Es ist quasi der Fluch des öffentlich-rechtlichen Rundfunks, sich ständig anhören zu müssen, was er alles falsch macht: von seinem Publikum, von Politikerinnen und Politikern, sogar von windigen Sonntagskolumnisten. Immerhin sagen die allermeisten dazu, dass sie trotzdem nicht auf ihn verzichten wollen würden.
An diesem Schlamassel sind ARD und ZDF auch ein Stück weit selbst schuld. Weil sie es ihren Befürworterinnen und Befürwortern mit all der Unbeweglichkeit, den verschleppten Reformen, dem Weiter-so im Programm oft nicht einfach machen, sie zu verteidigen. Denen, die zuerst an Kürzungen denken, dafür umso mehr. Reiner Haseloff zum Beispiel.
Reiner Haseloff muss mehr fernsehen
Sachsen-Anhalts Ministerpräsident forderte – nachdem sein Bundesland das Inkrafttreten des neuen Medienstaatsvertrags und die Erhöhung des Rundfunkbeitrags verhinderte – Ende des vergangenen Jahres im Interview mit der "Welt", "dass ARD und ZDF nach 30 Jahren endlich im vereinigten Deutschland ankommen" (Abo-Text). Die Sender seien "in vielen Sparten Westfernsehen geblieben", man merke, dass sie mit dem Osten fremdeln: "Zuweilen erinnert das an Auslandsreportagen, was da gebracht wird." Um seinen Argumenten Nachdruck zu verleihen, antwortete Haseloff anschließend auf die Frage, was er sich denn im Fernsehen anschaue: "Dazu habe ich eigentlich gar keine Zeit."
Ich glaube, Reiner Haseloff muss mehr fernsehen, wenn er weiter Interviews dazu geben will, wie gutes Fernsehen aussehen soll.
Vielleicht würde ihm dann auffallen, dass die Sender vieles von dem, was er (und andere Kritikerinnen bzw. Kritiker) fordern, längst erfüllen: in den Dritten Programmen zum Beispiel. Es ist dort oft nur sehr, sehr, sehr gut zwischen "Tatort"-Wiederholungen, Spargelrezepten, Heimatschwärmerei, Eisenbahnromantik, den immer selben "Marktchecks" und einer Inflation von Camping-Sendungen versteckt.
Reportage aus einem "Land voller Gegensätze"
Ende des vergangenen Jahres hat der MDR zum Beispiel die 90-minütige Reportage "Was will der Osten?" gezeigt, zur besten Sendezeit nach der "Tagesschau". Der Film von Ariane Riecker und Dirk Schneider ist die Reise durch ein – wie sie selbst sagen – "Land voller Gegensätze". Bloß dass es diesmal nicht um die Unzufriedenen geht, sondern um Menschen, die sich einen Aufbruch wünschen. Im sächsischen Augustusburg demonstriert Bürgermeister Dirk Neubauer (Foto oben), wie Politik Vertrauen zurück gewinnen kann: Indem er über die sozialen Medien per Video ständig Kontakt zu Bürgerinnen und Bürgern hält, Entscheidungen transparent macht und mitbestimmen lässt, für welche Produkte Fördermittel eingesetzt werden. "Wir brauchen eine völlig neue Politikidee – und die muss in ihrem Kern kommunal sein", sagt Neubauer – und erzählt, wie das jetzige System dafür sorgt, dass der Bau des neuen Sportplatzes wegen des langwierigen Förderantrags teurer wird als ohne den bewilligten Zuschuss.
