Manchmal sind Interviewsätze wie TV-Formate: Man ahnt schon im Voraus, dass sie zum Hit werden könnten. In der vergangenen Woche hat Thüringens Ministerpräsident Bodo Ramelow einen solchen Hit gelandet. Im FAZ-Gespräch (Abo-Text) über den öffentlich-rechtlichen Rundfunk erklärte der Politiker: "ARD und ZDF haben zu lange im Kulenkampff-Modus verharrt. Es wird Zeit, in den Netflix-Modus umzuschalten." Super Schlagzeile! Und mal abgesehen davon, dass es offensichtlich auch zu Ramelows Verständnis von Digitalisierung gehört, auf Papier gedruckte Regionalzeitungen künftig per Drohne ausliefern zu lassen, um die Zustellung im ländlichen Raum zu gewährleisten – was heißt das eigentlich: in den "Netflix-Modus" umschalten?
Einen immer größeren Haufen mittelmäßiger Serien zu produzieren, von denen die meisten so wurscht sind, dass sie teilweise schon kurz nach der Premiere schon wieder abgesetzt werden, worauf die abonnierenden Fans stinksauer Twitter stürmen?
Es. Dauert. Halt. Seine. Zeit.
Vielleicht muss man gar nicht alles nachmachen, was internationale Streaming-Anbieter vorexerzieren. In Mainz und München braucht man für die mitunter gesendete Mittelmäßigkeit zumindest keinen mysteriösen Algorithmus. (Sondern bloß alle vier Jahre 16 Länder.) Dabei hat ja – zum Beispiel – die ARD längst erkannt, was zu tun ist. Bereits vor einem Jahr erklärten die Intendantinnen und Intendanten, die sondereigene Mediathek "zu einem eigenständigen Streaming-Angebot" weiterentwickeln zu wollen. Ex-Funk-Chef Florian Hager wurde nicht nur zum neuen "Channel Manager" ernannt, sondern auch als Stellvertreter in der Programmdirektion installiert. Und als Volker Herres kürzlich seinen Abschied fürs kommende Frühjahr ankündigte, konkretisierte er noch einmal: Der "für möglichst viele Nutzer attraktive Abruf- und Streamingdienst" solle "gleichwertig" neben dem klassischen Hauptprogramm stehen. Sozusagen ein zweites Erstes im Non-Linearen.
Es ist halt bloß so, dass ein großer Senderverbund wie die ARD ein bisschen funktioniert wie das – liebenswerte, aber etwas behäbige – Faultier aus "Zoomania": Das weiß auch exakt, was es zu tun hat. Es. Dauert. Halt. Bloß. Alles. Seine. Zeit.
Blöd halt, dass die langsam ein bisschen knapp wird. Niemand weiß das besser als der öffentlich-rechtliche Rundfunk, schließlich gibt er dazu jährlich eine eigene Analyse heraus: die ARD/ZDF-Onlinestudie! Und weil Sie, wenn Sie bis zu diesem Absatz gekommen sind, sicher bereits die innere Unruhe verspüren, dringend irgendeine gerade angefangene Serie weiterbingen zu müssen, hab ich Ihnen das Wichtigste zum Thema Online-Streaming flott zusammengefasst.
Netflix und Amazon klauen die Mittelalten
Punkt 1: Das lineare Fernsehen geht so schnell nicht weg, klar. (Nicht jedenfalls, so lange ProSieben noch eine neu Staffel "Masked Singer" in petto hat.)
Punkt 2: Dennoch verlagern immer mehr Deutsche ihren Medienkonsum hin zu Online-Plattformen, die ihnen die Wahl lassen, wann sie eine Sendung ansehen können. Jetzt gleich die gute Nachricht: Mit ihren Mediatheken erreichen die großen TV-Sender bereits 57 Prozent der Bevölkerung, die dort "mindestens selten" Bewegtbildinhalte anklicken. Und die schlechte: Das klingt ein bisschen besser als es tatsächlich ist.
Denn, Punkt 3: Die Angebote hinken der größer werdenden Konkurrenz hinterher. Das gilt vor allem für die Lieblings-Problemzielgruppe der Öffentlich-Rechtlichen, die 14- bis 29-Jährigen, die online zwar TV-Inhalte konsumieren – aber halt bei YouTube. Das Problem ist hausgemacht: Weil die Jungen bei YouTube abhängen, stellen die Sender ihnen ihre Inhalte auch dort zur Verfügung. Gleichzeitig verstärkt das die Tendenz, dass YouTube für viele immer stärker zur TV-Alternative wird. Streaming-Anbieter wie Netflix und Amazon Prime erreichen den Ergebnissen der Studie zufolge zwar nicht so viele Bürgerinnen und Bürger wie die Sender-Mediatheken; dafür haben sie die Nase vorn, wenn es um die Häufigkeit der Nutzung geht. Vor allem die 30- bis 49-Jährigen greifen "deutlich regelmäßiger" auf die Inhalte der Streaming-Anbieter zu und verbringen dort zunehmend mehr Zeit.
Böhmermann und "Tatort" reichen nicht
So. Und jetzt raten Sie mal kurz, in welcher Altersgruppe ARD und ZDF mit ihren Mediatheken die größten Zuwächse verzeichnen können? Richtig: bei den 50- bis 69-Jährigen. Die Zahl der mindestens wöchentlichen Nutzerinnen und Nutzer hat sich für die ARD Mediathek im Vergleich zum Vorjahr verdoppelt. Noch deutlicher ist das Wachstum bei den über 70-Jährigen, während die Nutzung bei den 14- bis 29-Jährigen rückläufig ist.
