Elf Wochen ist es her, da dachte ich an einem verschlafenen Abend vor dem Fernseher, ich hätte mich aus Versehen ins Jahr 1984 zurück genickert. Es war schon spät am Ostersonntag, als ich auf dem Sofa aus dem Sekundenschlaf empor schreckte und mir im laufenden Fernsehprogramm Hans-Joachim Kulenkampff erschien. Das Heinz-Schönberger-Orchester spielte den Auftakt zu "Einer wird gewinnen" und Kuli beplauderte prompt seine ersten Gäste aus Spanien, Österreich, Belgien und Großbritannien, die allesamt ungewöhnlich gut deutsch sprachen.
"Was machen Sie in London?" – "Nicht sehr viel."
"Hat sich das Verhältnis zwischen Flamen und Wallonen immer noch nicht gebessert?" – "Doch, doch."
"Wer passt denn zuhause jetzt auf die Kinder auf?" – "Mein Mann ist der ideale Babysitter." – "So eine Art Hausmann? Kocht der auch?"
Gehen Sie mir zuliebe zur Wahl!
Anschließend mussten dargebotene Gesangsauftritte – aus "Aida" und "Hair" – sowie Theaterstück-Szenen – aus "Der Geizige", "Faust" und "Jedermann" – ihren Ursprüngen zugeordnet sowie Sternenbilder, Hunderassen und Autopreise geraten werden. Zwischendurch bedauerte der Moderator indirekt den Teilnahme-Boykott der DDR an den bevorstehen Olympischen Sommerspielen, sprach sich ebenfalls indirekt für ein Tempolimit auf deutschen Autobahnen aus ("Es ist ein Wahnsinn, diese Raserei, glauben Sie mir") und rief mehrmals zur Teilnahme an der Europawahl auf, um der Politik zu demonstrieren, "dass die Mehrheit der Europäer gerne mal eine Nation sein möchte": "Gehen Sie morgen mir zuliebe zur Wahl!"
Am Ende verzweifelte Kulenkampff kurz daran, dass im Schlussspiel niemand der übrig Gebliebenen wusste, wo indische Streitkräfte ihren Angriff auf das Sikh-Heiligtum Harmandir Sahib verübt hatten (in Amritsar!), welcher neue Film des Regisseurs Wim Wenders gerade von der Kritik gefeiert wurde ("Paris, Texas"!) und dass Kharg ein iranischer Ölhafen im persischen Golf ist: "Stand hundertmal in jeder Zeitung!"
Nach geradezu übersichtlichen zwei Stunden war alles wieder vorbei, ich merkte, dass um mich herum immer noch 2021 war – und ich mich in den Jahren zuvor schon sehr viel schlechter unterhalten gefühlt hatte als von dieser "EWG"-Wiederholung im Dritten Programm des HR. Ich kann nicht sagen, ob das am Fernsehen liegt oder an mir. Aber es passt auf jeden Fall in die Zeit.
Denn kein anderes Medium ist so verliebt in und begeistert von der eigenen Vergangenheit wie das gute, alte lineare Fernsehen.
TV-Artefakte mit Bonuswissen
Während die Privaten in der zurückliegenden Woche einen kleinen Ausblick darauf lieferten, wie sie sich ihre (neue) Zukunft vorstellen, blinzeln die öffentlich-rechtlichen Sender in einer Tour in die Historie. Gerade hat das ZDF mit einer großen Neuauflage am Samstagabend "50 Jahre Dalli Dalli" gefeiert und Johannes B. Kerner die eingeladenen Rateteams fragen lassen: Woran denken Sie morgens beim Aufstehen als erstes? Und: Was machen Sie, wenn sie schlecht gelaunt sind? Zwischendurch haben (fast) alle Gäste erzählt, wie sie damals im Schlafanzug vor der Glotze gesessen und das Original geguckt haben, und Kerner ist im Splitscreen mit Hans Rosenthal der Studiodecke entgegen gesprungen: "Das war spitze!"
Mitte Juli moderiert Thomas Gottschalk mit "50 Jahre ZDF-Hitparade – Die Zugabe" bereits die zweite Jubiläumsausgabe der seit Ewigkeiten eingestellten ZDF-Musikshow und begrüßt dafür "Hitparaden-Lieblinge" und "Schlagerlegenden", die sonst natürlich fast kein Forum im deutschen Fernsehen mehr haben.
