Martina kämpft mit ihrem Garten: "Ich hab das Gefühl, der Wein stirbt eher, als dass er lebt." Victoria saniert ein altes Pfarrhaus im Alleingang: "Ich bin ja quasi die Bauleitung – und hab keine Ahnung." Jaquie, Hobby-Tattoo-Artist und Ex-Hamburgerin, versucht auf der nordhessischen Dorf-Kirmes ihrer neuen Heimat das Positive abzugewinnen: "Ich find das ja cool, wenn sich Leute Mühe geben." Clara und Tobi bauen ein Gemeinschaftsprojekt für Familien auf: "ein Lebenstraum" – mit Hindernissen.

Denn dieser Traum ist, natürlich: ein Kreuz.

Seit 2023 begleitet die Dokusoap "Raus aufs Land" Menschen, die die Großstadt gegen ein vermeintlich entschleunigteres Leben auf dem Land eintauschen, gemacht für die ARD Mediathek. Und so erfolgreich, dass im März bereits die fünfte (!) Staffel startete.

Im Vorspann haucht eine Stimme im Reinhard-Mey-Kantereit-Stil "Raus aufs Land", dazu kräht ein Hahn – fertig ist die akustische Tapete für die große Selbstverwirklichung einer Generation. Die gemerkt hat, dass sie sich in der Großstadt kein Haus mehr leisten kann, aber 80 Kilometer weiter draußen bröckelnde Fachwerkhäuser zum Schnäppchenpreis rumstehen.

Gnadenhof statt Bratwurstbude

Während sich das Privatfernsehen schon seit vielen Jahren treu um all jene kümmert, die nach Mallorca auswandern, um dort Bratwurstbuden oder Muckibuden zu eröffnen, fehlte denen, die marode Anwesen in Brandenburg erwerben, um dort Entenmastflüchtlinge zu retten, bislang eine televisonäre Heimat. Das hat sich mit "Raus aufs Land" geändert, einem "Goodbye Deutschland" für Metropolen-Auswanderer:innen mit Faible für Öko-Romantik statt Ballermann-Ästhetik: "Goodbye Großstadt" für die Gen Z!

Die zweite Staffel erreichte über eine Million Abrufe in der Mediathek. Und ist aktuell vielleicht der größte Hit des sonst eher nicht so erfolgsverwöhnten RBB, von dem die Reihe ursprünglich ins Leben gerufen wurde, bis sich in Staffel zwei der HR mit dranhängte.

Inzwischen ist daraus eine übergreifende "Produktion für die ARD" (Vorspann) geworden, an der fünf Landesrundfunkanstaklten (RBB, HR, BR, SWR und MDR) beteiligt sind, um unter Federführung des Showrunners und Formaterfinders Helge Oelert "Heldenreisen quer durch Deutschland" zu dokumentieren. Damit das Mediatheken-Publikum möglichst unterbrechungsfrei den Überlebenskampf urbaner Gleichgesinnter verfolgen kann, die ihm zum Verwechseln ähnlich sind.

Es fehlt nicht am Durchhaltewillen

Mit 13 Autor:innen, die für 20 Protagonist:innengeschichten zuständig sind, erprobe man "neue Wege der Kooperation in der ARD", um die Einzelerzählungen "zu einem abwechslungsreichen Storytelling" zusammenzuführen: "Unsere Dokusoap entwickelt sich mit jeder Episode weiter und ist ganz nah am echten Leben."

Aber das ist angesichts der vorhersehbaren Dramaturgie ungefähr so weit weg von der Realität wie die Erzählorte vom U-Bahn-Anschluss. Denn die Geschichten sind, aller Variation zum Trotz, immer dieselben: von Städter:innen, die raus aus dem Trubel wollen, um sich selbst zu verwirklichen, neu anzufangen, den Burn-out wegzugärtnern. Bloß, um sich mit ihrem baulichen Großprojekt direkt den nächsten Mühlstein um den Hals zu hängen. Eben noch: Prosecco aus dem Recup-Becher nach dem Notartermin – jetzt schon Stress, weil das komplette Haus erstmal entkernt werden muss.

