Als Reinhold Messner zu Beginn der Woche endgültig eingefroren war, ist Frank Plasberg mal kurz aufgetaut. Der bekannte Bergsteiger war per Schaltgespräch aus Bozen zugeschaltet und hatte sich in Plasbergs Talk zum Thema "Sommer der Unsicherheit: Echter Urlaub nur mit Impfung?" schon länger nicht mehr geregt (was die Regie nicht davon abhielt, sein Standbild auf dem Monitor mitten in der Runde des öfteren ins Bild zu nehmen).
Weil Messner aber auch dann keine Regung zeigte, als Plasberg ihn direkt ansprach ("Gleich hören wir ihn, Geduld"), sah dieser sich dazu gezwungen, kurzzeitig sein Sitzpult zu verlassen, um sich dem Gast zu nähern ("Herr Messner?") – und bekam von der Regie den Hinweis, dass das wohl leider nichts mehr wird mit Bozen.
"Ich möchte nicht, dass es so aussieht als ob wir ihn raustragen", appellierte Plasberg noch, bevor die herbei eilenden Bühnenarbeiter Messner stattdessen den Stecker zogen und mit dem Monitor verschwanden. Woraufhin Plasberg wieder hinter sein Schutzschild aus knallgelben Moderationskarten zurückkehrte, um der Abfragerunde ihren gewohnten Lauf zu lassen und auch dann nicht dazwischen zu gehen, als der Lobbyist vom Reiseverband mehrmals artikulierte, sich die Vorkehrungen der von ihm vertretenen Branche nicht durch nervige Infektionsschutzmaßnahmen "kaputtquatschen" zu lassen (Sendung in der Mediathek ansehen).
[[IMG|131652|full|left|"Ich möchte nicht, dass es so aussieht als ob wir ihn raustragen": Frank Plasberg mit eingefrorenem Reinhold Messner bei "Hart aber fair".]]
"Ich habe gar keinen Einspieler"
Es war keine außergewöhnlich schlimme Sendung, aber auch keine besonders gute, und Plasberg sah in seinem Gleichmut ("Sie haben noch'n Einspieler?" – "Nee, ich habe gar keinen Einspieler") ein bisschen so aus als sei ihm das vor allem: egal. Was nach zwanzig Jahren vielleicht kein Wunder ist.
Genau so lange ist es her, dass Plasberg im Dritten Programm des WDR mit "Hart aber fair" startete. Das Format wurde anschließend so sehr für seinen Hang zur konstruktiven Kontroverse gefeiert, dass Sendung und Gastgeber 2007 zurecht ins Erste aufrückten. Damals verriet Plasberg in einem Interview: "Wenn ich 55 bin, also in fünf Jahren, habe ich 'Hart aber fair' zehn Jahre lang gemacht. Ich möchte dann zwar nicht das Arbeiten komplett einstellen, aber diesem Druck von 40 Sendungen pro Jahr muss ich nicht mehr standhalten."
Obwohl man solche Zukunftsprognosen aus der Vergangenheit stets verzeihen sollte, weil einen sonst die eigenen einholen könnten, sind sie manchmal eine gute Erinnerung daran, wie schnell das, was man sich mal vorgenommen hat, von der Routine gefressen wird.
Und von dieser Routine hat der Polittalkbetrieb im Ersten nach all den Jahren nun wirklich ausreichend.
Live aus – Magdeburg?
Bereits 2003 war "Menschen bei Maischberger" (heute: "Maischberger. Die Woche") gestartet, 2007 kam "Anne Will" – noch auf Initiative des damaligen Programmdirektors Günter Struve – als Ersatz für Günther Jauch dazu, der für "Sabine Christiansen" hätte übernehmen sollen (die ihren Talk damals läppische neuneinhalb Jahre moderiert hatte), das aber erst mit einigen Jahren Verspätung einlöste und der ARD danach wieder abhanden kam. Seitdem sendet das verbliebene Talk-Trio durch eine Krise nach der nächsten – ohne dass in der ARD jemandem die Notwendigkeit aufgefallen wäre, daran etwas zu ändern. Dabei könnte davon nicht nur das Publikum profitieren.
Kurz bevor Plasberg am Montag mit gewohnt heiter gemeinter Frage die Schlussrunde einleitete ("Mit welchem anderen Gast aus der Runde würden Sie am liebsten einen Regentag in einer Ferienpension verbringen?"), gingen Anja Heyde und Stefan Bernschein im Dritten Programm mit einer neuen Ausgabe des MDR-Polittalks "Fakt ist!" auf Sendung. Der kommt mit wöchentlich wechselnder Moderation aus einem anderen Landesfunkhaus des Mitteldeutschen Rundfunks; alle drei Wochen sind Heyde und "Bürgerreporter" Bernschein aus Magdeburg dran – und machen meistens einen ziemlich guten Job.
Zum klassischen Talk-Thema "Teurer Lockdown – wie viel Stillstand kann sich Deutschland leisten?" waren der sachsen-anhaltische Wirtschaftsminister und der Präsident des Leibniz-Instituts für Wirtschaftsforschung Halle eingeladen, um mit Heyde die Zumutbarkeit der Belastungen für Unternehmerinnen und Unternehmer in der Corona-Krise zu besprechen. Dazwischen glich Bernschein die Theorie mit der erlebten Praxis einer Restaurantbetreiberin aus Halle, einer Ladenbesitzerin aus Magdeburg, einem Eventmanager und einem Steuerberater ab, der aus Anschaulichkeitsgründen das komplette Corona-Sonderregelwerk in abgehefteter Form mitgebracht hatte.
