Es ist ja auf nichts und niemanden mehr Verlass in diesem Sommer der überraschenden Schwerpunkte. Gleich mehrere Privatsender haben die Informationskompetenz (neu) für sich entdeckt. Bei RTL läuft plötzlich ein werktägliches Nachrichtenmagazin mit dem ehemaligem "Tagesschau"-Chefsprecher und ProSieben lädt einen afghanischen Popstar in eine Live-Sendung ein, um mit ihr zur besten Sendezeit die schwierige Situation der Frauen ihres Landes nach der Machtübernahme der Taliban zu diskutieren.
Nur ARD und ZDF lassen so ein Durcheinander nicht mit sich machen und demonstrieren weiter Zuverlässigkeit!
Erst brachte die neue ARD-Programmdirektion die eigenen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter mit der geplanten Zwangsoptimierung des "Weltspiegel"-Sendeplatzes und der Neuordnung der Politmagazine im Ersten auf die Barrikaden; anschließend musste sich der künftige ZDF-Intendant, um gewählt zu werden, von den als Wirtschaftsberichterstattung getarnten Discounter-Vergleichen im eigenen Programm scheindistanzieren; und dann lief vor einer Woche auch noch das Wahl-Triell, für das man endlich die nervigen Privatsenderanhängsel losgeworden war, trotz größtmöglichem Bemühen um gewohnt unzugänglichen Hauptstadtjournalismus wahrnehmungstechnisch suboptimal.
Mal 'ne ganz andre Frage
Vermutlich hätte es da bloß noch mehr Verwirrung gestiftet, wäre das Moderationsduo statt praktizierter Koalitionswahrsagerei mit einer für alle Seiten überraschenden Frage in die Sendung eingestiegen – zum Beispiel, wie es die Amtsbewerberin und ihre Herausforderer eigentlich hinkriegen wollen, dass uns nach Sparrunden und Corona-Dauerbelastung die Pflege kranker Menschen in diesem Land nicht komplett abrauscht.
Im Frühjahr hatte ProSieben viel Lob dafür eingeheimst, spontan sein komplettes Hauptabendprogramm freigeräumt zu haben, um über Stunden die Schicht einer Pflegerin im Krankenhaus zu übertragen – und so einer Berufsgruppe Gehör zu verschaffen, die sich keine Dauerberichterstattung in den Nachrichten zu sichern vermag, indem sie den Schlüssel aus der Lok zieht, um das halbe Land lahmzulegen. Und die trotzdem immerzu um bessere Arbeitsbedingungen und gerechtere Entlohnung ringen muss.
Damals rätselten viele, warum es ausgerechnet einem Privatsender gelang, wirksam Aufmerksamkeit dafür zu schaffen. Dabei hatte die öffentlich-rechtliche Konkurrenz zu diesem Zeitpunkt schon eine ähnlich durchdringendes Programm in petto: Keine zwei Wochen nach #Nichtselbstverständlich auf ProSieben startete in der ZDF-Mediathek die Dokureihe "Herz & Viren". Die acht rund fünfzehnminütigen Episoden zeigen genau das, was ihr Untertitel verspricht: "24/7 echter Klinikalltag" zwischen Corona-Teststation an der Berliner Charité und Kinder-Intensivpflege im Deutschen Herzzentrum (DHZB).
Ungefilterte Reflexion des Arbeitsalltags
Das ist sehr viel dichter erzählt als in der improvisierten Joko-und-Klaas-Version. Und ein ziemlicher Brocken – nicht nur dann, wenn man plötzlich Tag für Tag durch die gleichen Gänge geht und direkt miterlebt, unter welchem Druck Operationen geplant und verschoben, Patientinnen vorbereitet und versorgt, Familien betreut und beraten werden, während Corona alles noch komplizierter und unberechenbarer macht.
Die Reihe ist vor allem deshalb so stark, weil sie es schafft, die Unmittelbarkeit herzustellen, die sich Filmschaffende und Publikum oft gleichermaßen für dieses Genre wünschen. Sie dokumentiert nicht nur den anspruchsvollen Arbeitsalltag in den Institutionen, sondern lässt ihre Protagonistinnen – allesamt Frauen: Intensivpflegerinnen, Ärztinnen, operationstechnische Assistentinnen – mit der Handkamera auch ungefiltert das Erlebte reflektieren: auf dem früh morgendlichen Weg zur Arbeit, in der kurzen Verschnaufpause, zuhause nach Feierabend.
Aufpassen, dass man nicht zu eng wird
Josy erzählt, wie sie auf der Intensivpflegestation am DHZB zwischen all den Apparaten, Magensonde und Beatmungsschlauch so etwas wie Normalität für die kleinen Patientinnen und Patienten herzustellen versucht: "Ich geh da rein und ich weiß: Ich mach heute was richtig Gutes."
Andrea schildert, wie schwer es trotz aller Professionalität zwischen Daueralarm und Medikamentenvorbereitung fällt, sich emotional nicht zu sehr an die auf Station betreuten Kinder zu binden: "Man muss aufpassen, dass man da nicht zu eng wird." (Den Gruß an eine der in der Doku gezeigten Patientinnen hat sie sich am Ende ihres Interviews für "Volle Kanne" aber trotzdem nicht nehmen lassen.)
