Irgendwo zwischen Boppard und Andernach ist "Deutschland sucht den Superstar" kürzlich 18 Jahre alt geworden. Mitten in den Castings zur aktuellen Staffel überraschte Vorjahressieger Ramon Roselly die Jury auf dem angemieteten Rheinschiff deshalb mit einer blauen Torte. Und man kam kurz ins Plaudern darüber, was das Format so besonders macht: "Es ist 'ne Sendung ohne Filter", meinte Maite Kelly. Und der neben ihr sitzende "Poptitan" erklärte: "Ich hab immer schon geglaubt, dass das lange lange Zeit erfolgreich ist. Der Grund dafür ist, glaub ich, dass wir immer gekämpft haben, nie satt waren."
Nun ist es gewiss nicht leicht, ausgerechnet Dieter Bohlen recht zu geben, aber: zu kämpfen gegeben hat es für "Deutschland sucht den Superstar" in den vergangenen Monaten wahrlich genug. Wenn TV-Formate Pechsträhnen haben könnten, hätte "DSDS" zuletzt einen ganzen Pechzopf an sich hängen gehabt (an dem teilweise sogar selbst weitergeflochten wurde).
Ein Jahr ist es her, dass RTL den damaligen Juror Xavier Naidoo vor die Tür setzte, nachdem dieser den Grat des Ignorierbaren mit seinen öffentlich geäußerten Verschwörungstheorien endgültig überschritten hatte. Nur wenige Monate später folgte ihm Neujuror Michael Wendler nach kruden Anschuldigungen ins Aus – und sorgte mit einem weiteren Verbalausfall dafür, dass sich der Sender mit Verspätung entschied, ihn aus den bereits laufenden Casting-Episoden herauszuschneiden (bzw. durch einen unscharfen Blob zu ersetzen).
Bart ab, Bohlen weg
Selbst die danach einkehrende Normalität währte gerade einmal zwei Monate. Zum Start des Auslands-Recalls auf Mykonos hatte sich Chefjuror Bohlen noch als Blitze schleudernde Gottheit hoch zu Ross inszenieren lassen und auf einem Felsen mit gen Himmel gerecktem Schwert "Das ist 'DSDS'!" gebrüllt – da folgte schon der nächste Hammer: Mitte März gab RTL bekannt, die bekannteste Castingshow Deutschlands künftig mit komplett erneuerter Jury fortführen zu wollen.
Kurz zuvor hatte ein diesjähriger Superstar-Anwärter anlässlich eines spontanen Umstylings im Recall noch darum gebeten, seinen Zottelbart behalten zu dürfen, denn: "Das wär sonst als würde man 'DSDS' drehen ohne Dieter Bohlen. Da fehlt was!" Jetzt ist nicht nur der Bart weg, sondern bald auch der Bohlen.
Wie es dazu kommen konnte, darüber schweigen sich beide Parteien bislang aus (und lassen Raum für Deutungen). Nur eins steht fest: Ein überzeugender Neuanfang dürfte für RTL zur Herkules-Aufgabe werden. Denn die für Produktion und Sender zentrale Frage lautet nun nicht mehr: Wie gewinnt man Musikerinnen und Musiker dafür, neben Bohlen die zweite bis vierte Geige zu spielen? Sondern: Wie lassen sich Persönlichkeiten von Rang und Namen davon überzeugen, das Erbe eines Formats anzutreten, welches über fast zwei Jahrzehnte so eng mit seinem Hauptprotagonisten verheiratet war, dass der es längst als sein Quasi-Eigentum betrachtet?
Im Casting-Kuriositätenkabinett
"Es gibt nur einen, der das entscheidet – und das bin ich", erinnerte Bohlen eine Kandidatin, die auf Mykonos gegen ihren Spontanrauswurf zu protestieren wagte, an seine von allen Beteiligten bislang unwidersprochen akzeptierte Rolle. Und als die Kandidatinnen und Kandidaten zuvor in einem Kuhstall hatten singen müssen, stand für den Chef bereits fest: "Die geilste Location ever. Hier machen wir jetzt alles. Das Casting für die nächsten zehn Jahre."
Daraus wird jetzt vermutlich eher nichts. (Wobei eventuell ein potenzieller Zwischenmieter bereit stünde.) Viel entscheidender ist aber ohnehin, dass die stetigen Diskussionen über die Besetzung der Jury bislang davon ablenken, dass "Deutschland sucht den Superstar" nach all den Jahren schrittweiser Anpassungen eine grundlegende Erneuerung nötig hätte.
