Niemand erzählt das Märchen vom Sender, der auszog, um gleichzeitig moderner und sparsamer zu werden, so gut wie Patricia Schlesinger. Zur Belohnung wurde die ehemalige "Panorama"-Reporterin und ARD-Südostasien-Korrespondentin gerade als Intendantin des Rundfunks Berlin-Brandenburg (RBB) im Amt bestätigt – vier Jahre, nachdem sie angetreten war, aus dem hässlichen Entlein unter den ARD-Landesrundfunkanstalten einen Schwan zu zaubern. Notfalls, indem man ihm einfach den Hals ein bisschen länger zieht.
"[W]ir müssen die Marke rbb anders darstellen, den Sender stärker machen, lauter werden, deutlicher werden", fasste Schlesinger ihre Marketing-Mission kürzlich im Interview mit dem radioeins-Medienmagazin zusammen. Das ist ihr zugegebenermaßen gelungen.
Auch wenn die Außendarstellung oftmals wenig mit der Programmrealität zu tun hat, die der aus Hamburg geholte Programmdirektor Jan Schulte-Kellinghaus zu formen bemüht ist. Mit neuer Talkrunde, Quizshow, Regionalserie, Verbrauchermagazin und satirisch gemeintem Wochenrückblick ist aus dem RBB unter neuer Führung eine Art Sparversion des NDR geworden – wo Schlesinger vor ihrer Wahl den Programmbereich Kultur und Dokumentation leitete, während Schulte-Kellinghaus für den Programmbereich NDR Fernsehen verantwortlich zeichnete.
Klar sieht man, wo gespart wird
In ihren neuen Positionen müssen beide das Kunststück fertig bringen, das ältere RBB-Stammpublikum nicht zu verschrecken, das Angebot aber gleichzeitig für jüngere attraktiver zu machen. Digitale Inhalte müssen gestärkt, Etats umverteilt und die die Belegschaft bei Laune gehalten werden – immer neuen Sparrunden zum Trotz. "Wir (…) haben das so gemacht, dass man es im Programm bisher kaum merkt", erklärt Schlesinger und räumt ein, "dafür nicht nur Zuspruch gehabt [zu haben], auch aus den Reihen der Mitarbeitenden".
Was vielleicht daran liegen könnte, dass es – nicht stimmt? Natürlich sieht man dem RBB an, wo überall gespart wird, und nirgendwo so deutlich wie auf den Sendeplätzen, mit denen Schlesinger eigentlich die Identität des Programms stärken wollte.
Das aktuell schönste Beispiel läuft seit vorvergangener Woche freitagabends im Programm: "100xBerlin". Unter diesem Motto zelebriert der RBB die Entstehung Groß-Berlins vor 100 Jahren, für das zahlreiche Stadt- und Landgemeinden zusammengelegt wurden. Aus diesem Grund stellt der Sender in den kommenden Wochen "Die schönsten Kieze" vor: als vierteilige Rankingshow, aus der nach Weihnachten der allerschönste ausgewählt werden soll.
Die größten Ranking-Reinfälle
Rankingshows, Rankingshows – war da nicht mal was? Ja, ganz richtig: Sechs Jahre ist es her, dass öffentlich-rechtliche Programmverantwortliche einräumen mussten, bei einem Teil der damals inflationär eingesetzten Shows manipuliert zu haben. Dem ZDF flog sein Ranking "Deutschlands Beste" um die Ohren, WDR und RBB gaben Eingriffe zu und der NDR stellte fest, dass per Zuschauer-Voting gewählte Reihenfolgen von Redaktionen geändert wurden – "weil Bildrechte fehlten, die Materiallage schlecht war oder aus dramaturgischen Gründen". Stefan Niggemeier, der die Recherchen angestoßen hatte, attestierte dem NDR damals "einen bemerkenswert laxen Umgang (…) mit den Ergebnissen der Zuschauerabstimmungen".
Das hat sich (größtenteils) geändert. Anders als die Begeisterung der Programmmacherinnen und Programmmacher für das Genre an sich – das dabei hilft, mit möglichst geringen Mitteln haufenweise Primetime-Sendeplätze zu füllen. RTL, Sat.1, ProSieben & Co. wissen das nur zu gut, und auch den öffentlich-rechtlichen Sendern fällt es schwer zu widerstehen.
Dementsprechend vertraut sieht "Die schönsten Kieze im Norden", das nun zum Auftakt von "100xBerlin" lief, aus: Zu pfiffiger Musikuntermalung werden historische Minimalinformationen referiert, Szenen aus dem "Abendschau"-Archiv drangetackert und Regionalprominente ins Bild gerückt, die sich eine Assoziation ihrer Wahl aus der Erinnerung schütteln sollen – fertig ist das Regional-Entertainment!
Allgemeinplätze und Schönfärbereien
Über den eigentlichen Anlass der Sendung – wie Berlin zur Stadt gewachsen ist – verrät dieses Postkartenfernsehen rein gar nichts. Aber immerhin weiß ich als Zuschauer jetzt, dass die Mutter von Kim Fisher einen Schrebergarten auf einem alten Bauernhofgelände in Heiligensee (Platz 9) hat, die Ex von Moderator Sascha Hingst mal im Bötzowviertel (Platz 6) wohnte, seine RBB-Kollegin Janna Falkenstein eine Freundin hat, die 'ne Freundin hat, die eine Hütte auf den Tegeler Inseln (Platz 7) ihr eigen nennt, "Miss CSD 2014" Jurassica Parka nicht gerne in den Mauerpark (Platz 21) geht und eine Bekannte von Maren Gilzer mal in der Nervenheilanstalt in Wittenau (Platz 28) war, weil sie "ihre Tabletten nicht nehmen wollte".
