Der Nebel wabert über den Deich, während die Kommissarin ihr E-Bike am Fuße des malerischen Weinbergs abstellt. Ein Schaf blökt klagend in der Ferne, während die Alpen in der Morgensonne glitzern. Aus dem Wattenmeer ragt eine Hand. Genervtes Augenrollen – schon die dritte Leiche dieser Woche im beschaulichen Bergöd, wo norddeutsche Küstenidylle auf bayerisches Gebirgspanorama trifft. Und gut kalkulierbare Publikumsresonanz auf televisionäre Gleichförmigkeit.
Natürlich hab ich mir diesen Unfug nur ausgedacht. Aber ganz so wie hergeholt, wie Sie glauben, ist es nicht.
Oder, anders formuliert: Es war vermutlich nur eine Frage der Zeit, bis auch RTL den kriminologischen Regionalexpress erklimmen würde, den ARD und ZDF bereits seit Jahren so erfolgreich steuern.
Das Immergleiche, nur wechselnde Leiche
Gerade mal zwei Jahre ist es her, dass die Kölner:innen ihren ersten "Dünentod"-Krimi ins Programm holten, um den späteren "Tödlichen Dienst-Tag" damit zu begründen. Dieser ist inzwischen nicht nur zu einer festen Erfolgsgröße im Programm geworden – sondern auch ein schnell wachsendes Franchise des Immergleichen mit wechselnden Leichen.
Außer Hendrik Duryn als Ermittler im fiktiven Küstenort Werlesiel an der friesischen Küste gibt's inzwischen auch "Behringer und die Toten" aus Bamberg, "Mord im Revier" aus dem Ruhrpott, "Alpentod" aus der fiktiven Kreisstadt Bad Wolfengrub im Grenzgebiet zu Österreich und – damit niemand denkt, hier würde gespart – ab dieser Woche "Morden auf Öd", eine Serie über eine fiktive Nordseeinsel, auf der statistisch gesehen längst niemand mehr leben dürfte, wenn man die Rate zugrunde legte, in der dort bereits zum Auftakt abgelebt wird.
Die Filme sind fast durchweg hochwertig produziert, haben (mehr oder weniger) funktionierende Spannungsbögen, einander ergänzende Charaktere und erzählen allesamt abgeschlossene Fälle, weil sich das dann besser wiederholen lässt.
Erfolgsprinzip: S.O.S – Same Old Stuff
Auch der Programmplatz ist wohlüberlegt: Dienstag ist der einzige Wochentag, an dem weder ARD noch ZDF ihre obligatorischen Krimis ausstrahlen. Eine perfekte Lücke, um krimisüchtige Ältere abzufischen, die RTL für die Werbevermarktung braucht, wenn die Jüngeren zunehmend ins Non-Lineare wechseln.
Und die Rechnung scheint aufzugehen: Mit der Premiere von Veronica Ferres als engagierter Alpen-Kommissarin setzte man sich beim Zuspruch des Gesamtpublikums Anfang März noch vors ZDF; eine "Behringer"-Wiederholung mit Antoine Monot Jr. begeisterte in der zurückliegenden Woche noch mal fast genau so viele Zuseher:innen wie bei der Erstausstrahlung – trotz DFB-Pokal im Gegenprogramm. RTL hat also alles richtig gemacht – und genau darin besteht das Problem. Weil das deutsche Fernsehen natürlich eines ganz gewiss nicht in noch größerer Fülle braucht: Regionalkrimis. (Insbesondere in einer Ausprägung, die kaum von den Wettbewerbern zu unterscheiden ist.)
Was befördert den Erfolg des Genres? Die Antwortformel ist so einfach wie bestechend: S.O.S – Same Old Stuff. Denn die meisten Formate folgen einer präzisen Choreografie der Vorhersehbarkeit.
Markenzeichen und Kindheitstrauma
Es gibt majestätische Kameraflüge über die jeweilige Region: nebelige Bergkulissen, idyllische Weinberge, Schafe auf Deichen und Möwen im Tiefflug übers Meer. Jeder Platz kriegt seinen visuellen Stempel: Postkartenmotiv mit Leichenfundstelle. Dabei sind sämtliche erzählten Verbrechen eigentlich viel zu groß für die beschaulichen Örtchen.
Dazu wird der Stadt-Land-Konflikt stets aufs Neue beschworen: Die Kommissarin aus der Metropole wird von den Einheimischen erst abgelehnt, erkämpft sich dann aber doch Respekt. Der (meist männliche) Hauptermittler hat ein unverkennbares Markenzeichen (trinkt Capri-Sonne, fährt Jeep) oder ein bislang gut gehütetes privates Geheimnis und/oder Kindheitstrauma (Eltern bei einer Gasexplosion gestorben).
Permanent wird undercover und in Zivil ermittelt, um in sonst verschlossenen Kreisen nach Informationen zu suchen oder Korruption innerhalb der eigenen Reihen zu bekämpfen. Autoritätskonflikte mit höherer Behörden sind an der Tagesordnung.
Mordspaß zum Feierabend
Filme starten mit der Leiche der Woche: dem überfahrenen Privatschulllehrer, dem Toten im Boot, dem Toten im Wald. Mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit erfährt der sich in Aufklärung befindliche Fall ungefähr acht Minuten vor Schluss nochmal eine überraschende Wendung, um den wahren Täter zu finden oder die Komplizin des Verdächtigten zu entlarven.
