Hundertfünfunddreißig Jahre ist sie alt, Robert Louis Stevensons Erzählung vom "Seltsamen Fall des Dr. Jekyll und Mr. Hyde", aber sie war nie aktueller als heute. Zur Erinnerung: In dem Klassiker von 1886 versucht ein ehrgeiziger Arzt per Selbstversuch in seinem Laboratorium, das Böse vom Guten der menschlichen Seele zu trennen. Nach dem Konsum eines eigenhändig angerührten Drogentranks extrahiert er, ein tugendhaftes Mitglied der Gesellschaft, eine triebgesteuerte Kreatur aus sich selbst, die schnell durch ungezügeltes Aufbrausen sowie jegliches Fehlen von Selbstbeherrschung von sich reden macht und, weil der Verwandelte die Kontrolle verliert, in ihrem Umfeld alsbald für Angst und Schrecken sorgt.
Oder wie man bislang in Köln gesagt hat: RTL – willkommen zuhause!
Akkurater lässt sich die Geschichte der Biestwerdung des größten deutschen Privatsenders jedenfalls kaum zusammenfassen. Wobei das viel interessantere Motiv derzeit freilich die Rückverwandlung ist, die für die kommenden Monate in Aussicht steht. Aus dem umherwütenden Mr. Hyde der TV-Branche soll (wieder) ein freundlicher Dr. Jekyll werden.
Der lange Weg auf die gegenüberliegende Niveauseite
Dass man es in der Mediengruppe tatsächlich ernst damit meint, den Geist wieder in die Flasche zurückzustopfen, lassen die Andeutungen der vergangenen Wochen erahnen. Den Kolleginnen und Kollegen in der RTL-Kommunikation muss es zuletzt jedenfalls riesigen Spaß bereitet haben, eine Überraschungsmeldung nach der nächsten rauszuhauen und dabei zu imaginieren, wie sich die Journalistinnen und Journalisten in den Redaktionen ungläubig die Augen reiben, weil in den Vorankündigungen zeitweise mehr Action steckte als im Programm.
Im März gab der Sender bekannt, vom Dieter-Bohlen-verursachten Stockholm-Syndrom geheilt zu sein, stellte ein neues werktägliches Nachrichtenformat mit Ex-"Tagesschau"-Chefsprecher Jan Hofer in Aussicht, vermeldete die Entertainment-Rückkehr von Hape Kerkeling und griff die eigentlich ans Erste gerichtete Forderung der Initiative "Klima vor acht" auf, im Umfeld der Hauptnachrichten eine regelmäßige Klimaberichterstattung zu etablieren. Zwischenzeitlich hatte ich ein bisschen Angst, als nächstes könnte die Ankündigung einer Sonntagvormittags-Musikshow mit Maite Kelly folgen, die live vor ekstatisch klatschendem Publikum an den Kölner Rheinterrassen gesendet würde. Aber auch so sind die Signale, dass sich RTL nochmal neu erfinden will, unübersehbar. Selbst wenn man es derzeit noch der Presse überlässt, den Wandel zu "RTL United" zu deuten.
Die schlechte Nachricht ist: Wenn man einmal zugelassen hat, dass sich erwachsene Männer im deutschen Fernsehen zur Hauptsendezeit als lebendes Spaghettibuffet auf der Bühne positionieren, um die Ketchup-getränkte Masse (nach vorheriger Generalprobe im Nachmittagsprogramm) von der Partnerin wieder abgegessen zu kriegen, kann der Weg auf die gegenüberliegenden Niveauseite sehr, sehr weit wirken.
Wie ein T-Rex an der Leine
Es gibt aber auch eine gute Nachricht. Nämlich, dass für die beabsichtigte Umkrempelung des Programms schon was da ist, auf das sich aufbauen lässt: Zuletzt hatte der Sender bereits sichtbar Anstrengungen unternommen, mit Sondersendungen und Themenabenden mehr nachrichtliche Relevanz zu demonstrieren. Und dank Barbara Schöneberger, Thomas Gottschalk, Günther Jauch (gute Genesung!) und anderen sind Teile des RTL-Unterhaltungsprogramms auch jetzt schon familienkompatibel.
Das kann aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass wir uns aktuell noch in der Phase befinden, in der der Schulhofrüpel erste Andeutungen gemacht hat, künftig in der großen Pause weniger Mitschülerinnen und Mitschüler in den Schwitzkasten nehmen zu wollen und stattdessen vielleicht einen Häkelkurs zu belegen. Klingt nicht schlecht, bietet aber nach den Erfahrungen der Vergangenheit noch ausreichend Anlass für Misstrauen.
Eine Marke wie RTL mit neuen Werten aufzuladen – Empathie, Inspiration, Respekt – ist ein bisschen so, als wolle man einem Prollauto mit Heckspoiler bei laufender Fahrt zwei Kindersitze auf die Rückbank schrauben und den lackzerkratzten Prellbock vorne mit Blumenkästen verzieren. Es ist keineswegs ausgeschlossen, dass das gelingt. Aber dafür braucht der neue RTL-Geschäftsführer Henning Tewes nicht nur das bereits durchschimmernde Selbstvertrauen, sondern mindestens genauso viel Überzeugungskraft. Im Moment spaziert er nämlich mit einem ausgewachsenen T-Rex an der Leine durch Fernsehdeutschland und verspricht den eingeschüchtert entgegenkommenden Passantinnen und Passanten: "Der beißt nicht (mehr)!" Man würde es gerne glauben. Und beim Dinotätscheln trotzdem seine Hand behalten.
