Man muss die Sache auch mal positiv sehen: Immerhin hat die ARD-Eins bislang noch nicht angekündigt, zum aufstrebenden Privatsender Sat.1 wechseln zu wollen, um dort im Logo die angekündigte Seriositätsoffensive zu stützen. Auch wenn es sich dabei womöglich nur noch um eine Frage der Zeit handelt.
Fast im Monatstakt meldete die Konkurrenz zuletzt das Abwerben prominenter Köpfe der ARD. Und als RTL diese Woche bekannt gab, dass Pinar Atalay die "Tagesthemen" verlassen würde, um das Programm des Kölner Senders künftig "aktiv mit[zu]gestalten" und gemeinsam mit Peter Kloeppel Ende August das RTL-Wahltriell zu moderieren, hat das das Fass endgültig zum Überlaufen gebracht.
Der Wechsel sei eine "Blamage" für die ARD, schrieb die "Süddeutsche"; der "Spiegel" fabulierte angesichts der "ARD-Abtrünnigen", zu denen auch Linda Zervakis und Jan Hofer gehören, von einem "Brain-Drain"; und beim Redaktionsnetzwerk Deutschland staunte man über einen "vergleichsweise spektakulären Exodus". Zahlreiche Medien übten sich in spontaner Exegese: Die ARD böte zu wenig Flexibilität, die Privaten auch noch mehr Geld. Und vieles davon mag zutreffen. Vielleicht ist alles aber auch noch viel schlimmer. Denn die Abgänge zur Konkurrenz betreffen gar nicht nur die klassische Information – und nicht mal nur die vermeintlich mit dickeren Geldbündeln wedelnden Privaten.
Ein strukturelles Problem
Zuvor hatte sich bereits Wissenschaftsjournalistin Mai Thi Nguyen-Kim entschieden, vom WDR zum ZDF zu wechseln, wo sie nun unter anderem für "Terra X" vor der Kamera stehen soll. Außerdem hat man sich in Mainz Sabine Heinrich geschnappt, die ab Juli als erste Frau seit zwei Jahrzehnten wieder eine Quizshow in der ZDF-Primetime moderiert (was man im Ersten nicht fertig brachte).
Mit jeder weiteren Personalie verfestigt sich der Eindruck, dass es sich hier um ein strukturelles Problem der ARD handelt, das die Verantwortlichen über lange Zeit nicht nur ignoriert, sondern aktiv befördert haben.
Keine bzw. keiner der Wechselnden hat bislang öffentlich ein schlechtes Wort über seinen bisherigen Arbeitgeber verloren. Als der Boulevard spekulierte, zwischen Zervakis und dem NDR habe es ein "Zerwürfnis" gegeben, dementierten beide Seiten prompt. Dabei ist offensichtlich, wie sehr die ARD-Granden es als Selbstverständlichkeit betrachten, dass sich die im Umfeld der eigenen Sendergruppe groß gewordenen Journalistinnen, Moderatoren und Comedians mit dem zufrieden geben, was man ihnen an Präsenz im Programm zugesteht – und das ist leider allzu oft: nicht besonders viel.
Jetzt gebt euch halt zufrieden!
Jeder Korrespondentinnen- bzw. Korrespondenten-Job wird in der ARD turnusmäßig neu vergeben, Verantwortlichkeiten hinter der Kamera wechseln, etablierte Programmgestalterinnen und -gestalter erhalten neue Aufgaben und Herausforderungen – aber wer, wie Pinar Atalay, 2014 zu den "Tagesthemen" gekommen ist, dem muss es offensichtlich reichen, als Ersatz für Caren Miosga und Ingo Zamperoni einzuspringen. Und wer doch mal aus dem Korsett ausbrechen darf, hat immer damit zu rechnen, dass das nicht von langer Dauer sein wird. Im NDR durfte Linda Zervakis zwischen 2018 und 2020 sechs Folgen ihrer Personality-Reihe "Alles auf Anfang" moderieren – bis sie ihren Fans vor fast genau einem Jahr über Facebook mitteilte: "Der NDR hat im Zuge seiner Sparmaßnahmen entschieden, dass es diese Sendung nicht mehr geben wird. Das hat mich, ehrlich gesagt, ganz schön getroffen."
Dieser Umgang mit Talenten ist kein Versehen, sondern die Regel. Und selbst wenn nachher niemand "Zerwürfnisse" bestätigen möchte: Die Enttäuschung steht vielen prominenten ARD-Leuten ins Gesicht geschrieben.
