Als das Weltgeschehen nach dem Thüringen-Skandal, Terror in Hanau und der Kapitulation von Annegret Kramp-Karrenbauer als CDU-Vorsitzende zu Beginn des Jahres endgültig keinen Bock mehr hatte, ins Programmschema des Ersten Deutschen Fernsehens zu passen, entschied man sich in der ARD zu einer extremen Reaktion – und probierte einfach mal was Neues aus. Mit den Worten "Heute war der Tag der radikalen Maßnahmen" begrüßte Ellen Ehni ihr Publikum am Dienstag, den 10. März, im Anschluss an die "Tagesschau" erstmals zu einem "ARD extra" über abgesagte Großveranstaltungen und Bundesliga-Geisterspiele. (Ohne wissen zu können, dass bald noch ein paar Tage mit sehr viel radikaleren Maßnahmen folgen würden.)
Damit war die Saison der Corona-Sondersendungen im deutschen Fernsehen offiziell eröffnet. In den darauffolgenden Wochen liefen regelmäßig Spezials zu der sich zuspitzenden Krise: bei ARD und ZDF bald sogar werktäglich; und selbst RTL, ProSieben und Sat.1 entdeckten ihre Verantwortung als Informationsmedien kurzzeitig neu.
Konkurrenz für die Mutter aller Spezials
Am präsentesten war freilich das Erste mit seinem neuen Format. Über viele Wochen widmete sich "ARD extra" Grenzschließungen, Kontaktverboten und späteren Lockerungen: mal zehn, mal 30, mal sogar 45 Minuten am Stück und mit wöchentlich wechselnder Zuständigkeit der Landesrundfunkanstalten. Ein Stück weit ist die Sendung zum Symbol dafür geworden, dass dieses Jahr so einiges anders läuft als sonst. Und beim gelegentlichen Alpträumen hab ich seitdem immer ein bisschen zusätzlich Angst, BR-Chefredakteur Christian Nitsche könnte mittendrin die Moderation an sich reißen, allen Traumprotagonisten ins Wort fallen – und dann ginge gar nichts mehr voran. Aber vielleicht hab ich auch nur zu viel ferngesehen.
Damit bin ich aber ja nicht alleine. Und hab deshalb so meine Zweifel, ob es wirklich klug ist, den Zuschauerinnen und Zuschauern noch ein neues Format vorzusetzen, um damit auf besondere Ereignisse zu reagieren. Schließlich hat das Erste, wenn die Welt kurzzeitig aus den Angeln gehoben wird, sonst ja immer die Mutter aller Spezials gezeigt: den "Brennpunkt".
Seit Corona ist das anders. Im Vorfeld der "ARD extra"-Premiere erklärte man in München, Sondersendungen mit "in erster Linie (…) aufklärende[m] Charakter" sollten auch in Zukunft unter dem neuen Titel ins Programm genommen werden, wenn sie "nicht Breaking News, sondern längere Prozesse betreffen". Alleine in diesem Jahr sind es bislang 55 zum Thema Corona geworden. Aber ehrlich gesagt sahen für mich eine ganze Reihe davon einfach aus wie "Brennpunkte": mit Interviews von Politikerinnen und Politikern, Reportagen aus Krankenhäusern, Berichten über Ansteckungen in Schlachthöfen.
Ist die US-Wahl "Extra" oder "Brennpunkt"?
Den "Brennpunkt" scheint man deswegen im Ersten keinesfalls aufgeben zu wollen. Und muss künftig in ohnehin schon schwierigen Breaking-News-Momenten auch noch entscheiden, welchem Format aus dem eigenen Sondersendungsfundus man den Vorzug geben will.
Würden Sie den Nahost-Konflikt nicht auch als längeren Prozess definieren? Läuft dann im Falle einer neuen Einzeleskalation trotzdem wieder ein Breaking-News-"Brennpunkt"? Und wie wird das mit den US-Wahlen dieses Jahr? Im Vorfeld gibt’s bei herausragenden Ereignissen "ARD extra" zur Einordnung, aber wenn Donald Trump wiedergewählt würde, einen "Brennpunkt"?
Wie schwer sich selbst Profis in Redaktionen manchmal damit tun, die Relevanz außerordentlicher Ereignisse einzuordnen, war vor anderthalb Wochen gut zu beobachten, als ARD und ZDF am Abend der massiven Explosion in Beirut, die ein Großteil der Stadt in Schutt und Asche legte, gar keine Sondersendungen ins Programm brachten – "eine journalistische Fehleinschätzung", wie die Verantwortlichen bei ARD aktuell im Nachhinein einräumten. Am nächsten Abend gab’s dann einen Wiedergutmachungs-"Brennpunkt". Auf den am Donnerstag ein "ARD extra" anlässlich des Schulbeginns in Mecklenburg-Vorpommern und Hamburg vom vorigen Montag folgte.
(Aus der ARD ist zu hören, in der Programmdirektion habe man sich gegen eine "ARD extra"-Ausstrahlung zu Wochenbeginn gesperrt, um die Quoten des Films "Leberkäsjunkie" und der neuen Staffel "Die Kanzlei" nicht zu gefährden, bevor auch noch Beirut dazwischen kam.)