Victoria powert durch: "Ich kann da nicht aufhören, ich will das jetzt fertig haben." Sie weiß: "Es ist ein extremer Druck da, ich bin teilweise extrem überfordert von der Situation" – aber anders als am Budget fehlt es nicht am Durchhaltewillen.

Ein romantischer Akt der Befreiung

Simone und Anselm glauben fest an ihren Traum vom selbstrenovierten Fachwerkhaus, auch wenn sie vom geplanten Einzugstermin noch meilenweit entfernt sind. "Wir bleiben jetzt nicht stehen und wir werden's auch nicht aufgeben, aber jetzt müssen wir uns ein paar Energieschübe von außen holen", erklärt Simone, während ihr Mann philosophisch wird: "Entweder ich fliege hin oder ich lass es gleich. Aber wenn ich's gleich gelassen hab, hätte ich nie gewusst, ob's funktioniert hätte."

Isabel und Aaron, ehemalige Werber:innen, haben einen Campingplatz übernommen und planen Großes: "Wir sind nicht nur ein Campingplatz – wir sind ein ORT." Einer, an dem sich spätestens nach der ersten eigenveranstalteten Weinprobe mit regionalem Amuse-Gueule aber herausstellt, dass der Platz eben doch vor allem ein Campingplatz ist – mit all seinen Herausforderungen.

Macht nix. Begleitet von sanfter Musik wirkt selbst die radikalste Selbstüberforderung wie ein romantischer Akt der Befreiung.

Die Dramatik des Beinahe-Scheiterns

Die systematische Dramatik des Beinahe-Scheiterns, die jede gute Doku-Reality antreibt, ist "Raus aufs Land" genauso eingepflanzt wie seinem deutlich prolligeren Vorbild. Von der Baustelle bei zwei Grad Außentemperatur bis zum nicht rechtzeitig fertiggestellten Erdkeller für die Apfelernte – überall lauern Probleme, die für Konflikt, Frustration und mitreißende TV-Momente sorgen.

Niemand scheitert so richtig – das wäre schlecht fürs Format. Stattdessen werden Hürden gerade so bewältigt, dass die Aussteiger:innenträume am Leben bleiben dürfen. Das Erschöpftsein wird zur Trophäe: "Man lernt sich besser kennen. Dass man die geglaubte Geduld, das Durchhaltevermögen vielleicht doch nicht hat", gesteht Simone in einem im Format eher seltenen Moment der Selbstreflexion.

Zum Schluss siegt immerzu die Selbstbestätigung, sei sie auch noch so konstruiert: "Im Endeffekt ist es die richtige Entscheidung. Es kann nicht jeder behaupten, mit 25 gebaut zu haben", sagt Jaquie.

Und Martina stellt im Odenwald fest, dass auch die Beziehung mit ihrem Freund jetzt besser läuft: "Weil ich halt nicht so gehetzt bin. Ich geh drei Stunden in den Garten, arbeite was und hab dann immer noch Zeit, um zu sagen: Mein Gott, dann heb ich die Boxershorts eben selbst auf, damit der Staubsaugerroboter sie nicht frisst."

Kunstgriff für den Dauer-Cliffhanger

Die Stärke des Formats ist zugleich dessen größte Schwäche, weil "Raus aufs Land" komplett auf Kommentierung verzichtet – auf Einordnung deshalb aber auch. Während das Publikum vermeintlich authentische Einblicke erhält, setzen die Macher:innen auf ein striktes Ordnungsprinzip: Jede Protagonistin, jeder Protagonist wird auf ein Schlagwort reduziert und mit einer spannungsgeladenen Frage versehen. "DIE EINZELKÄMPFERIN – Kann sie ihr Haus auf dem Land alleine fertig bauen?" – "DIE NESTBAUER – Werden Sie für ihre Kinder in der Gemeinschaft ein schönes zu Hause schaffen?" – "THE WILD ONE – Kann sie auf dem Land so frei leben wie in der Stadt?"

