Es ist ja nicht so, dass das deutsche Fernsehen in der Vergangenheit arm gewesen wäre an mutigen, verrückten Show-Locations: Airbusse und Reisebusse, Marktplätze und Parkplätze, Stierkampf- und Römerarenen. Aber es spricht natürlich nichts dagegen, dieser ohnehin beeindruckenden Liste noch einen Heilbronner Autobahnrasthof, eine Ostseeseebrücke, einen sächsischen Gasthof und die Tiroler Alpen hinzuzufügen.
Denn allen Vorerfahrungen des Mediums zum Trotz war es natürlich eine kleine Revolution, als ProSieben für "Ein sehr gutes Quiz (mit hoher Gewinnsumme)" in den vergangenen Wochen an wechselnden Orten im Nirgendwo seine mobile Zirkuszeltbühne aufschlug, um dort spontan hingelockten Kandidat:innen die Chance zu geben, 100.000 Euro mit auf den Heimweg zu nehmen.
"Noch nie hat hier jemand 'ne Fernsehshow gemacht", schwärmte Joko Winterscheidt, als er zum Start der dritten Ausgabe einen schneebedeckten Hang hochkraxeln musste, bevor auf 1700 Höhenmetern die Lightshow eingeschaltet wurde. In der Woche zuvor hatte Klaas Heufer-Umlauf im Hochseefischer-Outfit beim Umstieg von einem lichtkegelbeschienenen Segel- in ein Schlauchboot der DLRG-Wasserrettung bereits dem Publikum in die Dunkelheit hineinversprochen: "Es wird gleich noch ordentlich moderiert. Aber wir müssen gerade in erster Linie überleben."
Bildgewordene TV-Spektakel-Poesie
Jedes Mal wich das Fast-Schwarzbild zum Einstieg nach Preisgabe des aktuellen Veranstaltungsorts einer Drohnenaufnahme des üppig beleuchteten Quizzelts, das – nicht nur von weitem betrachtet – wie ein funkelnder Fremdkörper in der Umgebung wirkte. Eine bildgewordene TV-Spektakel-Poesie, an der man sich gar nicht sattsehen konnte.
Quer durch die Republik hatte der Sender seine Quiz-Crew geschickt, um "jedes Mal einen absolut fernsehshow-untauglichen Ort" zu erkunden: die Seebrücke Koserow auf Usedom ("Ich hab sehr kalte Füße"), der Autohof Bad-Rappenau Nord an der A6 ("Ein Ort der Gegensätze") und die Mittelstation Zwölferkogel Hinterglemm, an der nach Showbeginn malerisch die Schneeraupen den Hang runterkurvten, um wenigstens ein bisschen wettzumachen, dass das ganze großartige Gebirgspanorama nach Einbruch der Dunkelheit ja gar nicht mehr zu sehen war.
Das Location-Hopping war wesentlicher Bestandteil der Show-Inszenierung, jedes Mal mit einer Einladung verbunden, doch bitte genau jetzt an die eingeblendete Adresse zu kommen und live dabei zu sein: "Jeder kann zuschauen – Teilnahme kostenfrei".
Willkommen aus Bad Salzuflen!
Mit charakteristischer Selbstironie entdeckten Joko und Klaas auf diese Weise eine lange vernachlässigte Superkraft des klassischen Fernsehens wieder: Die Fähigkeit, einen Ort zum Protagonisten zu machen – und das Publikum nicht nur als Klatschkulisse, sondern als Teil des Geschehens einzubeziehen. (Auch wenn's jetzt zum Schluss bloß noch für ein Gasthof-Gastspiel gereicht hat.)
Schon in der Vergangenheit feierte das Fernsehen einige seiner größten Erfolge, wenn es sich traute, die vertraute Studioumgebung zu verlassen. Ihren Städtewettbewerb "Spiel ohne Grenzen" holte die ARD ab 1965 regelmäßig auf die Marktplätze wechselnder Städte und landete damit einen Riesenhit – der sich nach seiner ersten Absetzung aus Kostengründen weder von Michael Schanzes Neuauflage 1989 in Bad Salzuflen noch von den ab 2003 an den Europapark Rust getackerten "Deutschland Champions" wiederholen ließ.
Auch Hans Rosenthal, der gerade seinen 100. Geburtstag gefeiert hätte, half in den 80er Jahren mit "Gefragt – Gewusst – Gewonnen!" dabei, Städtenamen wie Maulbronn oder Quakenbrück in die deutsche Fernsehgeschichte einziehen zu lassen (um denkmalgeschützte Kleinstädte vorzustellen und nebenbei ein paar Quizfragen zu stellen).
Von Ochsenrennen und Gladiatiorenkämpfen
Zur Wahrheit gehört aber auch, dass das Medium mit Ortswechseln nicht nur positive Erfahrungen gemacht hat: 1994 verirrte sich RTL mit Frank Elstner in ein logistisches Abenteuer und veranstaltete eine Quizshow im fliegenden Airbus ("Ich begrüße Sie herzlich in unserem wunderschönen Fernsehstudio!", rief Elstner aus der Kabine) – um kurz darauf mitzuerleben, wie die Quoten von "Flieg mit Air-T-L" innerhalb weniger Ausgaben in den Sinkflug gingen – weil der Ort allein keine Show trägt.