An der tschechischen Grenze in Seifhennersdorf haben sich Bürgermeisterin, Stadtrat und Eltern bis zum Bundesverfassungsgericht durchkämpfen müssen, um ihre Mittelschule zu behalten, die ihnen der Kreis wegen falscher Prognosen dichtmachen wollte. In Sachsen-Anhalt hat Thomas Jäger aus Naumburg versucht, mit seiner Initiative ein Gesetz zu erzwingen, das die Einstellung von Lehrkräften an die Geburtenzahlen im Land koppelt, um endlich gegen den Lehrerinnen- und Lehrermangel anzugehen. Doch selbst 80.000 gesammelte Unterschriften reichten nicht aus, um die Landespolitik zum Einlenken zu bewegen.
In Dresden arbeitet das Robotik-Start-up Wandelbots daran, einen Weltmarktführer für die einfachere Programmierung komplexer Systeme aufzubauen. Dresden als Standort stand für das Gründerpaar außer Frage, auch wenn die Investoren es gerne anders gesehen hätten. Doch den Mitarbeitenden aus 14 Nationen, die nach Sachsen gekommen sind, wird es dort nicht immer einfach gemacht; manche sind in der Stadt schon bepöbelt worden, weil sie ausländisch aussehen.
Der Film ist die sehenswerte Dokumentation eines neuen Selbstbewusstseins im Osten, die Zukunft zu gestalten – und sich dabei nicht nur über die Hürden der Vergangenheit, sondern auch die Vorurteile der Gegenwart hinwegsetzen zu müssen. Er ist auch die schonungslose Offenlegung der Versäumnisse einer Politik, die viel zu selten auf die Bedürfnisse der Menschen achtet. In erster Linie aber ist "Was will der Osten?": wahnsinnig gutes regionales Fernsehen. (Ganze Reportage ansehen.)
Was die Integration von Geflüchteten im Alltag bedeutet
Man muss dafür gar nicht immer den ganz großen Bogen spannen. Manchmal reicht auch: hingehen, erzählen lassen, zuhören. So wie es Diana Deutschle für ihre Reportagereihe "Wir schaffen das! Oder?" im südhessischen Pfungstadt getan hat. Über mehrere Monate begleitete die Autorin für den Hessischen Rundfunk im vergangenen Jahr unterschiedliche Menschen, um zu erzählen, wie die Integration der in den Ort gekommenen Flüchtlinge funktioniert und an welchen Stellen es noch hakt.
Die Zuschauerinnen und Zuschauer sind dabei, wie die aus Irak stammende Familie Ibrahim aus der engen Notunterkunft nach zwei Jahren überglücklich in ihre eigene Bleibe ziehen kann. Es geht um die Anstrengung, die notwendig war, den muslimischen Frauen den Radfahrkurs zu ermöglichen – weil ihnen Fahrradfahren in der Heimat Afghanistan verboten ist; um Streit und Versöhnung in der von engagierten Pfungstädtern organisierten Fußballgruppe; und um den syrischen Anwalt Anas Al Saadi, der 2015 nach Hessen kam, erst Deutsch gelernt, dann Anschluss und schließlich einen Job als Sozialarbeiter in der Flüchtlingshilfe des Landkreises gefunden hat.
Die anderthalb Stunden vermitteln einen anschaulichen Einblick in die Anstrengungen, die Integration von Geflüchteten im Alltag bedeutet – dem Alltag beider Seiten; und was die Überwindung traditioneller Rollenbilder, sprachlicher Barrieren und kultureller Verschiedenheiten damit zu tun hat. In erster Linie ist die Reihe jedoch ein Plädoyer dafür, dass sich Integration lohnt, wenn sich alle gleichermaßen ins Zeug legen. (Erste Folge ansehen.)
Kuchen essen und über Politik reden
Anstrengen wollen sich auch die allermeisten Leute, die Janett Eger für ihre Anfang des Monats gelaufene MDR-Reportage "Mein Sofa – meine Meinung" getroffen hat, um kurz vor der Wahl in Sachsen-Anhalt zu fragen, was sie sich für ihr Leben wünschen und welche Unterstützung sie dafür von der Politik erwarten. Eger hat sie dafür nicht ins Fernsehstudio geholt, sondern ist zu ihnen nach Hause gekommen – aufs Sofa, um bei Kaffee und Kuchen zu quatschen und nachher noch einen Spaziergang zu machen. (Ganze Reportage ansehen.)