Und in der Woche davor nimmt Elton im NDR Anlauf, um dem Publikum die "schönsten Erinnerungen aus 60 Jahren Fernsehen" zurück zu bringen – in seinem neuen "TV-Kult-Quiz" "Na siehste!"
Es ist eine unbändige Sehnsucht nach dem Gewesenen, die dazu geführt hat, dass aus einer Art kollektiven Erinnerung fast schon ein eigenes Genre geworden ist: Nostalgiefernsehen-Fernsehen. Noch nachhaltiger als in der sporadischen Wiederauflage beliebter Show-Klassiker funktioniert dieses Best-of einstiger Zeiten – das meist von allen Flops bereinigt auf die Bildschirme zurückkehrt – freilich in Dokumentationen, die vor allem in den Dritten fest zum Programmangebot dazu gehören. Und im besten Fall nicht nur eine Aneinanderreihung von TV-Artefakten sind, sondern im Blick zurück auch ein bisschen Bonuswissen liefern.
Das Gefühl unbändiger Programmfreiheit
Im Juli läuft im NDR nochmal "Unsere Väter – die größten Showmaster Deutschlands", eine großartige Dokumentation, in der die Nachfahren von Rosenthal, Kulenkampff, Carrell, Thoelke, Felix und Co. sich erinnern, wie das für sie und ihrer Familie war, als sich der Papa Hals über Kopf in die Arbeit gestürzt hat, um Fernsehunterhaltung für Millionen Zuschauerinnen und Zuschauer zu produzieren.
Und selbst wenn die "35 Jahre Sketch-up" auch schon wieder zwei zurückliegen, garantiert die NDR-Produktion von 2019, die regelmäßig durch die Dritten geistert, anderthalb unterhaltsame Stunden: Nicht nur, weil Bernhard Hoëcker die schönsten Sketche von damals besorgt hat; sondern auch, weil sich Iris Berben und Beatrice Richter dazu mit glitzernden Augen an eine einmalige Zeit erinnern: "Das ist auch der Grund, warum ihr mich immer noch interviewt und fragt."
Dass es nicht mal unbedingt Bilder braucht, um das Fernsehen von vorgestern wieder lebendig werden zu lassen, demonstriert derweil die Fyeo-Podcastreihe "Zapping for Freedom", die sich in acht Episoden mit der Entstehung des Privatfernsehens in Deutschland in den 80er Jahren und dem Gefühl unbändiger Freiheit beschäftigt, die es damals beim Programmmachen gab. Dass die Retrospektive sogar ohne Sprachschnipsel und Titelmusiken der erinnerten Sendungen auskommen muss, ist nicht weiter schlimm – zumindest wenn man den etwas sperrigen Auftakt mit der Kurzaufarbeitung der Kabelpilotprojekte hinter sich gelassen hat.
War das Fernsehen damals besser?
Denn dann macht es einfach Spaß, Torben Struck und seinen Interviewgästen beim Schwelgen zuzuhören: Wenn Hugo Egon Balder die holprige Genese von "Alles Nicht Oder" und "RTL Samstag Nacht" erzählt, Jürgen Doetz den Glücksfall "Glücksrad" erinnert und selbst Deutschlands mit reichem TV-Wissen gesegneter Bewegtbildbibliothekar Bastian Pastewka staunen muss, dass "Mann-O-Mann" von Frank Elstner erfunden wurde. Und: Hätten Sie gewusst, dass der frühe Tele-5-Erfolg "Ruck Zuck" im US-Original ein ziemlicher Rohrkrepierer gewesen ist?
Oh, Sie hätten? Natürlich.
Die Frage, die sich aus all dem ergibt, ist unweigerlich: War das Fernsehen damals wirklich besser als heute? Vermutlich nicht. Vielleicht war es aber – trotz oder gerade wegen seiner begrenzten Mittel – ungewöhnlicher, weil im Zweifel Kreativität und Verrücktheit zählten. Oder wie bei "Einer wird gewinnen" ein Moderator, der in seiner Unterhaltungsshow nicht vor politischen Kommentaren zurückschreckte und anschließend noch einen Sketch zum EG-Agrarmarkt spielte.
(Aus heutiger Sicht wäre das angesichts der hitzigen Begleitung in Politik und sozialen Medien vermutlich unmöglich; dafür wirken Kulis Kommentare wie die zum "süßen Kleid" der Assistentin heute komplett aus der Zeit gefallen.)