Im Wesentlichen funktioniert die Sendung immer noch so, wie das Publikum es seit vielen Jahren gewohnt ist – und langsam, ganz langsam genug davon zu haben scheint. Die Castings sind seit jeher als eine Art Kuriositätenkabinett angelegt, das zwischendurch von tatsächlichen Stimmtalenten unterbrochen wird. Die Zeiten, in denen "DSDS" immer stärker zur Freakshow tendierte, indem die Selbstüberschätzung einzelner Teilnehmerinnen und Teilnehmer aktiv gefördert und deren unerbittliches Scheitern mit lustigen Quietschgeräuschen unterlegt wurde, um sie später wie Comicfiguren durch ins Bild montierte Falltüren im Boden verschwinden zu lassen, sind glücklicherweise schon seit längerem vorbei. Auch wenn weiterhin einzelne Nichttalente weitergelassen werden, die im Recall gebraucht werden, um für ausreichend Reibungsfläche zu sorgen. Selbst Bohlens Kommentare sind im Vergleich zu früher verhältnismäßig zahm geworden, was der Show wider Erwarten gut getan hat, nach all den Jahren zuletzt aber auch eine gewisse Müdigkeit ausstrahlte. (Wohingegen sich Maite Kelly in der aktuellen Staffel offensichtlich vorgenommen hast, in die Rolle des Bad Cop zu schlüpfen.)
Eine Realityshow, in der auch gesungen wird
Im darauf folgenden Recall werden die Teilnehmenden umfassend auf stimmliche und nervliche Belastbarkeit geprüft, damit die Jury entscheiden kann, wer übrig bleibt. Mehr noch als ums Singen und eine stimmige Performance geht es in dieser Phase darum, dem Publikum die unterschiedlichen Charaktere vorzustellen, sowie Streits und Strandausflüge, sich entwickelnde Liebeleien und Fehden zu inszenieren.
Wer das übersteht, wird in die Liveshows gelassen, die mal das Herz von "Deutschland sucht den Superstar" waren, weil die Talente dort vor Live-Publikum beweisen konnten, wieviel Starpotenzial tatsächlich in ihnen steckt. An dieser letzten Phase allerdings haben viele Zuschauerinnen und Zuschauer in den vergangenen Jahren zunehmend das Interesse verloren, sodass sich RTL dazu entschied, die Liveshows der aktuellen Staffel auf Halbfinale und Finale zu beschränken. Nach 18 Jahren ist "Deutschland sucht den Superstar" inzwischen mehr denn je eine Realityshow, in der nebenbei auch gesungen wird.
Diese Entwicklung mag auch ein Stück weit den sich verändernden Gewohnheiten des Publikums geschuldet sein. Gleichzeitig hat "DSDS" aber noch ein anderes Problem. Von Anfang an wurde dem Format vorgeworfen, sein Kernversprechen nicht einhalten zu können und gar nicht Jahr für Jahr einen neuen "Superstar" zu produzieren. Das war – bis zu einem gewissen Grat – schon immer Definitionssache. Jedoch lässt sich nur noch schwer leugnen, dass sich Deutschland seine neuen Superstars schon längst nicht mehr mit Hilfe des linearen Fernsehens sucht, sondern bei Instagram, TikTok und YouTube. (Im Zweifel auch, ohne dass die singen können müssen.)
Bis es Goldene Schallplatten regnet
Dazu kommt, dass die von deutschen Interpretinnen und Interpreten vorgetragene Pop-Ballade in einer durch Streamingangebote maximal zersplitterte Musiklandschaft heute sehr viel weniger mehrheitsfähig ist als es RTL und die Plattenindustrie in ihrer gemeinschaftlichen Auswertung der selbstproduzierten "DSDS"-Siegerinnen und Sieger lange gewohnt waren.
Die aktuelle Staffel ist zwar Beleg dafür, dass den Castingformaten die starken Stimmen auch im Jahr 2021 so schnell nicht auszugehen scheinen (selbst wenn sie in der Minderheit sind); und man muss dem Format zugute halten, sich im Laufe der Jahre für eine sehr viel breitere Auswahl an Musikstilen geöffnet zu haben. Am Ende allerdings schafft es im Markt derzeit nur noch ein Genre, klassische Alben zu verkaufen, bis es Goldene Schallplatten regnet – und das ist: der Schlager.