Das erlaubt den schnellen Wechsel zwischen Handlungssträngen, ohne dass die Zuschauer:innen den Faden verlieren – ein Kunstgriff, der die Komplexität individueller Lebensentscheidungen auf einen stetig wiederholbaren Cliffhanger reduziert.

Für eine kritische Begleitung der Entscheidungen, die oft auch wirtschaftlich ganz schön uiuiui sind, bleibt da kein Platz. Einschränkungen und Nachteile werden allenfalls angedeutet: Ach, im Ortskiosk kann man gar nicht mit Karte zahlen? Ui, der Weg zur Kita ist plötzlich ganz schön weit? Ei, irgendwer muss der letzten Bewohnerin des frisch erworbenen Hofs noch sagen, dass sie leider wegen der geplanten Renovierung bald ausziehen muss?

Unendliche Pipeline neuer Träumer:innen

Erst zum Ende der Staffel erfährt das Publikum in knappen Sätzen, wie es für die Protagonist:innen weitergegangen ist: "Simone und Anslem konnten bis heute noch nicht einziehen." Oder über Aussteigerin Jaquie, die jetzt doch nicht mehr in der Grundschule mit Migrationskindern arbeitet, sondern "wieder in ihrem alten Beruf und Verkaufsflächen eines großen Möbelhauses gestaltet". Die Camper:innen Isabel und Aaron "konnten nach Saisonende nicht wie erhofft entspannen. Stattdessen haben sie den ganzen Winter mit Renovierungsarbeiten verbracht". Und Clara und Tobi haben zwar ihre Hofgemeinschaft umsetzen können, aber: "Beide suchen noch Jobs in ihrer neuen Heimat."

Die eigentliche Erfolgsformel des Formats liegt in der unendlichen Pipeline neuer Träumer:innen: "Planst du auch aufs Land zu ziehen? Schreib uns eine E-Mail", fordert eine regelmäßige Einblendung auf – die nächste Staffel kann kommen.

Es ist auch dieses ständige Neuanfangen, das "Raus aufs Land" für seine Zuschauer:innen so anschlussfähig macht. Ohne die langfristigen Folgen der manchmal überstürzt wirkenden Entscheidungen tiefer zu ergründen, kann die Serie immer wieder von vorn beginnen – mit neuen Charakteren und neuen Wagnissen, die im gleichen Muster verlaufen. Bis kurz vor Schluss wieder jemand überraschend schwanger auf der Baustelle des noch nicht fertigen Hauses steht und sich drauf freut, wenn das Baby endlich da ist, weil: "Da kann ich's mir vorne anschnallen und Schränke zusammenbauen."

Die Ironie des Eskapismus

Keine Frage: Vieles gelingt auch, die meisten Großstadt-Auswanderer:innen sind zufrieden mit ihrem neuen Leben, dem Platz im Grünen, dem neuen Hof. Zur in der Sendung unausgesprochen bleibenden Wahrheit gehört aber auch, dass viele der Protagonist:innen den Stress der Metropole erstmal gegen den Stress der permanenten Baustelle getauscht haben, ohne die urbane Infrastruktur, die ihnen bislang das Leben erleichterte.

Am Ende steht meist die nüchterne Erkenntnis, die Severin, der Erdkeller-Baumeister, so formuliert: "Der Sommer ist schnell vorbeigegangen. Man merkt deutlich, wie es kälter wird. Da ist natürlich Zeitdruck da."

Doch während Vox seine die Auswanderer:innen-Biografien manchmal bis zum bitteren Ende verfolgt, steigt "Raus aufs Land" aus, wenn es brenzlig wird: beim Übergang in die Alltagsrealität. Vielleicht ist das auch besser so – sonst müsste man am Ende noch die wirklich harten Fragen stellen. Aber wer will das schon, wenn man weiter so schön unscharf in den Sonnenuntergang hineinträumen kann?

Und damit: zurück nach Köln.

Alle „Raus aufs Land“-Staffeln sind in der ARD Mediathek abrufbar, zuletzt erscheint Staffel 5.