Ab diesem Montag sind die "Tagesthemen" täglich fünf Minuten länger, um regelmäßig über das zu berichten, was die Menschen in Deutschland in ihrem direkten Lebensumfeld bewegt. Und vor lauter Begeisterung hat sich Helge Fuhst, Zweiter Chefredakteur bei ARD aktuell in Hamburg, deswegen so weit aus dem Bürofenster gelehnt, dass er jetzt direkt ins Elefantengehege von Hagenbecks Tierpark gucken kann.
Mit der neuen Regional-Rubrik "mittendrin" wolle man "die gesamte Republik" porträtieren und "Geschichten aufbereiten, die wir alle voneinander wissen sollten, um uns besser kennenzulernen". Es werde um Menschen und Regionen gehen, "die sonst nicht im Scheinwerferlicht stehen". Den "Kern ihres Auftrags" stärke die ARD damit, trötete Fuhst gerade in der "Süddeutschen Zeitung" und versprach: "Wir holen die 'Tagesthemen' ins Dorf und bilden damit die Gesellschaft breiter ab."
Das klingt ein klein bisschen übermütig, ist aber im Kern eine gute Idee, um die "Tagesthemen" um eine wichtige Perspektive zu bereichern. (Ich hatte schon mal geschrieben, dass ich ohnehin Fan ausführlicherer Nachrichtenformate bin, oder?)
Leider entspricht das Ergebnis bislang noch nicht den vollmundigen Versprechungen – zumindest nicht in den "mittendrin"-Beiträgen, die seit Ende Mai schon mal testweise freitags in den "Tagesthemen" laufen.
Was gibt’s Neues, Nemsdorf-Göhrendorf?
Die sind eher Beleg dafür, wie schwer es Journalistinnen und Journalisten fällt, sich von alten Erzählmustern zu verabschieden, wenn sie von dort berichten, wo sie danach so schnell nicht mehr hinmüssen. Meist läuft das so: Woche für Woche setzen Caren Miosga, Ingo Zamperoni oder Pinar Atalay für die Anmoderation ihren sorgenvollen Blick mit den hochgezogenen Augenbrauen auf und verraten, wo es diesmal hingeht: nach Bollstedt, Castrop-Rauxel, Raubling, Nemsdorf-Göhrendorf.
Der anschließende Beitrag beginnt mit Panoramaaufnahmen von malerisch gelegenen Siedlungen, üppigen Seenlandschaften, alten Industriegeländen – und einer raunenden Reporterverortung: "Schopfheim-Kürnberg im südlichen Schwarzwald, die Region Deutschlands mit den meisten Sonnenstunden im Jahr." – "Lychen in der Uckermarck, romantischer kann ein Ort kaum liegen." – "Reitwein, die Perle des Oderbruchs, so nennen Sie Ihr Dorf mit einer mehr als 700 Jahre langen Geschichte." Und wenn ihn die Kameradrohne vorher nicht schon vom Himmel geholt hat, darf noch ein Storch in seinem Nest landen, bevor’s ernst wird: Denn die überbetonte Idylle ist natürlich bedroht.
Zum "mittendrin"-Start im Frühjahr war es noch Corona, das die porträtierten Dörfer durcheinander wirbelte: Spielplätze wurden mit Verzögerung gebaut, Schützenvereine konnten sich nicht im gewohnten Maße treffen, Feierlichkeiten zur Goldenen Hochzeit wurden abgesagt. Bis in Hamburg jemand gemerkt haben muss, dass das gar keine regionalspezifischen Probleme waren, die es sich fürs ganze Land "hochzubrechen" (Fuhst) lohnt – sondern die Konsequenzen einer weltumspannenden Pandemie.
Ehrliche Bürger gegen ignorante Konzerne
Danach hat sich die Erzählstrategie geringfügig geändert. Überall, wo es die "Tagesthemen"-Teams bei ihrer Expedition ins Unbekannte seitdem hinverschlägt, kämpft gerade eine Bürgerinitiative gegen übermächtige Gegner. Einen Großkonzern, der mit seinen Bohrungen den Grundwasserspiegel absenken könnte; einen Landwirtschaftsbetrieb, der eine Putenmastanlage an den Ortsrand zu rammen gedenkt; die Bahn, die ihre neue Hochgeschwindigkeitstrasse mitten durch die Scheune des traditionsreichen Familienanwesens zu bauen beabsichtigt. Manchmal sind es auch bloß unfähige Politiker, die Seebewohnern neue Stadtviertel vor die lieb gewonnene Aussicht setzen wollen. (Die Rubrik deshalb quotenaffiner "Trügerische Idylle" zu taufen, hat sich in Hamburg dann aber doch niemand getraut.)
An diesen Klassikern des Lokalzwists arbeitet sich "mittendrin" immer in ähnlicher Weise ab: Erzürnte Bürgerinnen und Bürger beschreiben nachvollziehbar ihre Misere, Bürgermeisterinnen und Landräte ergänzen, Konzernsprecher und Projektleiter dürfen gegenreden.
