Wenn die Writers Guild of America zum Streik ihrer Autorinnen und Autoren aufruft, um bessere Arbeitsbedingungen durchzusetzen, zittert das amerikanische Fernsehen – weil dann im Zweifel der erzählerische Nachschub fehlt. Den Privatsendern in Deutschland kann das so schnell nicht passieren.
Aber falls hierzulande jemand auf die Idee kommen sollte, einen Verein der TV-Preisrichter zu gründen, um den Programmchefs mal ordentlich die Meinung zu geigen, bequemere Sitzkissen bzw. Schichtzuschläge für Überlänge-Shows abzuringen und Joachim Llambi zum Vorsitzenden zum ernennen, hätten die Sender ein echtes Problem. Denn ohne Jurys läuft im deutschen Fernsehen derzeit fast nichts mehr.
Hauptberuf: Talentbewertung
Die vergangenen anderthalb Wochen waren das beste Beispiel dafür: In Mainz ging die aufgeschlagerte Jury der nunmehr 19. DSDS-Staffel in Mainz an Bord der "Blue Rhapsodie", um einmal rheinabwärts geschippert zu werden und nebenbei neue, nun ja: Gesangstalente zu prüfen. Für "FameMaker" setzte ProSieben ein Kuratorium aus Comedians vor eine schalldichte Wand, um sie raten zu lassen, ob die dahinter auftretenden Typen tatsächlich singen können. RTL hat das vor drei Wochen mit doppelt so viel Prüfpersonal bei "I can see your voice" schon mal so ähnlich versucht und am vergangenen Wochenende mit "Big Performance" nachgelegt, wo überbegeisterte Unparteiische rausfinden sollen, welche Promis sich als andere Promis verkleidet haben – bevor "Masked Singer" bald mit neuer Jury zurückkehrt, "The Voice of Germany" und "Supertalent" die Zahl ihrer Preisrichter aufstocken und Sat.1 dann auch noch mit einer Jury bei "Pretty in Plüsch" um die Ecke kommt. Anschließend geht ja auch fast "Let’s Dance" schon wieder los.
Anders gesagt: Die eine Hälfte der deutschen TV-Branche konzentriert sich hauptberuflich bereits auf die Talentbewertung – und machen wir uns nix vor: Die andere Hälfte ist auch noch dran.
Höchste Zeit also für eine kleine Handreichung an all jene, die noch gar nicht wissen, was da auf sie zukommt. Sie sind prominent und wollen auch am Pult, äh: Puls der Zeit sein? Profitieren Sie einfach von den Erfahrungen (und Rollenbildern), die andere schon (vor-)gemacht haben! Welcher Jury-Typ sind Sie?
Der Streber
Sie haben Ehrgeiz, zuviel Tagesfreizeit und richtig Bock, im Fernsehen als Schlaumeier dazustehen? Dann schaffen Sie sich doch einfach willkürliches Wissen zu deutscher Alltagsprominenz drauf, um die vor aller Welt zu entlarven, sobald eine oder einer davon traut, inkognito auf einer TV-Bühne zu singen. "Ich hab 400 Persönlichkeiten Deutschlands gegoogelt und ganz, ganz stark geübt!", eröffnete Michelle Hunziker dem Publikum der RTL-Show "Big Performance" am vorgegangenen Samstagabend. Vorbild ist natürlich die unbestrittene Königin des Jurystrebertums: Ruth Moschner, gegen deren Engagement bei der ProSieben-Promidemaskierung die internationale Impfstoffforschung derzeit fast wie ein Klacks wirkt.
Der Kanzler
Sie haben sich fest vorgenommen, den Zeitpunkt zu verpassen, entspannt in den wohlverdienten Jury-Ruhestand zu entgleiten, weil sie der Überzeugung sind, dass der ganze Laden ohne Ihre Expertise augenblicklich zusammenbricht? Ein Dieter Bohlen weiß, welche Last das bedeutet. Und dass man höllisch auf Emporkömmlinge im eigenen Team aufpassen muss, die es wagen könnten, die Abdankung einzufordern, um sie schnellstmöglich loszuwerden. Wer, bitte schön, ist denn hier unfehlbar?
Die Quietschgutgelaunte
Wenn die gute Laune bei anderen schon restlos aufgebraucht ist, sind Sie noch quietschfidel, auch bei wackeligen Performances noch voll des Lobs und für jeden Euphorie-Turbo zu haben? Kein einfacher Job, aber Motsi Mabuse macht gleich in mehreren TV-Panels vor, dass das lediglich eine Frage der Einstellung ist! Der vorübergehenden Einstellung der Realitätsakzeptanz.
