Liebe Christine Strobl, herzlich willkommen im neuen Job, dem schönsten Amt neben dem Papst! (Ich geh mal davon aus, dass dieser einst von Franz Müntefering erdachte inoffizielle Titel schon seit längerer Zeit nicht mehr für den SPD-Parteivorsitz gilt.) Seit diesem Wochenende sind Sie als Programmdirektorin für Das Erste und die ARD-Mediathek zuständig und bestimmen maßgeblich, welche Relevanz der Senderverbund künftig im Leben seiner Beitragszahlerinnen und Beitragszahler haben wird. Ich übertreibe vermutlich nicht, wenn ich prognostiziere: Wir erwarten Unmögliches von Ihnen, enttäuschen Sie uns bitte nicht.
Auf die Frage, ob Sie sich schon die größten Baustellen notiert haben, erklärten Sie gerade im dpa-Interview (DWDL.de berichtete): "Ich habe keine Liste – sowas lege ich mir nur zum Einkaufen an." Aber das macht ja nichts, dafür sind wir doch da!
Die ARD-Programmdirektion war ja schon immer eine Art Teamaufgabe (auch wenn Ihre Vorgänger das etwas anders interpretiert haben mögen): Sie sorgen für Spitzenprogramm – und wir, Ihre Auftraggeberinnen und Auftraggeber, hören auf zu nörgeln und schalten ein. Damit zwischendurch nichts durcheinander gerät, hab ich im Folgenden eine kleine To-Do-Liste für die Brieftasche vorbereitet.
Einfach ausdrucken, ausschneiden, zusammenfalten und immer dabei haben!
1. Die Mediathek anschieben!
Um für Zuschauerinnen und Zuschauern relevant zu bleiben (bzw. wieder zu werden), die Programmangebote vornehmlich online konsumieren, wollen Sie "regelmäßig eigene und originäre Angebote für die Mediathek schaffen" – und ich freu mich wahnsinnig, dass wir uns da schon so einig sind. Weil es auf Dauer nicht reichen wird, die bisher fürs klassische Fernsehen produzierten Inhalte online zu stellen und zu hoffen, dass "Rote Rosen" dort noch zum Zoomer-Hit wird. Eventuell liegt aber ein kleines Missverständnis vor, was das fürs lineare Angebot der ARD bedeutet.
2. Lineare Relevanz für alle!
Sie sagen: "Wenn ich auf unsere Analyse schaue und feststelle, dass 70 Prozent unserer TV-Zuschauerinnen und -Zuschauer des klassischen Fernsehprogramms über 50 Jahre alt sind, zeigt es mir, dass wir mit diesem Medium allein im Grunde keine Chance mehr haben, ein Angebot für alle zu machen." Und es ist ja richtig: Bisherige Sehgewohnheiten haben sich grundlegend verändert. Es hilft nur nichts, daraus falsche Schlüsse zu ziehen. Weil im altmodisch eingerichteten Sahnetortenladen mit Draußen-nur-Kännchen-Regel ausschließlich betagtere Gäste sitzen, käme ja auch keiner auf die Idee, zu behaupten, junge Leute mögen keinen Kuchen mehr. Die stehen halt bloß um die Ecke vor dem Laden mit den veganen Donuts Schlange.
Anders gesagt: Gutes lineares Fernsehen ist auch für ein jüngeres Publikum nicht tot. Bloß das lineare Fernsehen, wie es die ARD bislang zu machen gewohnt ist.
Die private Konkurrenz hat in den vergangenen Monaten immer wieder demonstriert, dass es Möglichkeiten gibt, jüngere Altersgruppen für Inhalte zu gewinnen, die in genau diesem Augenblick konsumiert werden müssen: Live-Shows, in denen singende Prominente hinter plüschigen Masken erraten werden; mehrstündige Dokumentationen, die in keiner Programmzeitschrift standen; Sendungen, die ihrem Publikum vermitteln, dass sie jetzt relevant sind. Davon hat die ARD, mit Verlaub, zu wenig – und es wird kaum helfen, linear immer weiter der Gruft entgegenzusenden, bloß weil mit der Mediathek eine On-Demand-Alternative für alle da ist, die das Erste sonst nicht mehr eingefangen kriegt.