Damit wären wir bei Punkt 4: Über 50 Prozent der Nutzerinnen und Nutzer der ARD Mediathek (und exakt 50 Prozent der ZDF Mediathek) sind heute über 50 Jahre alt – während es bei Netflix und Amazon Prime gerade einmal 13 bzw. 15 Prozent sind.
Anders formuliert: Es sieht ganz so aus als würden ARD und ZDF den Fehler, den sie bereits mit ihren linearen Programmen gemacht haben, mit ihren Mediatheken noch einmal wiederholen. Und das ist ja auch kein Wunder, wenn dort immer noch in erster Linie Inhalte aus dem klassischen Fernsehen angeboten werden, die Jüngeren und Mittelalten auch dort schon eingeschränkt attraktiv scheinen. Am Ende können’s halt auch der "Tatort" und Jan Böhmermann nicht alleine rausreißen.
Der "Babylon Berlin"-Zwiespalt
Fairerweise muss man dazu sagen, dass die Sender das durchaus erkannt haben. Und es Anlass zur Hoffnung gibt, wenn in den "Serien-Highlights" der ARD Mediathek die kleine, aber sehr großartige EU-Satire "Parlament" gerade neben Aufwandskolossen wie "Babylon Berlin" und "Oktoberfest 1900" fast gleichwertig prominent platziert auftaucht – was ihr im linearen Programm beim Restesender One auch nicht annähernd vergleichbar vergönnt ist.
Seit dieser Woche (erst) sind zudem die Inhalte von Funk erstmals in der ARD Mediathek abrufbar und tauchen aktuell weit oben auf der Starseite auf. Die Kulturschwester Arte macht schon mal vor, wie’s weitergehen könnte, und stellt in ihrer Mediathek gerade einen ganzen Schwung britischer Serien online, die andernfalls mühsam aus der Nachtnische gefischt werden müssten. In ihrer DWDL-Kolumne "Meine Woche in Serie" hat Ulrike Klode gerade einen hervorragenden Überblick dazu geliefert.
Kurz gesagt: Die ARD bewegt sich, wenn man ganz genau hinsieht. Zur Wahrheit gehört aber auch, dass der notwendige Anpassungsprozess teilweise schmerzhaft bleiben wird. Während die ARD-Kommunikation eine Jubel-Pressemeldung nach der anderen aussendet, um die dritte Staffel von "Babylon Berlin" als Mediatheken-Erfolg zu feiern und Channel-Manager Hager sich freuen darf, dass man damit "eins zu eins den Geschmack der Streamer" treffe, stellte die Serie im Ersten mit fast jeder neu ausgestrahlten Folge einen neuen Minusrekord auf. Auch der größte Tom-Tykwer-Fan wird die Episoden, nachdem er sie online gestreamt hat, kaum ein zweites Mal linear ansehen. (Obwohl das wahrscheinlich nicht schaden könnte, um im Geflecht der zahlreichen Handlungsstränge den Überblick zu behalten.)
Verflixte Erfolge im Non-Linearen
Jeder Erfolg im Non-Linearen befördert zwangsläufig die Enttäuschung im regulären Programm, dessen Mehrheitsfähigkeit den Senderverantwortlichen weiterhin als zentraler Ausweis der eigenen Relevanz dient – auch und gerade gegenüber der Politik, die dann wieder "Netflix-Modus" fordert.
Um jüngere und mittelalte Nutzerinnen und Nutzer nicht zunehmend an die großen Streaming-Anbieter zu verlieren, werden ARD und ZDF diesen Spagat in Zukunft noch viel öfter wagen müssen. Und massiv in Inhalte investieren, von denen schon vorher zu ahnen ist, dass sich mit ihnen im klassischen Fernsehen nur sehr, sehr kleine Blumentöpfe gewinnen lassen. ("Bad Banks" im ZDF lässt schön grüßen.) Das bedeutet womöglich auch, sich mittelfristig vom "Krimi-Überfluss" zu verabschieden, den Christian Bartels der ARD Mediathek kürzlich in seinem Feldversuch für die "Medienkorrespondenz" auf der Suche nach alternativen Programmschätzen attestierte – und der die Plattform nach wie vor entscheidend prägt.
Eine Plattform macht noch keinen Wandel
Zur zusätzlichen Herausforderung wird, dass die Streaming-Anbieter ihr Interesse für Zielgruppen erkannt haben, deren vorrangiger Aufmerksamkeit sich ARD und ZDF bislang weitgehend sicher fühlen konnten. "Das letzte Wort" mit Anke Engelke, die den frühen Tod ihres Gatten als Bestattungsrednerin verarbeitet, hätte anstatt bei Netflix genau so gut im ZDF laufen können; für die im vergangene Jahr beworbene Miniserie "Zeit der Geheimnisse" mit Corinna Harfouch hätte man in München sicher auch mal bedenkenlos zwei Sendeplätze am Problemfilmmittwoch freigeräumt. Und wenn Netflix jetzt die "Barbaren" losstürmen lässt, juckt’s die Programmchefs in Mainz sicher permanent in den Fingern, dazu diverse "Terra X"-Spezials zu produzieren. Netflix weiß ziemlich genau, in welchen Altersgruppen noch Aufholpotenzial besteht, um zahlende Abonnentinnen und Abonnenten hinzu zu gewinnen.
ARD und ZDF müssen deshalb auch nicht "in den Netflix-Modus" umschalten; sondern bloß konsequent umsetzen, was sie längst erkannt haben: Dass es für sich verändernde Sehgewohnheiten nicht nur neue Plattformen braucht. Sondern auch andere Inhalte. Weil wirklich niemand, der sich irgendwann auf YouTube an Funk-Videos sattgesehen hat, nahtlos zur ARD Mediathek wechselt, um dort alle bislang verpassten Staffeln von "Die Kanzlei" wegzubingen.
Und damit: zurück nach Köln.