Im vergangenen Jahr wurde in deutschen Wäldern die Rekordmenge von 80,4 Millionen Kubikmetern Holz eingeschlagen, meldete das Statistische Bundesamt kürzlich – und die wenigsten wissen, dass alleine die Hälfte davon nach Unterföhring ging, damit Sat.1 dort den Holzweg verlängern konnte, auf dem der Sender seit vielen Monaten unterwegs ist.
Eigentlich schien der vorläufige Tiefpunkt bereits Anfang April erreicht zu sein, als man sich erst für den Homophobie-Eklat zum Auftakt der zweiten "Promis unter Palmen"-Staffel entschuldigen musste – den man bei der Ausstrahlung zuvor sehenden Auges in Kauf genommen hatte. Nach dem plötzlichen Tod von Willi Herren verzichtete Sat.1 schließlich ganz auf die Ausstrahlung der weiteren Folgen.
In der vergangenen Woche hat der Sender aber noch mal eins drunter gesetzt und befindet sich seitdem in einem öffentlich ausgetragenen Streit mit dem Entertainer Matthias Distel, der problematische Verhältnisse am Set der Sat.1-Produktion "Plötzlich arm, plötzlich reich" publik machte.
Erst "bedauerte" man eingeschnappt, dass Distel Details über die betroffene Familie (die dieser durch den Drehabbruch schützen wollte) in die Öffentlichkeit gebracht habe und ließ die Lage weiter eskalieren. Am Samstag folgte dann doch noch die Erkenntnis, dass dies nicht reichen würde: "Plötzlich arm, plötzlich reich" wird mit sofortiger Wirkung abgesetzt. Man bitte "die Öffentlichkeit und die Familie um Entschuldigung".
Schon wieder.
Ambitionen in Schutt und Asche
Die Angelegenheit ist nicht nur kommunikativ ein Desaster, sondern auch das mehr oder weniger konsequente Endergebnis einer Programmstrategie, die aus einem Sender, der immer als ein bisschen zu bieder galt, völlig unnötig eine Skandalschleuder gemacht hat. Die in der Auseinandersetzung mit einem Partyschlager-Interpreten, der sonst weibliche Brüste und Salat aus Knollengewächsen besingt, nicht wie die glaubwürdigere Seite wirkt.
Es ist noch gar nicht so lange her, dass der damalige Sat.1-Chef Kaspar Pflüger erklärte, der Sender müsse "deutlich lauter" werden, um aufzufallen. Das ist ihm (so ziemlich als einziges) gelungen. Dummerweise halt für den Preis, Sat.1 dabei so richtig den Ruf ruiniert zu haben. Vor zwei Wochen hat sich der Ex-Chef in Richtung Produktionsgeschäft verabschiedet – und eine verheerenden Bilanz hinterlassen.
Zumindest ist die Liste der Flops aus den vergangenen Jahren beachtlich: "Start up!", "Das große Promi-Flaschendrehen", "Mord mit Ansage", "Hotel Herzklopfen", "United Voices", "Dancing on Ice", "No Body is Perfect", "Pretty in Plüsch", "The Voice Senior", "Claudias House of Love", "5 Gold Rings", "Big Brother" – nur wenige neue Formate haben die erste Staffel überdauert, manche nicht mal die ersten Folgen. Die Serien-Ambitionen sind beerdigt. Der reanimierte "Fun Freitag" liegt in Schutt und Asche. In Sachen Infotainment rangiert Sat.1 weit abgeschlagen hinter der Schwester ProSieben.
Dafür scheint man mit den zahlreichen Reality-Eklats all die Rüpeleien nachholen zu wollen, mit denen sich andere Privatsender schon vor Jahren die Finger verbrannt haben.
ProSieben hat Bock, Sat.1 hat Rücken
Jetzt soll ProSieben-Chef Daniel Rosemann retten, was noch zu retten ist, indem er mit seinem Team zusätzlich auch die Verantwortung für Sat.1 übernimmt. Damit ist der Sender sozusagen das Familienministerium von Unterföhring. Gleichzeitig erfüllt sich auf diesem Weg endgültig die Urangst von 2008, als Sat.1 seinen Berliner Standort aufgeben musste, um nach Bayern zu ziehen: dass man dadurch Unabhängigkeit verlieren und mehr oder weniger zum ProSieben-Anhängsel werden könnte.
Inzwischen muss man sagen: Das ist definitiv nicht das Schlechteste, das Sat.1 in seinem jetzigen Zustand passieren kann. Auch wenn Rosemann um seine künftigen Entscheidungen gewiss nicht zu beneiden ist, wenn er abzuwägen hat, wie sich das Sendergruppensorgenkind aufpäppeln lässt, ohne dadurch dem Musterknaben in die Quere zu kommen.
Fakt ist, dass die beiden TV-Geschwister derzeit Welten trennen:
ProSieben hat ein fest etabliertes Starensemble, mit dem sich sogar Shows veranstalten lassen, in denen man als Sendergemeinschaft gegen seine beiden prominentesten Köpfe in Wettstreit tritt. Sat.1 hat Luke Mockridge, Jochen Schropp – aber so gut wie alle anderen Talente, mit denen man mal zusammenarbeiten wollte, hängen lassen, wenn es im ersten Anlauf nicht so geklappt hat wie geplant.
ProSieben hat Strahlkraft, Glaubwürdigkeit und etwas für einen Fernsehsender ganz Erstaunliches, nämlich: ein fest etabliertes Wertefundament, das stetig gepflegt wird. Sat.1 hat ständig Ärger, schlechte Quoten und jetzt sogar Stress mit den eigenen Protagonisten.