Der Phrasendrescher
Gute Wahl! Als Phrasendrescher erwartet Sie lediglich etwas Auswendiglernarbeit, die nebenbei auf dem Crosstrainer erledigt werden kann. Verinnerlichen Sie einfach die Klassiker des Universalurteils – insbesondere, falls Sie schnell für eine ausgefallene Kollegin oder einen ausgefallenen Kollegen einspringen müssen. In der Regel genügen: "eine unglaubliche Leistung!", "Hut ab!", "Das ist wirklich Gänsehaut gewesen!", "Das hat Wow-Effekt gehabt!", "Ein richtig gutes Gesamtpaket!", "Du bist genau, was diese Show ausmacht!" oder schlicht "Wahnsinn!"
Die Negativ-Edition muss in der Regel individuell kompiliert werden, sofern die dafür zuständigen Autorinnen und Autoren gerade nicht mit der Vorbereitung der neuen DSDS- bzw. "Supertalent"-Staffel ausgelastet sind.
Der alte Hase
Niemand weiß besser als Sie, wie der Hase läuft, schließlich haben Sie den ganzen Summs in der vergangenen Staffel selbst mitgemacht und können am besten einschätzen, wie sich das anfühlt, unter einer krassen Maske so zu tun, als könne man singen! Gut möglich, dass Sonja Zietlow das im Anschluss an ihre Jury-Beförderung bei "Masked Singer" demnächst das ein oder andere Mal mit ihrem neuen Kumpel Bülent Ceylan, dem alten Überflieger, ansprechen wird.
Der Simulant
Sie wollen TV-Juror sein, haben aber keinen blassen Schimmer von den Talenten in der Show, für die Sie engagiert wurden? Keine Panik, machen Sie’s wie Guido Maria Kretschmer bei seinen "Big Performance"-Bewertungen, flüchten Sie sich permanent in Ihr eigenes Fachgebiet: "Das musste erstmal schaffen, mit so einem kurzen Kleid gut auszusehen!" – "Mit so einer roten Pailettenjacke, da musste auf der Bühne erstmal den Tom Jones machen!" – "Mauvefarbenen Satin, den musste auch erstmal tragen können, find ich." Schwupps, schon ist Ihre Redezeit rum.
Die Sportfreunde
Jetzt noch mal einsteigen, jetzt noch mal dabei sein! Auf jedem Rummel drängeln engagierte Schausteller mit großer Überzeugung vergnügnungsbereite Opfer in Fahrgeschäfte, die Ihnen die inneren Organe einmal auf links drehen. Bei "FameMaker" stehen Carolin Kebekus, Luke Mockridge und Teddy Teclebrhan dem in Sachen Engagement in nichts nach – und machen als Rateteam soviel Wind, dass dem Studioublikum gar nicht auffällt, wie eintönig es sein kann, sich stundenlang Leute anzusehen, von denen man nicht weiß, ob sie singen können. (Und, wenn das aufgelöst wurde, auch nicht viel mehr.) Körperliche Fitness zur intensiven Publikumsinteraktion und Studiobeturnung wird dringend empfohlen.
Die Fehlbesetzung
"Ich finde dich sehr überzeugend in jeder Beziehung", hat "Tagesschau"-Sprecherin Judith Rakers kürzlich zu einem singenden Stripper gesagt, nachdem sie aus Versehen durch die falsche Studiotür gegangen und in der RTL-Sendung "I can see your voice" gelandet ist. Das können Sie auch.
Der Paradiesvogel
Ihr häuslicher Kleiderfundus umfasst weder turmhohe Kopfbedeckungen, noch High Heels, deren Absätze den sicheren Knöchelbruch garantieren? Macht nichts, die Paradiesvogel-Rolle in deutschen TV-Jurys ist ohnehin auf absehbare Zeit von Jorge González ausreserviert.
Falls bei dem obigen Rollenangebot oben noch nichts für Sie dabei war: Machen Sie sich keine Gedanken, irgendwann wird immer irgendwo kurzfristig ein neu zu besetzendes TV-Jury-Plätzchen frei, weil der Florian Silbereisen nicht überall sein kann. Und jetzt: Hut ab für Ihre unglaubliche Leistung, die Sie in Zukunft erbringen werden, die hat auf jeden Fall den Wow-Effekt!
Und damit: zurück nach Köln.