Ausgewogen, hellwach, informativ
Obwohl ein bereits im Wahlkkampfmodus agierender Dietmar Bartsch zwischendurch mit unnötiger Angriffslaunigkeit aus der Reihe tanzte, war "Fakt ist!" in dieser Zusammensetzung die vielleicht produktivste Gesprächsrunde der vergangenen Woche(n), weil Menschen, die sonst selten aufeinander treffen, sich gegenseitig zuhörten (Sendung in der Mediathek ansehen).
Ende des vergangenen Jahres war in Magdeburg bereits die Frage diskutiert worden, ob der damals bevorstehende Impfbeginn "Rettung oder Risiko?" sei. Dabei hatte die Redaktion konsequent die zuvor gestellten Publikumsfragen in den Mittelpunkt gerückt, um sie von einem Vertreter der Ständigen Impfkommission, einem Hausarzt und der Staatssekretärin aus dem sachsen-anhaltischen Gesundheitsministerium beantworten zu lassen: Warum geht das jetzt alles so schnell, wenn die Impstoffentwicklung sonst fünf bis zehn Jahre dauert? Ist das wirklich sicher? Fühlen sich Pflegekräfte zurecht als Versuchskaninchen, wenn sie sich zuerst impfen lassen sollen?
Anstatt Positionen möglichst konfrontativ aufeinander prallen zu lassen, ordnete Heyde das Fachwissen für ihre Zuschauerinnen und Zuschauer und ließ trotzdem Raum für Widerspruch, ohne dass zwischendurch jemand Redezeit ermeckern musste. Es war eine ausgewogener, hellwacher, rundum informativer Austausch, in dem auch impfkritische Positionen berücksichtigt wurden – und sich mithilfe der eingeladenen Expertise direkt einordnen ließen (Sendung in der Mediathek ansehen).
Es muss nicht immer Fleischhauer sein
Vor allem aber war die Stunde ein Beleg dafür, dass Polittalk auch ohne die üblichen Phrasen funktioniert, frei von Lobbygequatsche sein kann und niemand Jan Fleischhauer einzuladen braucht, um für Reibungsfläche zu sorgen.
Nun ist "Fakt ist!" gewiss auch kein besonders junges Format, hat aber andere Qualitäten als die, wegen denen zum Beispiel "Hart aber fair" einst ins Erste gerückt ist. Genau die prädestinieren den Talk aus Magdeburg eigentlich dafür, sich auch auf größerer Bühne zu beweisen. Die ARD müsste sich bloß auf ihre Eingebung von 2007 zurückbesinnen – und einem Format, das sich im Regionalprogramm bewährt hat, eine Chance im Ersten geben. Und zwar: ohne dass sich die Sendung dafür zu verbiegen bräuchte.
Ende des vergangenen Jahres hatte sich "Fakt ist!" unter anderem mit dem besonderen Verhältnis der Ostdeutschen zu Russland und den möglichen Gründen beschäftigt. Petra Sitte von der Linken hatte ihre These von der "inneren Solidarität" vieler Menschen in den neuen Bundesländern erläutert, die im Umgang (west)deutscher Politiker mit Russland eine ähnliche Herablassung erkennen würden, wie sie sie selbst nach der Wende erlebt haben. Der Politberater Rüdiger Fritsch wog eine Einmischung des Westens in die russische Politik gegen eine notwendige Anmahnung nicht hinnehmbarer Regelverletzungen ab. Und nach einem Einblick in die Abläufe der Diplomatie schaltete die Redaktion zu einem russischstämmigen Ladenbesitzer aus Magdeburg, der Bernschein erklären durfte, wie er seine alte und seine neue Heimat wahrnimmt (Sendung in der Mediathek ansehen).
Das wäre in dieser Form nie, nie, niemals so im Ersten gelaufen. Aber vielleicht besteht genau darin das Problem, das der öffentlich-rechtliche Rundfunk im Allgemeinen und die ARD im Speziellen derzeit mit Politikern und Landtagen im Osten hat, die mehr Präsenz für die Lebenswirklichkeit ihrer Bürgerinnen und Bürger im gemeinsamen Rundfunk einfordern.
Aufstieg für eine Saison
Die Polittalk-Stammsendpelätze im Ersten nicht mehr ausschließlich für WDR- und NDR-Auftragsproduktionen freizuhalten und öfter Themen zuzulassen, die mit ostdeutschem Blickwinkel konzipiert und besetzt werden, wäre ein erstes, längst überfälliges Signal, daran etwas zu ändern. (Freilich ohne zuzulassen, dass die Politik plötzlich mitbestimmt, was gesendet werden soll!)
Das muss ja im Umkehrschluss nicht heißen, die etablierten Talkerinnen und Talker in den Ruhestand zu verabschieden. Ganz im Gegenteil: Was spräche dagegen, die Talk-Sendeplätze im Ersten im jährlichen Turnus neu zu vergeben – und Talks wie "Fakt ist!" den Aufstieg zu ermöglichen, sich für eine Saison in ungewohnter Umgebung auszuprobieren, um für Abwechslung und Vielfalt zu sorgen – genau wie einst "Hart aber fair"? Und wer weiß, vielleicht könnte sich Plasberg Talk bei einem vorübergehenden Wechsel zurück ins Dritte ein Stück weit vom Trott der vergangenen Jahre erholen, neue Konstellationen ausprobieren – und mit einem Schwung frischer Ideen zurückkehren, um sein Publikum neu zu überzeugen?
Zu Beginn der vergangenen Ausgabe, als die Standleitung nach Bozen schon von Tonverzögerungen geplagt war, prophezeite Frank Plasberg dem Publikum: "Es wird schwierig, aber bestimmt auch unterhaltsam." Das dürfte in jedem Fall die bessere Wahl sein, als irgendwann in der eigenen Routine einzufrieren.
Und damit: zurück nach Köln.
"Fakt ist!" läuft montags um 22.10 Uhr im MDR.