3. Talente mit attraktiven Angeboten halten!
Anders formuliert: Die ARD braucht als Programmmarke insgesamt wieder mehr Gewicht bei Jüngeren – und das kann nur gelingen, wenn sie auch Talente verpflichtet, die das glaubhaft verkörpern. Sich all zu lange auf dem Erfolg mit Funk auszuruhen, wäre fatal. Denn zwischen den ganz Jungen und den Alten klafft im Angebot schon längst eine Riesenlücke.
Schlimmer noch: Die ARD hat in den vergangenen Jahren systematisch dafür gesorgt, selbst aufgebaute oder stark mit dem eigenen Senderverbund assoziierte Talente in den zahlreich veranstalteten Nischen versauern zu lassen, anstatt sie nach und nach auf größere Bühnen zu holen und so einen Generationenwechsel einzuleiten. Manche haben inzwischen resigniert, weil im Hauptprogramm kein Platz für sie ist. Andere gehen zur Konkurrenz, die ihnen bessere Angebote zu machen versteht.
Der ARD-Vorsitzende Tom Buhrow mag die Wechsel der vergangenen Wochen kleinreden – in Wirklichkeit sind sie aber ein totales Alarmsignal. Dass Matthias Opdenhövel sich von der "Sportschau" verabschiedet, um künftig exklusiv für die Seven.One Entertainment Group zu arbeiten, dürfte auch daran gelegen haben, dass man dem Moderator dort genau das "Gesamtpaket" aus Sport und Unterhaltung bieten konnte, mit dem die ARD ihn ursprünglich mal zu sich gelockt hatte – um die Zusage für die Unterhaltung nach ein paar verkorksten Show-Versuchen in der Primetime wieder einzukassieren.
Und dass Linda Zervakis die "Tagesschau" verlässt, um künftig mit Opdenhövel ein aktuelles Magazin zu Themen aus Politik und Gesellschaft bei ProSieben zu moderieren, ist nachvollziehbar. Vergleichbares wäre im Ersten vermutlich kaum möglich gewesen, nicht mal zu späterer Sendezeit – dafür scheint im starren Programmschema (und in den Köpfen der Verantwortlichen) schlicht kein Raum zu sein.
4. Für Flexibilität sorgen!
Exakt das ist ein wesentliches Problem des Gemeinschaftsprogramms. Die meiste Zeit des Jahres besitzt das Erste die Flexibilität eines Kettenhemds: maximale Sicherheit bei minimaler Bewegungsfreiheit. Für eine moderne Programmmarke, die eine Vielzahl von Perspektiven berücksichtigen sollte, kann das kaum mehr eine dauerhafte Lösung sein.
5. Frauen in die Unterhaltung!
Warum moderiert Katrin Bauerfeind bald bei RTL ihre erste Primetime-Show und nicht im Ersten? Weil das dort nur Männer können – lautete bislang die Antwort, die Ihr Vorgänger im vergangenen Jahr zwar nachher nicht so gemeint haben wollte. Mit der Notwendigkeit, den Gegenbeweis zu erbringen, hatte er es aber auch nicht eilig. Dabei ist wenig im Ersten so reformbedürftig wie die klassische Unterhaltung, die ihrem Publikum zwar zweifellos beliebte Angebote machen kann. (Die tatsächlich allesamt von Männern moderiert werden.) Aber halt auch wahnsinnig in die Jahre gekommen wirkt.
Die frischeste Idee stammt mit "Wer weiß den sowas XXL" von 2015, und der einzige Vorjahres-Neustart "Quiz ohne Grenzen" geht auf die "Spiel für dein Land"-Idee zurück, ebenfalls von 2015. "Klein gegen groß" und "Hirschhausens Quiz des Menschen" sind von 2011 bzw. 2010, Florian Silbereisen moderiert seine "Feste" seit 2004 und "Verstehen Sie Spaß?" feierte im Vorjahr 40. Geburtstag.