ProSieben hat "The Masked Singer". Sat.1 hat "Promi Big Brother".
ProSieben hat Bock. Sat.1 hat Rücken.
Gesucht: Erfolgreicher Stabilisator
37 Jahre nach seiner Gründung wirkt der Kanal, der einst die Ära des Privatfernsehens in Deutschland begründete, vor allem: kaputtversucht. Die vor einigen Jahren getroffene Entscheidung, mit dem einstigen Familiensender in Richtung Reality abzubiegen, hat diesen Verfall massiv beschleunigt. Mag sein, dass sich so kurzfristig wieder Quoten erzielen ließen, die längst Vergangenheit schienen. Nachhaltig war das – bis auf wenige Ausnahmen – jedoch nicht.
Vor allem aber hat die Irrfahrt eines der größten Probleme des Senders ausgeleuchtet: Mehr denn je wirkt Sat.1 heute wie ein wahllos aneinander getackertes Format-Sammelsurium, dem eine Klammer fehlt, die alles zusammenhält.
Die Daytime ist zugepflastert mit Unfall- und Katastrophen-Realitys, die zunehmend in die Primetime schwappen ("Auf Streife", "Auf Streife – Berlin", "Auf Streife – Die Spezialisten", "112 Notruf Deutschland" usw.). Neue Entertainment-Versuche wirken – trotz origineller Grundideen – halbherzig und gedankenlos umgesetzt. Und wenn nicht gerade eine "Harry Potter"-Wiederholung den gewohnten Quotenschmerz zu lindern versteht, kriegt man die Neugierde des Publikums in Unterföhring notfalls mit egalen Bullshitvideo-Zusammenschnitten heruntertemperiert: "111 knattergeile Kollegen", "111 alberne Angeber", "111 verrückte Verkehrskracher", "111 haarsträubende Hobbys", "111 saftige Sat.1-Sottisen". (Und nur einen Titel davon hab ich erfinden müssen.)
Empfohlener externer Inhalt
An dieser Stelle finden Sie einen externen Inhalt von Twitter, der den Artikel ergänzt. Sie können sich den Inhalt anzeigen lassen. Dabei können personenbezogene Daten an Drittplattformen übermittelt werden. Weitere Informationen finden Sie in unserer Datenschutzerklärung.
Reparieren, was kaputt gegangen ist
Die beste Nachricht für den auserkorenen Sat.1-Stabilisator Rosemann in seinem neuen Zweitjob ist: Er muss nicht komplett bei null anfangen.
Formate wie "Das große Backen", "The Voice" und meinetwegen auch "The Biggest Loser" und "Hochzeit auf den ersten Blick" haben sich als Publikumskracher erwiesen, können gepflegt und gefestigt werden. Das "Frühstücksfernsehen" ist eine sichere Bank, an der die Konkurrenz nicht so leicht vorbeikommt. Und vielleicht lässt sich auch ein bisschen was von dem reparieren, was in den vergangenen ein, zwei Jahren unnötig kaputt gegangen ist.
Warum zum Beispiel ist Bülent Ceylan nicht präsenter im Sat.1-Programm? Mit einer klassischen Comedy, die – bei passendem Konzept – ja vielleicht im zweiten Anlauf klappen könnte; oder mit einer Fortsetzung von "Lass ma mache", einer erstmals vor zwei Jahren versuchten Mischung aus sozialkritischer Comedy und Überraschungsshow, in der Ceylan Rocker ins Seniorenheim schickte, Müll am Rhein sammelte und die Taxischicht eines Multijobbers übernahm, damit der in s Fußballstadion gehen konnte. Das war und lief ganz gut, verschwand aber direkt wieder in der Versenkung.
Für mehr zweite Chancen!
Wo sind denn die neuen Shows für Faisal Kawusi und Sarah Lombardi, die nicht sofort aus dem Programm gekippt werden, wenn Zuschauerinnen und Zuschauer sich erst daran gewöhnen müssen, von Sat.1 wieder relevantes Entertainment erwarten zu können? (Damit Luke Mockridge nicht mehr so alleine auf verlorenem Posten steht.)
Hat Martina Hill vielleicht nach "Knallerfrauen" Lust auf was Neues? Was macht eigentlich Marc Bator im Anschluss an die "Sat.1 Nachrichten"? Und klappt das noch, Ralf Schmitz eine Show zu geben, bevor die Ankündigung, von RTL zu Sat.1 zu wechseln, bald einjährigen Geburtstag feiert?
Gegen die Wiederherstellung von Sat.1 wirkt die angekündigte Neupositionierung von RTL wie die läppischen Auftaktspiele der neuen "Gegenteilshow". Und weil auch Rosemann das weiß, hat er schon mal angekündigt, "etwas Zeit" zu brauchen – bis Sat.1 zum 40. Geburtstag in drei Jahren wieder strahlen soll, um "Unterhaltung mit Herz" zu liefern. Vielleicht würde es auf diesem Weg schon helfen, künftig nicht mehr als Resterampe für aussortierte ProSieben-Flops herhalten zu müssen. Vor allem aber braucht Sat.1 etwas, das für TV-Sender im Jahr 2021 längst kein schickes Accessoire mehr ist, sondern eine unbedingte Notwendigkeit, um zu überleben: Sat.1 braucht endlich wieder eine eigene Handschrift.
Und damit: zurück nach Köln.