Dass oftmals beide Seiten gute Argumente haben, lässt mich als Zuschauer am Ende einigermaßen ratlos zurück, weil in dem Fünf-Minuten-Format selten Zeit bleibt, Komplexitäten anzusprechen oder Vergleiche zu anderen Orten zu ziehen, die ähnliche Probleme vielleicht schon gelöst haben. Anders als ARD-Programmdirektor Volker Herres behauptet, geht es bislang auch kaum darum, "Beispiel des Gelingens" zu zeigen. (Mit zwei Ausnahmen: In NRW sind Kleingärten "Arbeit, Leidenschaft, sogar ein ganzes Leben" und in Schleswig-Holstein profitiert die seltene Bachmuschel bald von der Flussrenaturierung der Schwartau.)
Institutionalisierter Dorfbewohnerfrust
In der Regel ist "mittendrin" bisher jedoch institutionalisierter Dorfbewohnerfrust, der in den allermeisten Fällen nicht mal Lösungen anbieten kann. "Ob am Ende David oder Goliath triumphiert: Diese Entscheidung wird in Lüneburg noch etliche Monate auf sich warten lassen", heißt es zum Schluss. Oder: "Es bliebt ein schwieriger Konflikt zwischen lautem Hobby der einen und Bedürfnis nach Ruhe der anderen." Oder: "Die Menschen (…) setzen nun alle Hoffnung in (…) die Politik, eine bestmögliche Entscheidung für ihr Alpenvorland zu treffen." Dann wird die Kamera wieder eingepackt, tschüssi – Claudia Kleinert, wie wird das Wetter morgen?
Bei manchen Geschichten hab ich das Gefühl, sie werden nur deshalb erzählt, damit der Reporter im sächsischen Örtchen Amerika, wo die zu selten genutzte ÖPNV-Verbindung in die nächste Stadt gestrichen wird, den zurechtgelegten Satz sagen kann: "Heute Nachmittag fuhr der allerletzte Bus nach Amerika."
Das ist vor allem deshalb ärgerlich, weil sich hinter den allermeisten Konflikten tatsächlich etwas Erzählenswertes verbirgt: die ernst zu nehmende Angst, abgehängt zu werden; noch viel öfter aber der Konflikt zwischen denen, die wollen, dass alles so bleibt, wie es ist, und den anderen, die sagen: Wir müssen doch mit der Zeit gehen!
Jede Woche derselbe Grundkonflikt
Genau das würde sich – um Fuhst zu zitieren – "hochzubrechen" lohnen. Dafür bleibt "mittendrin" nur keine Zeit, wenn jede Woche derselbe Grundkonflikt erzählt wird, um die Kameradrohne über einer neuen Dorfidylle aufsteigen zu lassen. Journalismus wäre, einzuordnen: Wer hat eigentlich die besseren Argumente? Welche Bedenken sind berechtigt, welche bloß egoistisch? Wo werden tatsächlich Partikularinteressen über die der Allgemeinheit gestellt?
Das gilt für den Streit ums Nacktbadeverbot in der Uckermarck genauso wie für den Tunnelneubau am Brenner und den Stress in Sachsen-Anhalt, wo die eine Hälfte des Dorfes für den neuen Funkmast gekämpft hat, um endlich Handyempfang zu haben – und die andere fast dafür gesorgt hätte, dass er doch nicht gebaut wird: "Dann werden wir bestrahlt ohne Ende."
Auf Wertungen verzichtet "mittendrin" lieber – sieht man mal davon ab, dass der den Tränen nahe Paddelverleih-Besitzer, dessen Büdchen in Duisburg-Wedau einer neuen See-Uferpromenade weichen soll, mit traurigem Klaviergeklimper unterlegt wird. So wichtig journalistische Neutralität sonst auch ist: Gerade von einem Magazinformat wie den "Tagesthemen" würde ich erwarten, dass es mir Einordnung anbietet, um wirklich "ein unverstelltes Bild Deutschlands" zu zeigen.
Lässt sich so "die Gesellschaft stärken"?
So verfestigt sich zum Schluss vieler "mittendrin"-Beiträge eher der Eindruck, dass Konzerne machen können, was sie wollen, dass Behörden und Politiker den von ihren Entscheidungen Betroffenen ohnehin nie richtig zuhören, und dass die Angst, vergessen zu werden, berechtigt sein könnte. Erstens ist’s dann aber auch egal, wenn man damit vorher nochmal in die "Tagesthemen" kommt. Und zweitens entspricht diese Lesart unglücklicherweise der, mit der Parteien am rechten Rand auf Stimmenfang gehen. Das dürfte so ziemlich das Gegenteil von dem sein, was die "Tagesthemen" erreichen wollen.
Die Initiative sei "ein Beitrag, unsere Gesellschaft zu stärken", hat Co-Chefredakteur Fuhst über "mittendrin" geschrieben. Die Neuerung könne vor allem "die Stimme des Ostens bundesweit stärker zur Geltung bringen", sekundierte MDR-Intendantin Karola Wille. Und auch auf die Gefahr mich zu wiederholen: ja, bitte, großartige Idee!
Bislang scheint es aber vor allem eine selbst auferlegte Prüfung für die Redaktion von ARD aktuell und die kooperierenden Landesfunkhäuser zu sein, sich bei ihrer behaupteten "Kernkompetenz" – der "Nähe zu den Menschen" – von allzu naheliegenden Erzählstrukturen zu lösen. Auch wenn das viel, viel, viel aufwendiger ist als vorher gedacht.
Und damit: zurück nach Köln.
Die "mittendrin"-Beiträge laufen regelmäßig in den "Tagesthemen" und lassen sich gesammelt auf tagesschau.de ansehen (hier).