(Die Erkenntnis, dass der von Zeit zu Zeit unangenehm dazwischen berlinernde Typ mit der Basecap gar keine Mario-Barth-Parodie war, macht die Sache nicht besser.)
Wenn gerade kein Stuss geredet wird, feuert der Off-Kommentar im Wechsel Allgemeinplätze und Schönfärbereien ab: Weniger schöne Viertel sind "ein Kiez im Wandel" oder "ein Kiez mit Charakter"; weiter draußen, an den Geheimratsecken der Stadt, kann man "sehr fein leben"; hier "ist Pankow besonders schön", "willkommen im Wannsee des Nordens", "zwischen Hermsdorfer See und Tegeler Fließ lässt es sich aushalten". (Das hat die Ecke der RBB-Produktion schon mal voraus.)
Die Stunde der Experten
Und weil das alles so piefig ist, könnte man es einfach vergessen – wenn es zwischendurch nicht auch noch ärgerlich wäre. Na klar kann "Reporterlegende" Ulli Zelle die Straßennamen im Afrikanischen Viertel toll finden (Sansibarstraße!), auch wenn da ab und an mal „ein ganz böser Kolonialist“ auf den Schildern steht. Ist doch dem RBB egal, wenn die Stadt gerade darüber diskutiert, ob die deutsche Kolonialvergangenheit weiter in der bisherigen Form den öffentlichen Raum prägen soll.
All zu viel Lust, sich von aktuellen Entwicklungen in den porträtierten Kiezen leiten zu lassen, schien die Redaktion ohnehin nicht gehabt zu haben – das garantiert zeitlose Wiederholungsfähigkeit.
Vielleicht kann die Sendung deshalb auch nicht einfach ein Streifzug durch die Stadt sein, sondern braucht statt Zusammenhängen: eine Rangfolge. Um potenzielle Kritikpunkte von vornherein zu umschiffen, wurden dafür nicht Zuschauerinnen und Zuschauer zur Abstimmung gebeten, sondern "eine Jury aus 40 Berlin-Expertinnen und Experten". Und mal abgesehen davon, dass es ohnehin schon eine bescheuerte Idee ist, Stadtviertel mit sich grundlegend voneinander unterscheidenden Herausforderungen in ein Top-30-Ranking zu stopfen: Wie muss man sich das vorstellen? Bittet der RBB dafür zur Ganztagskonferenz in seine neue Dach-Lounge, damit die versammelte Expertise dort Kriterien wie Wohnqualität, Naherholung und kulturelle Lebendigkeit gegeneinander abwägt? Nicht ganz.
"Zeitaufwand: ca. 15 Minuten"
Stattdessen hat die Redaktion im Sommer einen Schwung E-Mails an Menschen mit vermeintlicher Berlin-Beurteilungskompetenz rausgeschickt, um sie für die Teilnahme an ihrem "Ranking-Projekt" zu begeistern: "Ihre Aufgabe wäre es, zusammen mit den 9 anderen Juroren [des Nordens, Südens, Ostern, Westens] den 30 Kiezen ihre Plätze zuzuweisen. Ihr absoluter Favorit bekäme die 1, der Zweite die 2, bis hin zur 30, wo der Kiez sein wird, den Sie gar nicht mögen." (Zum Beispiel, wenn da mal 'ne Freundin in der Nervenheilanstalt war.)
Kriterien? Egal. Oder wie man der RBB zur Mitmachmotivation schreibt: "Zeitaufwand: ca. 15 Minuten."
Anfang des Jahres war noch geplant, "100 Menschen dieser Stadt" als Jury die Platzierungen bestimmen zu lassen. Jetzt müssen halt zehn pro Himmelsrichtung reichen. Mehr Aufwand braucht es nicht, um vorproduzierte Kurzfilmchen, die unübersehbar vor Ausbruch der Corona-Krise kompiliert wurden, in irgendeine Reihenfolge zu bringen. Ist halt gleich doppelt Pech fürs Märkische Viertel, weil – erstens: Platz 30, und zweitens: Sido hatte keine Zeit zur Ehrenrettung, Mario Barth aber schon: "Ich bin da ja nicht aufgewachsen, ja? Aber, ich glaub, dit is nochmal ne Stadt in der Stadt, weißte?"
Das passt nicht ganz zu dem von Schulte-Kellinghaus erklärten Anspruch, "neue Erzählformen zu finden". Aber dafür umso besser zu Schlesingers Plan, "anders produzieren" zu müssen, um weiter ausreichend Programm zu haben, das wenigstens den Eindruck erweckt, als sei es irgendwie neu. Weiß doch jeder, dass Märchen nichts mit der Realität zu tun haben.
Und damit: zurück nach Köln.
Die nächste Ausgabe von „100xBerlin“ läuft am Freitag um 20.15 Uhr im RBB. „Die schönsten Kieze im Norden“ lässt sich in der Mediathek ansehen.