Zwischendurch gibt es lockere Sprüche und Comic Relief ("Auch'n Kaffee?" – "Jaha, genauso gern wie Fußpilz"), Ermittler-Weisheiten ("Ich bin seit 25 Jahren Polizist. Ich merke, wenn mich jemand anlügt") und Reviermarkierungen ("Ihr Bereich, mein Bereich", zieht der junge Kommissar auf Öd eine Kreidelinie für die neue Kollegin). Am Schluss sitzen aber alle beieinander, machen Brotzeit, trinken Kaffee oder Bier. Die nächste Leiche, bitte.
RTL-Fiction-Chef Hauke Bartel hat es im DWDL-Interview ja selbst auf den Punkt gebracht: "Für den Zuschauer ist es entscheidend, wo er seinen Feierabend verbringt. Es ist wie ein kleiner Urlaub." Ein berechenbarer Mordspaß zum Feierabend.
Zustand der kriminalistischen Übersättigung
Dabei befand sich das deutsche Fernsehen eigentlich schon vorher im Zustand der kriminalistischen Übersättigung. Die ARD unterhält neben dem "Tatort" eine komplette Sammlung an Regionalkrimis von "Nord bei Nordwest" bis zum "Usedom-Krimi"; das ZDF steht dem mit "Nord Nord Mord", den "Toten vom Bodensee" u.a. in nichts nach.
Und RTL? Hat anfangs versucht, mit Produktionen wie "Sonderlage" immerhin für etwas Abwechslung zu sorgen. Man habe dann aber gemerkt, "dass die eher klassischeren Ermittlungs-Procedurals (…) auch bei uns das größte Potential aktivieren", bilanzierte Bartel bereits im vorvergangenen Jahr. Dass der Sender diese Strategie verfolgt, ist wirtschaftlich nachvollziehbar: In Zeiten schwindender linearer Reichweiten sind verlässliche Quoten beim kaufkräftigen älteren Publikum Gold wert.
Aber wenn dieser Trend anhält, steigt in zunehmendem Maße auch die Austauschbarkeit der Anbieter, zumal die Zuschauer:innen schon jetzt wenig Loyalität pflegen und je nach Programmtag den Sender wechseln, um abends ihre verlässliche Dosis Krimi abzukriegen.
Inselkrimis ohne erkennbaren Absender
Auf RTL+, das seinen Abonnent:innen auch lizensierte Inhalte des ZDF anbietet, ist derweil schon gar nicht mehr erkennbar, von welchem Absender der nächste Inselkrimi stammt, der den Zuschauer:innen nach Ansicht des ersten Inselkrimis empfohlen wird. Womöglich ist es im Streaming-Zeitalter auch egal, solange die Verweildauer stimmt und das Abo weiterläuft.
Bei aller Kritik an der Redundanz wäre es unfair, die Qualitäten der Regionalkrimi-Maschinerie auszulassen. Denn jenseits der formelhaften Muster bieten die Reihen einiges, was das Publikum zu schätzen weiß: Sie zelebrieren eine gewisse Heimatverbundenheit, haben einen klaren Qualitätsanspruch, sind oft gut besetzt (Detlev Buck als korrupten Inselpolizisten hätte ich gern viel öfter gesehen!), solide produziert und setzen auf Figuren mit Wiedererkennungswert. Sie liefern die vom Publikum ersehnte Verlässlichkeit und sichern nicht zuletzt Arbeitsplätze für Schauspieler:innen, Autor:innen, Kameraleute und viele andere Kreative in Deutschland.
Und doch ist der Erfolg des "Tödlichen Dienst-Tags" gleichzeitig seine größte Tragödie: Denn wenn RTL mit zwar hochwertigen, aber maximal kalkulierten Genrekopien besser fährt als mit Innovationen, warum sollte dann irgendein anderer Sender künftig noch Risiken eingehen?
Wann kommt "Der Bulle von Tölz 2.0"?
So wird die Flut der Regionalkrimis weitergehen. Es kann sich eigentlich nur noch um Tage handeln, bis Sat.1 mit Prime Video die ersten Kooperationen meldet. Vielleicht "Todesschlucht – Ein Saarland-Krimi": In Deutschlands kleinstem Flächenland kennt jede:r jeden – ein Albtraum für den Berliner Kommissar, der ins provinzielle Saarbrücken strafversetzt wird? Oder "Apfelwein & Arsen – Ein Hessen-Krimi": Ein ungleiches Team aus Frankfurter Finanzermittlerin und Vogelsberg-Dorfpolizist jagt Finanzverbrecher:innen, die in idyllischen Landgasthöfen ihre Spuren verwischen? "Rotwein & Totenschein – Ein Pfalz-Krimi"? "Treibsand – Ein Hallig-Krimi"?
Oder, das wär's doch mal: "Der Bulle von Tölz 2.0 – Ein Influencer-Krimi" – Ottfried Fischers Sohn ist Polizist geworden und kehrt nach seiner Social-Media-Karriere zurück nach Tölz, wo er mit neumodischen Methoden (u.a. Googeln) Morde im TikTok-Milieu aufklären soll?
Kein Bundesland darf verschont bleiben, keine Region ohne Opfer! Die große deutsche Krimi-Konformität ist im Jahr 2025 ein für allemal zum TV-Naturgesetz geworden. Denn auf eins muss Verlass sein: Gestorben wird im deutschen Fernsehen immer nach demselben Drehbuch.
Und damit: zurück nach Köln.
"Morden auf Öd – Ein Insel-Krimi" läuft an diesem und am nächsten Dienstag um 20.15 Uhr bei RTL und ist bereits bei RTL+ abrufbar.