Respekt auch für Engelliebhaber
Eine der größten Herausforderungen wird sein, das Biest nur insoweit zu zähmen, dass es hinterher nicht komplett im Streichelzoo verschwindet – noch dazu mit Formaten, die über Jahre eine unverwechselbare Tonalität für sich etabliert haben. Immerhin: "Bauer sucht Frau" scheint sich erfolgreich von zwischenzeitlichen Trash-Tendenzen gelöst zu haben und interessiert trotzdem weiter ein Millionenpublikum. Deutlich komplizierter geriet die Neuauflage der einstigen Bloßstellungs-Reality "Schwiegertochter gesucht", die im vergangenen Sommer plötzlich seriöser und herzlicher wieder auftauchte, aber trotzdem noch mit Vera Int-Veen, die dafür allen absurden Alliterationen abzuschwören angab.
Auf neuem Sendeplatz schrammte die Wiedergutmachungs-Staffel nur noch ganz knapp an der Fremdscham vorbei, wenngleich man der Produktion die ganze Zeit über ansah, wie schwer es allen Beteiligten gefallen sein muss, angesichts des Mitwirkens spirituell überzeugter Engelliebhaber und emotional überforderter Muttersöhnchen nicht in alte Spott- und Erzählmuster zu verfallen.
Am härtesten dürfte der Schnitt bei "Deutschland sucht den Superstar" werden – auch wenn man fairerweise dazu sagen muss, dass der bisherige Statthalter nun ausgerechnet zum Ende einer Staffel geschasst wurde, in der er sich fast schon vornehm mit Verbalausfällen zurückgehalten hatte und verhältnismäßig oft bei der Sache blieb. (Wenn auch mit dem gewohnten Allmachtsanspruch.) Als raus war, dass die Zusammenarbeit mit RTL keine Fortsetzung finden würde, sagte Bohlen für die verbliebenen Liveshows bekanntlich kurzfristig ab, RTL holte als Ersatz Thomas Gottschalk in die Jury – und schien schon mal proben zu wollen, wie sich so ein grundrenoviertes "DSDS" im kommenden Jahr anfühlen könnte.
Schmaler Grat zwischen Freundlichkeit und Langeweile
Das Finale geriet am vergangenen Wochenende deshalb zu einem knapp vierstündigen Event gegenseitiger Respektbekundungen, bei denen sich Moderator, Jury und Teilnehmer in einer Tour gegenseitig versicherten, wie sehr sie sich schätzten und dem jeweils anderen den Sieg gönnen würden – was dem für so eine Show ja eigentlich erwünschten Nervenkitzel eher abträglich war.
So angenehm es auch gewesen sein mag, einen Abend unter Freunden zu verbringen: Den Zuschauerinnen und Zuschauern zuhause war's den Quoten nach zu urteilen eher egal, wer von den vier übrig gebliebenen Musketieren den Pokal am Ende der eher zähen Veranstaltung mit nachhause nehmen durfte. Und RTL hat direkt einen Vorgeschmack darauf bekommen, dass der Grat zwischen Freundlichkeit und Langeweile bei einem auf Wettbewerb angelegten Format ein ziemlich schmaler sein kann. (Trotzdem wollen wir mal hoffen, dass es kein böses Omen für die Neupositionierung war, dass die wohl mangelhaft zusammengelötete Trophäe bereits beim Anheben durch ihren neuen Eigentümer am Ende in zwei Teile zerbrach und das eingebaute Sendungslogo krachend zu Boden schepperte.)
Anders gesagt: Bei seiner Transformation vom Krawall- zum entertainigen Wertesender wird sich RTL nicht so einfach darauf verlassen können, dass nachher alle ganz selbstverständlich wieder einschalten. Dazu sind bislang ohnehin noch zu viele Fragen offen.
Verzehrverbote im Dschungelcamp?
Zum Beispiel: Wie passt eigentlich die Flut der Zwietracht provozierenden Reality-Formate bei TVNow zum neuen Markenbewusstsein, wenn der Streamingableger demnächst tatsächlich in RTL+ umbenannt wird? Heißt der Hauptprogramm-Wiederholungssender RTLplus bald RTLneo? Gibt es im Dschungelcamp nächstes Jahr Verzehrverbot für Kamelpenis, Straußenanus und Truthahnhoden oder wird Steffen Henssler einfach mit einer appetitlicheren Anrichtung beauftragt? Was passiert mit Vox, das in der Mediengruppe immer der "vernünftige" Sender sein durfte und sich diesen Part plötzlich mit dem großen Bruder teilen soll? Lässt sich im "Sommerhaus der Stars" auch friedlich spucken? Und falls RTL tatsächlich ARD-und-ZDFiger werden will: Müssen dann automatisch dieselben Fehler gemacht werden, die in Mainz und München bei der Programmgestaltung fürs übrig gebliebene Linearprogrammpublikum schon durchexerziert wurden?
Sicher kann man's auch als Verjüngungskur sehen, wenn statt des 67-jährigen Bohlen künftig der 57-jährige Kerkeling wieder mehr Platz im Programm einnimmt. Aber davon auszugehen, dass sich die Moderationsreste weiter gleichmäßig auf Daniel Hartwich und Jan Köppen verteilen lassen, wäre vermutlich doch arg leichtsinnig.
Wahrscheinlich ist, dass der TV-Branche ein paar hochinteressante Monate bevorstehen, die alte Sehgewohnheiten in Frage stellen könnten – das also, was beim hiesigen Publikum sonst gar nicht gut ankommt. Den Versuch ist es deshalb erst recht wert. Einfach nicht dran denken, dass die Angelegenheit mit dem Arzt und der Kreatur bei Stevenson damals nicht so gut für den Herrn Doktor ausging und ihm die Rückverwandlung versagt blieb, weil der Gegentrank wegen einer unpassenden Zutat seine Wirkung verfehlte. So was wird den Profis von RTL ja sicher nicht passieren.
Und damit: zurück nach Köln.