Ich hab das Gefühl, Florian Silbereisen arbeitet sich gerade in den Burnout. Oder wie es standesgemäß in der branchenbegleitenden Leitpresse heißen müsste: SORGE um Florian Silbereisen – wie lange hält er DAS noch aus?


Am zurückliegenden Wochenende hat der Starmoderator mit dem "Adventsfest der 100.000 Lichter" vor fast 7 Millionen Zuschauerinnen und Zuschauern offiziell die fünfte Jahreszeit der Schlagerindustrie eröffnet: den Albenverkaufsadvent. Eine Woche zuvor stand im MDR bereits der Rückblick "Die Schlager des Jahres 2020 – die große Jubiläumsshow" auf dem Programm, und zwar in Folge von "Silbereisen gratuliert: Herzlichen Glückwunsch, Helene" (ebenfalls im MDR) sowie "Silbereisen gratuliert: Das große Schlagerjubiläum" im Ersten, auf das wiederum MDR-seitig mit der "Schlagerchance in Leipzig" hingearbeitet wurde – nachdem Silbereisen fürs "Schlagerlagerfeuer – Die Strandparty 2020", "Schlager des Sommers – Die Märchenschloss-Nacht", "Schlager, Stars & Sterne – die große Seeparty in Österreich" und "Schlagerlovestory.2020 – Das große Wiedersehen" im Einsatz war und bevor er nächste Woche im MDR endlich "Wir freuen uns auf Weihnachten!" moderiert.

(Das große Best-of unter dem Titel "Jubiläum! Florian Silbereisen gratuliert sich zum Fest der 100.000 Schlagershows" ist sicher bereits terminiert.)

Das Adventsfest der 100.000 Lichter © rbb/ARD/JürgensTV/Dominik Beckmann Florian Silbereisen moderiert Weihnachten – und natürlich große Musikshows wie "Das Adventsfest der 100.000 Lichter"

König des öffentlich-rechtlichen Musikfernsehens

Mit seiner ganzen Peteralexanderhaftigkeit und der Unterstützung seines Haussenders ist der 39-Jährige zum König des öffentlich-rechtlichen Musikfernsehens in Deutschland aufgestiegen und feierte 2019 25-jähriges "Feste"-Jubiläum.

Und das soll gar nicht biestig klingen, sondern ist ein unbedingt anerkennenswerter Arbeitserfolg. Wie keinem anderen im Fernsehen gelingt es Silbereisen, mit minimalem Gastpersonal eine maximale Zahl an Sendeplätzen zu füllen. Sendung für Sendung tritt eine Zufallskombination aus Beatrice Egli, Ute Freudenberg, den Amigos, Ramon Roselly, Bernhard Brink, Thomas Anders, Ross Antony, Andy Borg, Sarah Lombardi, Semino Rossi, Ben Zucker, Inka Bause, Nino de Angelo, Jürgen Drews, Kerstin Ott und der vollständigen (Ex-)Reim-Familie Matthias, Julian, Marie und Michelle auf, und das ist ein bisschen wie beim Brennball: wenn alle mal dran waren, geht's von vorne wieder los.

Ständig wird irgendein Fantasy-… – Pardon: Fantasiejubiläum gefeiert, ein symbolischer Gutschein für den nächsten Showauftritt überreicht, oder notfalls auch direkt in der Sendung geheiratet, wie es Stefan Mross und "seine Anna-Carina" im Frühjahr vorgemacht haben, um anschließend direkt ihren gemeinsamen Hochzeits-Hit "Die Liebe trägt uns himmelhoch" zu promoten, irgendwie muss sich der ganze Bumms ja bezahlt machen.

Den ganzen Abend über Halligalli

Das geht auch voll in Ordnung, schon weil man jeder einzelnen Show die Professionalität ihrer Inszenierung ansieht, die entweder Besinnlichkeit (im Advent) oder gute Laune (zu allen übrigen Zeiten) bis zur Erschöpfung durchexerziert, um den Zuschauerinnen und Zuschauern zu gefallen. Kaum ein anderes Produktions-Team hat den Corona-bedingten Verzicht aufs Studiopublikum in diesem Jahr so kreativ verwandelt wie die Profis von Jürgens TV. Statt eines vollen Saals müssen jetzt halt Moderator und Gäste durchtanzen und mitklatschen. So wie beim "Schlagerjubiläum" im Oktober, als Silbereisen mit seiner Co-Moderatorin Beatrice Egli dazu verdammt war, den ganzen langen Abend in einem fast leeren Studio zu den Auftritten seiner Gäste Halligalli zu veranstalten, während im Hintergrund an Mindestabstandssäulen verteilte Zuschauerfragen-Aussucher hinter Laptops ekstatisch zum neusten Michelle-Hit stehklatschten und eine Truppe aufgebockter Cheerleader die Stimmung auf den Höhepunkt puschelten.

