gäste sind da schon so weit nach hinten gerückt, dass sie fast in der Kulisse verschwinden. "Das ist kein Vorschlag, das ist die Vernichtung des Familienunternehmertums", platz es aus dem Pro-Lager heraus; und die Contra-Fraktion verschanzt sich passiv-aggressiv hinter ihren Umsturzforderungen.
An den Rand des Spielfelds getrieben
Das eigentliche Problem des Formats ist, dass sein Gelingen in hohem Maße von einer sehr fein austarierten Besetzung der beiden Seiten abhängt, für die es eher aufgeschlossene Reformerinnen und Erneuerer braucht als kategorische Ablehnerinnen und Umstürzler – die aber nicht zu jedem Thema so einfach zu finden sind. Wenn alle kategorisch auf den selbst mitgebrachten Überzeugungen beharren, wirkt das aufs Publikum schnell erschöpfend. Zumal der Austausch von Menschen, die sich längst festgelegt haben, im deutschen Fernsehen wirklich zur Genüge zu betrachten ist.
Größter Schwachpunkt ist aber, dass bei "13 Fragen" schon eine Extremposition ausreicht, um das andere Lager an den Rand des Spielfelds zu treiben, während Kompromissbereite derselben Seite tatenlos zusehen müssen.
Houmsi und Schück haben dabei die ebenso anspruchsvolle wie unmögliche Aufgabe, komplizierte Positionen während der laufenden Diskussion verständlich zusammenzufassen und sie zur Weiterentwicklung derselben einzusetzen – während ihnen manchmal die Überraschung, Verwunderung, Erschöpfung ins Gesicht geschrieben steht.
Neue Impulse für ein etabliertes Genre
Die vielleicht eindringlichste Erkenntnis von "13 Fragen" besteht darin, dass es ungeheuer kompliziert (geworden) ist, sich auf etwas zu einigen; und dass Kompromisse noch viel härter erkämpft werden müssen als wir uns das manchmal vielleicht wünschen würden.
Das gilt womöglich auch für interessante Gesprächssendungen im Fernsehen. Umso dankbarer muss man als Zuschauerin bzw. Zuschauer dafür sein, dass sich "Der Raum mit Eva Schulz" und "13 Fragen" genau dieser Aufgabe stellen – und den Mut haben, neue Impulse in einem Genre zu setzen, das in den Hauptprogrammen der Sender zunehmend zu einer Karikatur seiner selbst geworden ist. Selbst wenn die Themen ähnlich berechenbar sind: Im Gegensatz zu vielen klassischen Talksendungen gelingt es den Mediathek-Alternativen, für ihr Publikum auch während des gelegentlichen Scheiterns an sich selbst noch interessant zu sein. Viel mehr kann man von ambitioniert gemachtem Fernsehen eigentlich nicht erwarten.
Und damit: zurück nach Köln.
"Der Raum mit Eva Schulz" ist in der ARD Mediathek abrufbar, alle Folgen von "13 Fragen" lassen sich auf zdf.de streamen.