Hitzerekord schlägt Ernsthaftigkeit
Mein (Brenn-)Punkt ist: Wenn die nachrichtliche Lage schon für gestandene Journalistinnen und Journalisten zunehmend schwer einzuordnen ist – wie soll es dann erst dem Publikum gehen, das sich nach Übersichtlichkeit sehnt, aber vom Sender seines Vertrauens einen ganzen Strauß unterschiedlicher Spezials entgegen gehalten kriegt?
Begrüßenswert wäre auch, wenn Formate, mit denen Programmanbieter das Weltgeschehen seriös begleiten wollen, diesbezüglich eine gewisse Verlässlichkeit mit sich brächten. Also, anders als zum Beispiel RTL das derzeit praktiziert. Dabei hat man in Köln im Frühjahr ja durchaus einen guten Job gemacht, als sich die Corona-Ereignisse überschlugen. Unterhaltungsprogramme wurden zu Gunsten verlängerter Hauptnachrichten zu TV Now verschoben, und um 20.15 Uhr informierte "RTL Aktuell spezial" Zuschauerinnen und Zuschauer, die dafür vielleicht nicht zu ARD oder ZDF eingeschaltet hätten. Die damit demonstrierte Glaubwürdigkeit hält natürlich nur so lange, wie sie nicht durch alte Reflexe torpediert wird.
Angesichts steigender Temperaturen in Deutschland war die Versuchung in der vergangenen Woche dann aber doch so groß, dass man’s im "Inhalteherz" des Kölner Senders nicht mehr ausgehalten hat – und dringend ein "RTL Aktuell"-Hitze-Spezial zur Hauptsendezeit produzieren musste.
Im Schottergarten der Sonderberichte
"Wir liegen ja im Moment unter den Rekordwerten vom letzten Jahr", konnte Moderator Mark Meuser seine Enttäuschung zwar schon zu Beginn nur schwer verbergen, bekam aber augenblicklich Rückendeckung von RTL-Chefmeteorologe Christian Häckl: "38,6 Grad sind nicht so weit weg von der magischen 40!" Anschließend wurde eine RTL-Reporterin im Schlauchboot auf einem weitgehend leeren Mannheimer Badesee zugeschaltet. Ulrich Klose dichtete vor Düsseldorfer Rheinuferkneipen dem Hitzschlag nahe: "Schwitzt du noch oder klebst du schon?". Im Kurzbericht ließ sich eine Rommé-vernarrte Kleingartenbesitzerin bei der vierten Dusche des Tages abfilmen, bevor sich der RTL-Reporter bei einem Dönerbuden-Besitzer erkundigte: "Und wie ist das in so ’ner Hitze zu arbeiten?" Worauf dieser zurückfragte: "Na, was glaubst du denn?" Anschließend meldete ein Kollege, der ausgestattet mit einem Hitzemessgerät auf der Suche nach besonders heißen Orten war, sichtlich stolz: "Dieser Schottergarten hat 51,5 Grad!"
"RTL Aktuell spezial" – das Format, mit dem Deutschland größter Privatsender über die Ausbreitung internationaler Pandemien berichtet. Und über Rekordtemperaturen in Kölner Vorgärten.
Einfach mal bisschen länger senden
Geht das auch anders? Ja, geht. Als sich die Nachrichtenlage Ende März selbst wochenends kaum beruhigen wollte, lief die "Tagesschau" um viertel nach acht an drei Sonntagen nacheinender statt der gewohnten 15 einfach 30 Minuten durch – so lange wie es der Redaktion offensichtlich nötig schien. Plötzlich war nicht nur ausreichend Platz für wichtige Nachrichten aus dem Inland. Sondern auch für Berichte von Korrespondentinnen und Korrespondenten darüber, wie fatal sich die weltweiten Ausgangsbeschränkungen auf Wanderarbeitende in Indien auswirkten; und was Singapur aus vorherigen Infektionswellen gelernt hat, um die Corona-Verbreitung einzudämmen. Das vermittelte im gewohnten Format einen ziemlich umfassenden Eindruck von dem, was gerade in der Welt los war. Ganz ohne Extra und Spezial.
Von mir aus können wir das ab jetzt öfter so machen. Die Zuständigkeit für kurz vor der Selbstentflammung stehende Steinvorgärten übernimmt ja vielleicht freundlicherweise künftig die Redaktion von RTL-"Extra".
Und damit: zurück nach Köln.
P.S.: So lange der geschätzte Kollege Hans Hoff es noch nicht für nötig hält, seinen wohlverdienten Unruhestand zu unterbrechen, um die TV-Branche wieder gerade zu rücken, müssten Sie an dieser Stelle künftig mit mir Vorlieb nehmen. Ich halte dir den Kolumnenplatz so lange warm, Hans! Und wir lesen uns in der nächsten Woche wieder, wenn es endlich Zeit wird fürs erste "Hauptstadtstudio Spezial".