Sie können ja sagen, was Sie wollen: Aber nach so einer erschöpfenden Kolumnenniederschrift seh ich mir lieber an, wie Andy Borg zum neuen Stampfbeat von Die Draufgänger mit sichtlicher Freude einen urpeinlichen Stehtanz mit Schlotterknien und Klempner-Move performt, als zwanzig Minuten Mario Barth bei RTL.

Der SWR will auch was ab vom Schlager-Erfolg

Fehlende Entertainmentverpflichtung kann man dem vom MDR gepflegten Schlagerversum also gewiss nicht vorwerfen – und das kommt auch beim jüngeren Publikum gut an: Bei dem war das "Adventsfest" in der Vorwoche fast so erfolgreich wie "Das Supertalent", und wenn nächstes Jahr wieder "Schlagerboom" läuft, kann die Konkurrenz eigentlich auch gleich Testbild senden.

Das ist vielleicht schon die Erklärung dafür, warum der SWR von diesem Erfolg auch gern ein Stückchen ab hätte. Den "Schlager Spaß mit Andy Borg" lässt der Sender zwar schon länger durch süddeutsche Mehrzweckhallen touren. Künftig allerdings will man in Baden-Baden, Stuttgart und Mainz noch eins draufsetzen und regelmäßig "SWR Schlager – Die Show" zeigen, die am gestrigen Samstagabend Premiere feierte, moderiert von den Ex-DSDS-Siegern Beatrice Egli und Alexander Klaws. Die Sendung ist gleichzeitig die TV-Erweiterung der neuen Website "SWR Schlager", einem "multimedialen Online-Format", mit dem man insbesondere "jüngere Schlagerfans im Visier" hat und nicht nur topaktuelle Nachrichten aus der Branche verspricht, sondern auch "spannende Einblicke ins Privatleben" der Stars ("Kerstin Ott verrät, [...] warum man besser nicht klauen sollte").

Und selbst wenn wir uns aus unerfindlichen Gründen darauf einigen könnten, dass es zum öffentlich-rechtlichen Unterhaltungsauftrag gehören muss, die Themen der Regenbogenpresse fürs Netz nochmal in harmlos aufzubereiten, bliebe am Ende weiterhin die Frage: Braucht es das unbedingt zweimal? Mit "Meine Schlagerwelt" verfügt der MDR schließlich schon seit Jahren über ein genau solches Webportal (sogar mit eigenem DAB+-Radioprogramm), auf das in den Silbereisen-Shows prominent verwiesen wird.

So viele schöne Geschenke zum Fest!

Die Verlockung seitens des SWR mag nachvollziehbar sein. Aber ein gebührenfinanzierter Wettstreit um die Rolle als führender Schlagershow-Kompetenzsender ist – insbesondere angesichts der aktuellen Diskussion über steigende Rundfunkbeiträge – schon eine merkwürdige Aufforderung dazu, die Regionalsender der ARD nochmal gründlich auf unnötige Doppelstrukturen abzuklopfen. Zumal auch "SWR Schlager – Die Show", produziert von Kimmig Entertainment, ja wieder mit demselben Personal arbeitet wie die Konkurrenz aus dem eigenen Verbund. (Ganz abgesehen davon, dass ab dem nächsten Jahr auch noch das ZDF mit Giovanni Zarrella in derselben Riege mitmischt.)

Die massive Schlager-Fixierung innerhalb der ARD ist auch so schon heikel, weil in zahlreichen Sendungen so unverhohlen für neu erscheinende Alben geworben wird, dass sich die Musikindustrie kaum einen besseren Partner wünschen könnte. Bei den "Schlagern des Monats" im MDR sitzt regelmäßig "der Präsident der Platzierungen", Matthias Giloth vom "offiziellen Chartermittler" GfK, und sagt auf Fragen von Moderator Bernhard Brink ("Ich hab mitgekriegt: Weihnachten ist nicht der einzige Trend?") Sätze, die sich direkt in Wunschzettel umwandeln lassen.

Wussten Sie zum Beispiel, dass das neue Album der Amigos als "Deluxe-Edition" auf den Markt kommt,  Stefan Mross mit seiner Gattin eine "Geschenkedition" in Vorbereitung hat und Anita & Alexandra Hofmann mit einer "Special Deluxe Edition 2.0" klotzen? Wer Alben in Zahlen verkaufen will, wie sie hierzulande nur noch mit Schlager verkauft werden, der geht ins öffentlich-rechtliche Fernsehen – das sich im Gegenzug mit schönen Quoten dafür belohnen lässt.