Vor ein paar Wochen entschied der SWR überraschend, nach 16 Jahren die "Pierre-M.-Krause-Show" zu beenden. Gerade lief bereits die letzte Ausgabe des Late-Night-Kleinods, und der sonst mit unerschütterlicher Heiterkeit gesegnete Namensgeber der Show nutzte die Gelegenheit für eine (angesichts der Umstände immer noch erstaunlich höfliche) Abrechnung mit dem Sender, für den er sich all die Jahre abgerackert hat.
"Jetzt ist es rum. Kann man nix machen"
Er wolle sich "um Gottes Willen" nicht mit Angela Merkel vergleichen, die genauso lange Kanzlerin war wie er seine Late Night moderiert habe, sagte Krause: "Ich mein: Sie hört schließlich freiwillig auf." Er erklärte: "Ich bin dem SWR für diese lange Duldung und die Narrenfreiheit sehr dankbar. Und für die moralische Schulung: Geld verdirbt den Charakter, heißt es. Und es war nie eine Gefahr, der wir uns hier ausgesetzt sehen mussten." Wenn irgendwo Gebühren gespart worden seien, "dann bei uns – das verspreche ich Ihnen!" Krause dankte seinen Fans, der Band, holte das Team vor die Kamera und reaktivierte sogar Mambo Kurt für ein letztes Orgelgeleit. Dann verabschiedete er sich: "Jetzt ist es rum. Kann man nix machen."
Ich will nicht melodramatisch werden, aber: Welche Existenzberechtigung hat eigentlich ein Sender, der auch treuesten Verfechtern des Systems und langjährigen Weggefährten das Gefühl vermittelt, dort lediglich geduldet zu sein?
Dieser Umgang ist – man kann das nicht anders formulieren – eine Schande, und die gibt's in der ARD-Familie wie andernorts Erdbeermarmelade: hausgemacht. Und zwar in den Programmdirektionen von Hamburg über Köln bis Stuttgart und München, wo man Talente so lange in den eigens für sie geschaffenen Nischen versauern lässt, bis die kollektiv eingesehen haben: Hier will wirklich niemand mehr, dass ich noch was werde.
Bald mehr Platz für "Köpfe"?
Mag sein, dass vieles der komplizierten Koordination zwischen Landesrundfunkanstalten und Programmdirektion geschuldet ist, in der konkrete Zusagen eher zur Ausnahme gehören. Das Elend setzt sich aber ja in den Dritten fort. In weiten Teilen des Verbunds scheint es schlicht und einfach kein Gespür dafür zu geben, dass sich so heute kein Programm mehr machen lässt – erst recht kein plattformübergreifendes, das endlich (wieder) alle Ziel- und Altersgruppen erreichen will.
Vor einem Jahr hat der damalige Das-Erste-Programmchef mit seinem Interview in der "Bild am Sonntag" – ihm fiel keine Frau ein, die in einer Samstagabendshow "große Mehrheiten für sich begeister[n]" könne – all dem die Krone aufgesetzt. Auch wenn Volker Herres es nachher nicht so gemeint haben will, muss dieser Satz für viele in der ARD – unabhängig vom Genre – wie das letzte Signal gewirkt haben, sich nach etwas Neuem umzusehen.
Herres' Nachfolgerin Christine Strobl und ihrem Team fällt dieses kollektive Versagen nun auf die Füße. Ihre neue Gesamtstrategie fürs Erste setze stärker auf "Köpfe", hat Strobl gerade in einem Pressegespräch angekündigt – aber scheinbar auch nur diejenigen gemeint, die ihr Plätzchen in der ersten Reihe schon sicher haben. Und in die erste Reihe wird man in der ARD nur gelassen, wenn sich wirklich gar kein Gremium mehr gefunden hat, das dies noch zu verhindern wusste.
Hier entlang in die Sparte, bitte
Vor einigen Jahren zeigte der BR montagabends die im besten Sinne öffentlich-rechtliche Regional-Reportagereihe "Jetzt mal ehrlich", unter anderem moderiert von Rainer Maria Jilg. Der reiste durch ganz Bayern, um über Entwicklungen der Zeit sowie Konflikte und Chancen im Lokalen zu sprechen – genau das, wofür sich die "Tagesthemen" mit ihrer "mittendrin"-Rubrik heute rühmen, bloß ausführlicher und zur besten Sendezeit. 2016 war plötzlich Schluss, weil die Reihe nicht mehr ins neue Programmschema passte. Jilg darf seitdem "Planet Wissen" moderieren – im allerspartigsten Spartenkanal von allen: ARD alpha. Seine interessante Audio-Doku "Blutige Wiesn" über das Oktoberfest-Attentat von 1980 ist gerade nicht etwa auf einer BR-Plattform gelaufen, sondern beim Pro-Sieben-Sat.1-Audio-Ableger Fyeo abrufbar.