Vorgespult und auf Pause gedrückt
Vor allem aber war das Fernsehen von früher für viele, die sich heute gern daran erinnern: identitätsstiftend. Keine andere Reihe demonstriert das schöner als "Zurückgespult" aus der Redaktion von "Hauptsache Kultur" im HR. Für drei halbstündige Ausgaben haben sich Sarah Plass (Jahrgang 1981) und Sven Waskönig (Jahrgang 1971) tief in "die Highlights unserer Fernsehvergangenheit" abgeseilt und sind mit haufenweise Archivmaterial zurückgekommen, das sie in irrem Tempo gemeinsam durchzappen – von den Siebzigern bis zu den Neunzigern, und von "Seamsamstraße", "Biene Maja" und "Neues aus Uhlenbusch" über "Dallas", "Ein Colt für alle Fälle", und "Silas" bis zu "Friends", "Baywatch" und MTV.
Zwischendurch wird videorekordergemäß vorgespult oder auf Pause gedrückt, um mit Fotos aus der eigenen Jugend abzugleichen, welchen bleibenden Eindruck die jeweiligen Sendungen hinterlassen haben.
Es ist ein großartiger Blick von heute auf das Damals, bei dem es nebenbei auch ums Frauenbild in der Werbung geht, um die Frage, ob "Herr Rossi sucht das Glück" tatsächlich einen depressiven Cartoon-Hauptdarsteller hatte, um die eigene Politisierung durch die "Tagesschau"-Bilder vom Irakkrieg und den Angriff auf Asyslsuchende in Rostock-Lichtenhagen, und um das Glück, in den Neunzigern mit Teenager-Verstehserien wie "Willkommen im Leben" groß geworden zu sein. Außerdem geht es um die Unterschiede deutscher Fernseherinnerung, weil Plass im Osten Deutschlands groß geworden ist und Waskönig im Westen, um "Meister Nadelöhr", "Die Mädchen aus dem Weltraum" und das bessere Sandmännchen.
Die Fernseh-Nostalgie stirbt aus
All das ist mit wahnsinnig viel Liebe zum Detail gemacht: Zu besprochenen Sendungen werden die deutschen Erstausstrahlungstermine eingeblendet, und jemand hat aus den HR-Katakomben alte "Hörzu"-Ausgaben rausgesucht, die durchgeblättert werden können.
Am Ende der insgesamt anderthalb Stunden flirrt einem als Zuschauer ein bisschen der Kopf, aber gleichzeitig ist es ein wohliges Gefühl, die "Fernsehbilder, zwischen denen wir beide erwachsen geworden sind", nochmal gesehen zu haben. Und sich zu vergegenwärtigen, dass spätere Generationen dieses Gefühl so vermutlich nicht mehr teilen werden – weil das Fernsehen für sie in ihrer Jugend nie das wichtigste Medium war.
An was aber erinnern sich Menschen in 30 oder 40 Jahren dann aus dem Programm von heute? Welche Show aus diesem irren Jahr 2021, in dem die erste Pandemie des Jahrhunderts zu Ende ging, läuft zu Ostern in der Wiederholung? Und auf welchem Gerät überhaupt?
Vielleicht geht's Ihnen anders, aber: Ich muss das gar nicht wissen – und bin stattdessen bereit, zwischendurch immer mal wieder in vergangene TV-Zeiten einzutauchen, um dem Fernsehapparat die imaginäre Röhre zu tätscheln wie ein Haustier, das nochmal für gutes Betragen in der Vergangenheit gelobt werden will. Kommt ja im Sommer eh nix Besseres im Programm, wenn gerade kein Fußball läuft. Jedenfalls wünsche ich Ihnen ein paar entspannte Wochen, wir lesen uns an dieser Stelle hoffentlich wieder in der nächsten TV-Saison, wenn die ARD erneut – wie sollte es anders sein – alles richtig macht!
Bis dahin: zurück nach Köln.
Alle Episoden von "Zurückgespult – Wie das Fernsehen uns geprägt hat" sind in der ARD Mediathek abrufbar; der NDR wiederholt "Unsere Väter – die größten Showmaster Deutschlands" am 24. Juli ab 22.15 Uhr; "Zapping for Freedom" ist auf Fyeo anhörbar (komplett nur mit Abo).