Und die "Tagesthemen“ retten einen Roadie

Da ist's fast lustig, dass sich neulich wieder halb Twitter in Rage getweetet hat, als Ingo Zamperoni in den "Tagesthemen" Die Ärzte empfing, um – rechtzeitig zum Erscheinen ihres neuen Albums – über die Auswirkungen der Corona-Krise auf die Musikbranche zu sprechen. War das nicht Werbung?!?

Ingo Zamperoni und Die Ärzte © Screenshot Das Erste Die Ärzte waren in den "Tagesthemen" und haben einen Roadie zum Aufbauen mitgebracht (nicht Ingo Zamperoni, r.)

Komischerweise hat niemand gefragt, warum die ARD denn nicht selbst was unternimmt, die missliche Lage vieler Künstlerinnen und Künstler in Deutschland zu lindern – indem man sie einfach im eigenen Programm auftreten lässt! Die dafür notwendigen Hygienekonzepte dafür hätte der Flori sicher jederzeit rübengefaxt. Doch während Schlager-Fans im wöchentlichen Rhythmus mit neuen Shows versorgt werden, muss der musikalische Rest des Landes – von Indiepop über Deutschrap bis zu den hiesigen Allstars – sprichwörtlich in die Röhre gucken. Selbst seit Jahrzehnten etablierte Bands wurden im öffentlich-rechtlichen Rundfunk zuletzt lediglich zur Illustration der auf die Straße gebrachten "Alarmstufe Rot"-Proteste benötigt und durften sich – wie Bela B. von den Ärzten – anschließend noch dafür bedanken, für die (zweifellos originelle) musikalische "Tagsthemen"-Eröffnung endlich wieder einen ihrer Roadies beschäftigen zu können.

Im ganzen Land werden über Monate Konzerte abgesagt – und bei ARD und ZDF kommt niemand, niemand auf die Idee: Moment mal, wär das nicht unser Job, da irgendwie Ersatz zu bieten? Das in den Sendern noch verliebene Festival-Restkompetenzteam hätte sicher bereit gestanden.

Vor der Greenscreen festgetackert

Zugegeben: Vor einer Woche hat der WDR es mal ganz kurz versucht – und ist ganz sagenhaft gescheitert. Dabei war die Idee eigentlich gut. Der WDR-Hörfunkableger Einslive hatte entschieden, seine jährliche Preisverleihung – die Einslive-Krone – nicht trotz, sondern gerade wegen der Krise auch in diesem Jahr zu veranstalten; ohne Publikum, dafür einen ganzen Nachmittag mit haufenweise Live-Auftritten, Talks und kompletten Mini-Konzerten von Newcomern wie Provinz ins Internet gestreamt. Das war einerseits sehr gut gemeint. Und sah andererseits teilweise wahnsinnig traurig aus, als Musiker wie Bosse, Prinz Pi und Lea im leeren Studio vor einer Greenscreen festgetackert standen ("Ich darf mich nur in diesem Bereich bewegen“),  um sie auf eine virtuelle Landstraße mit dahinter aufsteigendem Zeppelin und fliegenden Fahrrädern projizieren zu können.

Einslive Krone 2020 © Screenshot WDR Viel Schwarz, viel Grün: Bei der "Einslive Krone" standen zahlreiche Musikerinnen und Musiker verloren vor einer Greenscreen

Die Auftritte sind derzeit schnipselweise auf der Einslive-Website abrufbar. Aber das ist immer noch besser als der unansehbare Zusammenschnitt fürs abendliche WDR-Hauptprogramm, der beim Zuschauen fast weh tat, weil er so hastig zusammengemetzgert wurde.

Mehr "Lebenswirklichkeit“ – für die Zukunft

Schlager-Fans können sich glücklich schätzen, dass dem öffentlich-rechtlichen Rundfunk so viel an ihnen (und den mit ihnen zu erzielenden Quoten) liegt. Wer andere populäre (Live-)Musik im Fernsehen hören will, kann ja bei der privaten Konkurrenz die letzten fünf Minuten von "Late Night Berlin“ einschalten.

Mitte der vergangenen Woche saßen die ARD-Verantwortlichen bei der virtuellen Programm-Pressekonferenz im Münchner Literaturhaus zwischen Selbstbeweihräucherungsschwaden vor der Kamera und erklärten den eingeladenen Journalistinnen und Journalisten, dass es zu ihren erklärten Zielen gehöre, in ihren Kanälen künftig "die Lebenswirklichkeit der Unter-50-Jährigen" stärker abzubilden. In diesem Jahr, das ein großes Stück jener Lebenswirklichkeit dem Erdboden gleich gemacht, haben sie mit diesem Anspruch leider versagt.

Und damit: zurück nach Köln.

Der MDR zeigt "Wir freuen uns auf Weihnachten! Präsentiert von Florian Silbereisen" am Freitag um 20.15 Uhr.