Mehr kriegt der größte öffentlich-rechtliche Senderverbund der Welt in Sachen Show echt nicht auf die Kette?
6. Im Ernstfall schneller aktueller!
Damit wir uns nicht falsch verstehen: Es ist nicht nur die klassische Unterhaltung, in der es hakt. Viele fragen sich, ob es bei herausragenden Vorkommnissen nicht Pflicht des Ersten wäre, das laufende Programm früher mit nachrichtlichen Einordnungen zu unterbrechen – und Sie versprechen: "Bei einer bestimmten Bedeutung des Ereignisses wünsche ich mir auch, dass wir im Ersten sehr schnell live dabei sind." Nicht wünschen, durchsetzen!
7. Mehr Genre-Vielfalt für die Fiktion!
Kriegen wir ein bisschen Aufbruch auch im Fiktionalen hin, für das sie mit Verweis auf "Babylon Berlin" bereits angekündigt haben, "ein bis zwei Formate dieser Größenordnung pro Jahr" auf den Weg bringen zu wollen? Ich mag kein Spielverderber sein, aber: Wird das wirklich ausreichen, um mitzuhalten? Sicher, das Erste hat Erfolge wie "Charité" und hervorragend produzierte Miniserien wie "Das Geheimnis des Totenwalds" vorzuweisen. Aber warum keine auch visuell modern inszenierte Reihe wie "Sherlock", keinen Realitätsschocker wie "Years and Years", nichts ansatzweise Vergleichbares mit "Fleabag" und keine Gegenwarts-Politdramen wie "Roadkill" oder "Bodyguard" (allesamt BBC)? Ach ja, weil man seit Jahren darauf eingestellt ist, Fernsehkrimis am Fließband zu produzieren.
In der zurückliegenden Woche hab ich einen ganzen "Kroatien-Krimi" im Ersten durchgehalten, weil die Landschaften im Hintergrund so schön waren, die Story allerdings so läppisch, vorhersehbar und egal, dass es eher eine Disziplinierungsübung als ein gelungener Fernsehabend war. (Ich weiß, über 6 Millionen Menschen sahen das anders – umso verlockender ist es, weiterhin auf Gewohntes zu setzen.)
"Für das fiktionale Erzählen ist es immer ganz gut, ein paar Jahrzehnte vergehen zu lassen. Dann kann man die Dinge wirklich besser beurteilen", haben sie mit der Erfahrung als langjähriger Chefin der Spielfilmtochter Degeto gerade die Vergangenheitsbesessenheit der ARD bei Fiction-Inhalten erklärt. Genau so sieht das Programm halt oft auch aus: ziemlich gut abgehangen. Kann es sein, dass die ebenfalls sehr, sehr eingespielt wirkende Degeto ein wesentlicher Teil des Modernisierungsproblems der ARD ist?
8. Bitte keine Tanker-Vergleiche!
Vor über zehn Jahren hat Volker Herres, der nun vorzeitig Platz gemacht hat, zu seinem Antritt als Programmdirektor gesagt: "Ich bin der freundliche Consultant im Dienste der Gemeinschaft." (Und später: "Ich interessiere mich nicht übermäßig für Einschaltquoten, sondern mehr für die Inhalte.")
Das war lustig, nur so mittelwahr – aber egal, wie man's dreht und wendet: Freundliche Consultants braucht die ARD heute gewiss keine, um sich zukunftssicher aufzustellen. Sondern eine Programmdirektorin, die dazu bereit ist, Versäumnisse der Vergangenheit aufzuholen und das im "Netzwerk des Miteinanders" auch durchzusetzen. Dafür wünsch ich Ihnen – schon aus Eigennutz – Geschick und Glück, Frau Strobl!
(Wenn's nicht gleich ganz rund läuft, besser den nahe liegenden Vergleich mit der ARD als Tanker, den man nicht so schnell auf neuen Kurs bringt, stecken lassen; spätestens seit Anfang des Jahres wissen wir ja, wie leicht so ein riesiges Lastenschiff auf Grund laufen und sich in enger werdenden Gewässern verkeilen kann, um den ganzen Betrieb aufzuhalten.)
Und damit: zurück nach Köln.