Damit haben sich Bohlen und "Deutschland sucht den Superstar" schon lange arrangiert und nach Tokio Hotel und Culcha Candela auch Stars wie Marianne Rosenberg, Heino und Michelle in die Jury geholt. Als Xavier Naidoo im vergangenen Jahr in den Liveshows spontan ersetzt werden musste, sprang Florian Silbereisen ein, vor dem sich Bohlen nachher im Finale verbal als "Dieter Thomas Heck von heute" verbeugte, um höflich für den gerade aufgetretenen Staffelsieger anzufragen: "Dieser wahnsinnige Künstler und meine anderen Finalisten, die könnten doch mal in deine Sendung kommen, oder, Flori?"
In die Schlagerfamilie absorbiert
Da hat sich der Flori nicht lange bitten lassen – und Ramon Roselly wenige Wochen später im MDR-"SchlagerXirkus" sprichwörtlich in seiner neuen Familie willkommen geheißen. Gemeinsam mit dem ganzen anderen Personal, dem die Schlager-Branche nach der Feuertaufe im Privatfernsehen Unterschlupf bietet, um eine Show nach der nächsten zu bestreiten.
In diesem Februar führte das zu einer kuriosen Situation: Bei Silbereisens "Fest der Besten" im Ersten wurde der von tanzenden Pizzabäckern umringte "DSDS"-Vorjahressieger nicht nur als "Newcomer des Jahres" ausgezeichnet und bekam von Co-Moderatorin Beatrice Egli (Ex-"DSDS") und Ross Anthony (Ex-"Popstars") gratuliert; nach einem gemeinsamen Auftritt standen auch noch die Kumpel Pietro Lombardi (Ex-"DSDS") und Giovanni Zarrella (Ex-"Popstars") daneben auf der Bühne, bevor Stefan Mross mit seiner Frau Anna-Carina (Ex-"DSDS") sang, Sarah Lombardi (Ex-"DSDS") ihren neuen Titel vorstellte und die No Angels (Ex-"Popstars") ihre Reunion mit einem Auftritt besiegelten. Der ganze Abend war ein einziges Klassentreffen ehemaliger Castingshow-Aufsteiger – ohne die Florian Silbereisen ziemlich alleine dagestanden hätte. Das Mindeste, was man da für die Freundinnen und Freunde aus Köln tun kann, ist ja wohl, als Gastjuror für einen geschassten Verschwörungstheoretiker einzuspringen!
Es ändert aber nichts daran, dass es RTL auf Dauer kaum recht sein kann, in einer Tour "Stars" zu produzieren, die im Anschluss dankend vom öffentlich-rechtlichen Schlageruniversum absorbiert werden, weil sich in diesem Genre halt noch gutes Geld verdienen lässt, während man in Köln in die Röhre schaut.
Wiederauferstehung – oder Untergang?
Aus "DSDS" konsequenterweise "Deutschland sucht den Schlagerstar" zu machen, ist für den Sender genauso wenig eine Option – weil die dafür in Frage kommenden Protagonistinnen und Protagonisten einander viel zu ähnlich wären, damit es im Recall zwischen ungleichen Charakteren ordentlich krachen kann.
Es sind gleich mehrere Dilemmata, die Produktionsfirma und Sender lösen müssen, um "Deutschland sucht den Superstar" nach 18 Jahren auf eigenen Füßen stehen zu lasen und so zu positionieren, dass ein Neuanfang – wenn er denn tatsächlich gewollt ist – auch funktionieren kann. Viel Zeit bleibt dafür nicht, auch wenn es an neuen Kandidatinnen und Kandidaten vermutlich nicht mangeln wird. Zu den Bildern aus Mykonos fragte RTL zuletzt per Einblendung: "Du hast auch Bock auf die Zeit deines Lebens? Dann bewirb dich jetzt mit #Superstar2020 oder auf DSDS.de." Das Publikum kann sich also schon mal darauf einstellen, im nächsten Jahr entweder der Wiederauferstehung eines zweifellos legendären TV-Formats beizuwohnen – oder halt seinem Untergang.
Aber wie hat's eine bekannte TV-Gottheit neulich am Samstagabend bei RTL noch formuliert? "Nur wenn man gegen den Strom schwimmt, kriegt man Muskeln."
Und damit: zurück nach Köln.
RTL zeigt das Halbfinale und das Finale von "DSDS" an den kommenden beiden Samstagen um 20.15 Uhr; alle bisherigen Staffeln sind auf TVNow abrufbar.