Es ist keine Meckertour geworden, ganz im Gegenteil. Arzthelferin Silke Hammer aus dem Burgenland sagt: "Ich finde viele Dinge richtig, die wir in Deutschland machen." Auch wenn sie selbst es als alleinerziehende Mutter nicht immer so einfach hat. Landwirt Stefan Randel ächzt unter dem behördlichen Aufwand, der ihm aufgebürdet wird: "Das hat sicher alles seine Berechtigung. Aber es ist zuviel!" Ingenieur José Contreras-Quintero, der aus Venezuela stammt, mag seine neue Heimat Halle, auch wenn ihm die Stadt manchmal das Gefühl gibt, fremd zu sein. Sein Plädoyer: Wir müssen auf unsere Demokratie besser achtgeben! Cafébesitzerin Annegret Brauckmann hat die Corona-Krise zugesetzt, aber sie sorgt sich mit ihren 81 Jahren auch um die Bewältigung der Klimakrise. Und Friederike Schmelz ist mit der Familie aus Bayern nach Dessau gezogen und hat sich auf dem Amt fragen lassen müssen, ob sie sich das wirklich gut überlegt hat.
Auf ein Meckerer-Sofa hat sich Eger auch gesetzt, um möglichst verschiedene Meinungen abzubilden. Und totzdem ist es eine Wohltat, dass in diesen 60 Minuten mal nicht vorrangig Menschen eine Rolle spielen, die sich in erster Linie darüber beschweren, nicht gehört zu werden. Die Sofa-Bilanz fällt nachher trotzdem eindeutig aus: Viele wünschen sich weniger Bürokratie, mehr Inklusion, eine Digitalisierung der Schulen, bessere ärztliche Versorgung im ländlichen Raum.
Wie schade, dass ihr Ministerpräsident keine Zeit hat, sich das im Fernsehen anzuschauen.
Wie lebt es sich am Rand der Gesellschaft?
In Ludwigshafen hat der SWR derweil eines der ehrgeizigsten Regionaldoku-Propjekte der vergangenen Jahre gestemmt (DWDL.de berichtete): "Die Bayreuther Straße", ein sechsteiliges Porträt des städtischen "Einweisungsgebiets", in dem Menschen untergebracht werden, die sonst vielleicht auf der Straße landen würden. "Wenn du einmal da bist, kommst du nicht mehr raus", sagt einer der porträtierten Protagonisten. Anders als in vergleichbaren Reihen der Privatsender geht es den Macherinnen und Machern von Filmreif TV um Chefredakteur Martin Spieker nicht darum, Armut und Faulheit auszustellen – sondern eher um einen unvoreingenommenen Blick auf ein Wohngebiet, das die meisten in Ludwigshafen längst als Hartz-IV-Endstation abgestempelt haben.
Obwohl sich "Die Bayreuther Straße" große Mühe gibt, den Zusammenhalt zu betonen, den viele Bewohnerinnen und Bewohner in ihrer "Familie" empfinden, ist die Einsicht in die dokumentierten Lebensverhältnisse bedrückend. Als Zuschauer ringt man abwechselnd mit den eigenen Vorurteilen und dem Unglauben, dass Menschen in Deutschland so untergebracht werden. "Die Leute wohnen sich hier krank und tot", sagt ein Sozialarbeiter. Im Mittelpunkt der Reportage stehen aber diejenigen, mit denen sonst niemand was zu tun haben will: Nicole und Danny, die darum kämpfen, das vom Jugendamt entzogene Sorgerecht für ihre Kinder zurückzubekommen; das polnisch-italienische Ehepaar, das alles daran setzt, aus der Schimmelwohnung auszuziehen; und Patricia, die für 160 Euro im Monat putzen geht, um Hartz IV aufzustocken, weil sie nicht einfach nur rumsitzen will.