Jilgs "Planet Wissen"-Co-Moderatorin Caro Matzko (kann witzig und seriös sein!) wird als Partnerin von Hannes Ringlstetter in dessen BR-Talk immerhin schon mal kurz ins Erste gelassen. Angesichts der mäßigen Quoten dürfte das aber vermutlich auch bloß eine Berufung auf Zeit sein. Lief mit dem "ARD-Gesundheitscheck" für sie ja schon mal ganz ähnlich.
Auf den ersten Blick mag es verwundern, dass sich die ARD mit dieser Strategie nicht schon viel früher eine blutige Nase geholt hat. Tatsache ist aber auch, dass es für viele Moderatorinnen und Journalisten lange schlicht und einfach keine gute Alternative gab.
Die Privaten können ihr Glück kaum fassen
Den Privaten schienen Informationen eher lästig, viele sendeten nur das Notwendigste oder gliederten wie Pro Sieben Sat.1 ihre Nachrichten-Redaktion gleich ganz aus. Bei RTL liefen Interviews mit hochrangigen Politikerinnen und Politikern in voller Länge erst gegen Mitternacht, wenn man dank der Unterhaltung in Sachen Marktanteil auf der sicheren Seite war. Dass sich das gerade ändert und die Privaten ihre Ambition als Informationsvermittler (neu) entdecken, ist großartig.
Vor allem aber wird man in Köln und Unterföhring sein Glück kaum fassen können, dass da so viele Talente sind, mit denen sich die neuen Strategien umsetzen lassen – weil sie die ARD über viele Jahre genau dafür aufgehoben und ausführlichst zum Wechsel motiviert hat.
Es ist eine Mischung aus Schusseligkeit, Unprofessionalität und Versagen, mit der sich Europas größter Senderverbund in diese Lage gebracht hat. Und die gute Nachricht lautet: Die ARD kann da wieder rauskommen! Indem sie den Frustrationskreislauf, in dem viele der selbst aufgebauten Leute gefangen sind, endlich durchbricht; indem sie Bereitschaft zeigt, über viele Jahre gewachsene Schemata zu durchbrechen; und vor allem: eine senderübergreifend koordinierte Lobby für Talente jeden Alters einsetzt – für alle, die noch denn Ehrgeiz und die Lust haben, in den Programmen der ARD was zu werde, wenn sie ihre Ideen, ihr Können, ihre Leidenschaft einbringen können.
Anstatt von all den Beckmanns, Schönenborns und Hinrichs weiter vertröstet, verschoben und abgesetzt zu werden.
Wer braucht schon Reflektion?
Ein erster Schritt, um das zu schaffen, müsste eigentlich sein, das eigene Versagen anzuerkennen und zu reflektieren. Und hier kommt leider die schlechte Nachricht: Es sieht derzeit nicht danach aus. Dass prominente Köpfe die ARD verließen, sei nichts Ungewöhnliches, erklärte der amtierende ARD-Vorsitzende und WDR-Intendant Tom Buhrow erst kürzlich – es habe schon immer Zu- und Abwanderung gegeben. Dummerweise hat Buhrow nicht verstanden, dass es zunehmend schwerer werden wird, Journalistinnen und Moderatoren noch für einen Senderverbund zu begeistern, der vielen weder Anerkennung noch Treue versprechen mag. Und stattdessen Ehrerbietung und Dankbarkeit erwartet.
"Es hat wirklich – trotz allem – Spaß gemacht", beerdigte Pierre M. Krause am vergangenen Sonntag seine SWR-Show. "Wir haben immer gemacht, was wir gut fanden. Und das ist im heutigen Fernsehzeitalter keine Selbstverständlichkeit mehr." Man muss vielleicht dazu sagen: Vor allem nicht bei der ARD.
Und damit: zurück nach Köln.
Die letzte Ausgabe der "Pierre M. Krause Show" ist in der ARD Mediathek abrufbar.