Der RTL-Hindernisparcours "Entern oder Kentern", eine Art thematisch festgelegter Freizeitparkvariante von "Spiel ohne Grenzen" unter freiem Himmel auf einem Acker in Hürth bei Köln, floppte 2007 ebenso wie ein Jahr zuvor schon das "ProSieben Ochsenrennen" auf einem Acker in Dietramszell.
Und als die ARD 2012 kurzzeitig den Ehrgeiz hatte, Spielspektakel mit historischer Wissensvermittlung zu kombinieren, und Spielleiter Matthias Opdenhövel mit Promis für einen Kampf Arm gegen Reich in römischen Originalkostümen in die historische Arena in Xanten zu stellen, blieb es bei diesem einmaligen Versuch für "Brot und Spiele".
Zwischen Ossendorf und Peking
Was eigentlich schade ist, weil das Draußen auf so viele Arten als Bereicherung von (Live-)Fernsehen empfunden werden kann. Zur Beschwörung des Gemeinschaftsgedankens, wie einst in der "Stadtwette" von "Wetten, dass..?", wo sich am Samstagspätabend problemlos 1000 Leute fanden, die sich fürs Fernsehen im Bademantel vor ihr Rathaus stellen. Oder als unfreiwillige Parodie, so wie vor zehn Jahren, als "Deutschland sucht den Superstar" sich für einen Abend kurzerhand aus dem Studio auf den davor gelegenen Parkplatz im Gewerbegebiet Köln-Ossendorf selbst transferierte. Oder zur Demonstration von Weltoffenheit, wie einst der "Musikantenstadl", der deutsche Volkstümlichkeit unter Karl Moik in die Verbotene Stadt in Peking, nach Toronto, Melbourne und Dubai brachte.
Gleichzeitig schienen die Zeiten, in denen sich das Fernsehen zum Anfassen regelmäßig nach draußen locken ließ, schön länger aus guten Gründen vorbei.
Die Produktionen sind zu teuer, zu aufwändig, zu unberechenbar. Und wer weiß schon, wie lange die ARD bei ihren Sommer-Schlagershows noch riskieren mag, die fast schon berechenbar aufziehenden Unwetter entweder gekonnt in die Sendungsdramaturgie einzuweben oder stattdessen die Aufzeichnung der vorherigen Generalprobe zu zeigen?
Jenseits der Studiogrenzen
Zweimal hatte ProSieben in den vergangenen Jahren bereits Versuche unternommen, mit eigenen Varianten an einstige Draußen-Erfolge anzuknüpfen: erstmals 2016, als Elton und Palina Rojinski das Wohnzimmer einer Familie in einem rheinland-pfälzischen Örtchen mit dem kompletten Straßenzug kaperten, um dort mit Flutlicht, Pyrotechnik und Spielapparaturen ihr "Auswärtsspiel" zu veranstalten. 2019 folgte der mittelinspirierte Wiederholungsversuch als "Liveshow bei dir zuhause" mit Steven Gätjen und – wieder – Matthias Opdenhövel (der außer "Brot und Spiele" auch schon das "Ochsenrennen" moderiert hatte). Fortsetzung folgte – nicht. (Eventuell lag das aber auch daran, dass eine weltweite Pandemie dazwischenkam.)
Dass Joko und Klaas nun an diese Tradition anknüpften, ist alles andere als verwunderlich. Ihr gesamtes Werk ist geprägt von der Idee, die Grenzen des Studios zu überschreiten – vom "Duell um die Welt" bis zu den regelmäßig erspielten Sendezeit-Freiminuten im ewigen Kampf gegen ihren Arbeitgeber.
Ein (verhältnismäßig gewöhnliches) Quiz in unmögliche Locations zu verlegen, ist nur konsequent: als weiterer Versuch, Fernsehen wieder zu einem Ereignis zu machen, bei dem der Zufall eine Rolle spielen und das Publikum Teil davon sein darf. "Ich hätte nie gedacht, dass wir uns mal persönlich kennenlernen!", flippte Zuschauerin Kim in der Schlange auf der Seebrücke bei "ESGQ" vor zwei Wochen aus, als plötzlich ihre TV-Lieblinge vor ihr standen und die Live-Moderation für ein schnelles Selfie unterbrachen, bevor sich Klaas unter den Anwesenden weiter durchfragte: Wie habt ihr erfahren, dass wir heute hier sind? Wo wolltet ihr ursprünglich hin?
Eine seltener gewordene Magie
In einer TV-Welt voller perfekt kalkulierter Programme besitzt die Aussicht auf ein Spektakel an einem absolut Fernsehshow-untauglichen Ort einfach eine Magie, die selten geworden ist.
Und wenn man in seinem bisherigen Fernsehleben bereits die entlegensten Orte der Welt bereist hat, um sich dort Donuts in die Stirn zu spritzen, an Hochhäuser zu kleben und von Mooren verschluckt zu werden, ist es durchaus schlüssig, jetzt nach Bad Rappenau, Koserow, Schönwölkau und Saalbach-Hinterglemm zu gehen. Denn darin liegt eine der letzten Superwaffen, die dem Medium geblieben sind: im wahrsten Sinne des Wortes möglichst nah dran zu sein am eigenen Publikum.
Die Logistik dahinter ist ein Albtraum, die Kosten sind hoch, das Risiko ist enorm – aber das Ergebnis ist ein TV-Moment, den kein noch so ausgeklügelter Algorithmus reproduzieren kann.
Und damit: zurück nach Köln.
Alle "Ein sehr gutes Quiz"-Ausflüge lassen sich via Joyn nachschauen.