Für den größten Teil des SWR-Publikums dürfte es eine fremde Welt sein, in der Menschen wegen wiederholten Schwarzfahrens zur Ableistung von 680 Gemeinwohl-Arbeitsstunden verurteilt werden und die Stromkostennachzahlung zur Existenzbedrohung wird. Trotz des positiven Untertons nimmt die Reihe ihre Protagonistinnen und Protagonisten aber nicht übermäßig in Schutz, sondern zeigt auch ihr wiederholtes Scheitern, manchmal an sich selbst. (Erste Folge ansehen.)
Zwei Familienbetriebe zwischen Tradition und Zukunft
Ums Anpacken geht es hingegen in "Rummel und Rübe", für die der HR gerade "zwei Familienbetriebe zwischen Tradition und Zukunft" porträtiert hat. Erzählt wird über einen Sommer hinweg abwechselnd vom Bio-Bauernhof, den Malte Groß und seine Freunde in Nordhessen vom Vater übernommen haben, und den Mühen der Schaustellerfamilie um Dennis Ruppert, die mit ihrem Fahrgeschäft "Frisbee" von einem Markt zum nächsten zieht.
Entstanden ist eine ausgeruhte Begleitung von Menschen, die sich entschieden haben, Verantwortung für einen Betrieb zu übernehmen, den vorherige Generationen aufgebaut haben; mit neuen Ideen – und neuen Herausforderungen. Auf dem Hof soll neben dem kleinen Laden ein Bistro entstehen und ein Bauwagen als Feriendomizil ausgebaut werden, um für zusätzliche Einkünfte zu sorgen, während die anhaltende Trockenheit auf dem Acker zunehmend Ernteausfälle bringt. Dennis Ruppert hat mit Kolleginnen und Kollegen, nachdem viele Jahrmärkte Corona-bedingt ausgefallen sind, im Spätsommer den "Kasseler Sommerspaß" samt Hygienekonzept organisiert, um nicht vollständig auf Einnahmen verzichten zu müssen.
"Rummel und Rübe" führt sein Publikum in den Alltag von Unternehmen, die in der regulären Berichterstattung sonst selten eine große Rolle spielen – und für die es doch einen enormen Aufwand bedeutet, sich nicht einfach den Anstrengungen des Alltags zu ergeben. Es ist ein in die Tiefe gehendes Porträt von Menschen aus der Region, die sich entschieden haben, auf sehr individuelle Art einen Unterschied machen zu wollen – Kontaktmöglichkeit inklusive. (Erste Folge ansehen.)
Ein Ansporn für relevantes Regionalfernsehen!
Alle diese Sendungen sind Beispiele dafür, was regionales Fernsehen zu leisten vermag, wenn es nicht bis zur Unkenntlichkeit durchformatiert worden ist und Autorinnen bzw. Autoren die Freiheit lässt, Menschen einfach erzählen zu lassen; und zwar nicht bloß, weil die vorher am lautesten geschrien haben. Diese Einblicke könnten auch für die Politik ein wichtiger Hinweis sein, etwa um eigene Versäumnisse zu erkennen – zumal es in vielen Reportagen immer wieder um dieselben Wünsche geht: bessere Bildung, weniger Bürokratie, mehr soziale Gerechtigkeit.
Vor allem aber müsste diese Art, Fernsehen zu machen, ein Ansporn für den öffentlich-rechtlichen Rundfunk sein, das noch viel öfter hinzukriegen. Auch wenn dafür das ein oder andere Spargelrezept, ein überflüssiger "Marktcheck" oder die hundertste "Tatort"-Wiederholung weichen müsste.
Und damit: zurück nach Köln.
Sämtliche Reportagen und Reihen sind derzeit in der ARD Mediathek abrufbar.