Und Florentine erklärt, wie sie als chirurgische Assistenz damit klar kommt, manchmal acht, neun Stunden am Tag im OP-Saal zu stehen, um dafür zu sorgen, dass Eingriffe am offenen Herzen gelingen: "Für andere mag das verrückt klingen, aber man gewöhnt sich daran."
Das Gefühl, ganz nah dabei zu sein
Dokumentarisches Fernsehen ist oft dann am stärksten, wenn es seinen Zuschauerinnen und Zuschauern nicht bloß einen Einblick in ihnen unbekannte Welten ermöglicht (auch die direkt vor der eigenen Haustür); sondern das Gefühl gibt, ganz nah dabei sein zu können. Das gelingt "Herz & Viren" mit Bravour, auch weil die Produktion von Nordend Film vollständig auf einen Off-Kommentar verzichten und ihre Protagonistinnen stattdessen selbst erzählen lässt, was passiert oder ihnen einfach bei der Arbeit über die Schulter sieht. Hände desinfizieren, Alarm checken, Drainagen ziehen – und weiter.
Gleichwohl lässt sie die Frauen auch Position beziehen. Josy hat zwar nicht studiert, ist aber nach langer Einarbeitungszeit trotzdem hochspezialisiert und findet: "Wir sollten besser entlohnt werden!" Und Dr. Laleh Ghaeni, die auf der Kinderintensivstation im Deutschen Herzzentrum manchmal von einem Notfall zum nächsten eilt, schildert, wie der Zwang zu möglichst wirtschaftlicher Versorgung die Arbeit zunehmend erschwert: "Wir müssen immer mehr Patienten betreuen und haben immer weniger Zeit, uns um [sie] zu kümmern. Auf den Patienten empathisch einzuwirken, mit der Familie zu sprechen – ein ganz wichtiger Punkt im Heilungsprozess – das kommt viel zu kurz." Außer man zwackt die Zeit – wie so oft – an der eigenen Pause ab.
Nicht durchformatiert genug für die Primetime?
Auf diese Weise machen Programme wie "Herz & Viren" ein Problem erlebbar, das sonst für viele Zuschauerinnen und Zuschauer eher abstrakt bleibt, wenn darüber in Talkshows gesprochen oder in Nachrichtensendungen berichtet wird. Nach diesen gut zwei Stunden versteht jede und jeder, wie wichtig es ist, Josy und ihren Kolleginnen und Kollegen bei der Arbeit den Rücken freizuhalten – anstatt dem ohnehin schon hohen Druck noch weiteren hinzuzufügen.
Beim Zusehen stellt man sich irgendwann unweigerlich die Frage, warum der auftraggebende Sender einen solchen Schatz nicht dort zeigt, wo er die Chance hätte, von möglichst vielen Menschen wahrgenommen zu werden: im linearen Hauptabendprogramm.
Ein Teil der Episoden lief stattdessen als "Kurzreportage" im Frühjahr in der Boulevard- und Unfallsendung "hallo deutschland". Für "ZDFzoom" scheint "Herz & Viren" nicht durchformatiert genug gewesen zu sein. Und auf dem "ZDFzeit"-Sendeplatz, wo man im Zweiten sonst gerne damit wirbt, "einfach starke Dokus" ganz "nah am Leben" zu zeigen, gab es zuletzt schlicht andere Prioritäten: "Endlich wieder Kreuzfahrt!", "Royale Erben", "Der große Brot-Report" und "IKEA: Die Insider". (Funktioniert ja auch prima.) Im Mai freute sich die Produktionsfirma auf ihrer Website schon darüber, dass sich überhaupt noch ein linearer Sendetermin gefunden hatte, um alle "Herz & Viren"-Episoden nacheinander zu zeigen: an einem Mai-Mittwoch ab 0.50 Uhr.
Fernsehen für die Realitäten des Jahres 2021
Ich hab nicht den Eindruck, dass in Mainz, München und andernorts, wo Fernsehen für die Realitäten des Jahres 2021 gemacht werden soll, schon ausreichend verstanden worden ist, wie viele Beitragszahlende sich nach einem öffentlich-rechtlichen Rundfunk sehnen, der seine Prioritäten sehr viel besser zu ordnen versteht als das in den zurückliegenden Jahren der Fall war.
Genau wie die Politik lohnt es sich auch die Programmzuständigen regelmäßig daran zu erinnern, wie sehr sie mitgestalten, über welche Themen wir in unserer Gesellschaft diskutieren – weil sich sonst nämlich niemand zu wundern braucht, wenn sich Menschen zu fragen beginnen, wozu wir uns den ganzen beitragsfinanzierten Summs sonst überhaupt leisten.
Für Montagabend hat ProSieben übrigens angekündigt, die Pflegerin aus der #Nichtselbstverständlich-Doku vom Frühjahr im neuen TV-Journal "Zervakis & Opdenhövel" mit Gesundheitsminister Jens Spahn über die Situation ihres Berufsstands diskutieren zu lassen. Im ZDF läuft zur gleichen Zeit der Krimi "Auf dünnem Eis". Man muss halt Prioritäten setzen.
Und damit: zurück nach Köln.
Alle Folgen von "Herz & Viren" sind in der ZDF-Mediathek abrufbar.