Die Quoten seiner Sendungen waren – zumindest bis zu dieser Woche – ordentlich. Die Kritiken so mittel. Aber für eine Sache hat sich Stefan Raabs TV-Comeback zweifellos schon jetzt gelohnt: In den kompletten zehn Jahren zuvor hat das deutsche Primetime-Fernsehen zu keinem einzigen Zeitpunkt so viel musikalische Vielfalt zugelassen wie an den vergangenen zwei Wochenenden bei RTL und gestern im Ersten.

Statt Schlagerstars und Castingshow-Anwärter:innen standen plötzlich Mittelalter-Rocker neben Elektropop-Talenten neben Soul-Stimmen neben Singer-Songwriterinnen auf der Bühne und bewarben sich mit größtenteils selbst komponierten Titeln darum, in diesem Jahr für Deutschland beim schillerndsten Musikwettbewerb Europas antreten zu dürfen.

Es war zweifellos ein Line-up, das im Mainstream-TV mit seiner Musikvielfalt-Aversion wohl ausschließlich unter dem Einfluss Raabs auf Sendung geschickt werden konnte. Aber das genügt einem wie ihm als schöpferisches Erbe natürlich nicht.

Und genau da fängt das Problem an.

Mit weit gespreizten Fingern doziert

"Ich bin kein Typ für Kompromisse", erklärte Raab im vergangenen Herbst zur Wiederaufnahme seiner ESC-Ambitionen. "Ich will gewinnen. Das ist das Einzige, was mich interessiert. Alles oder nichts." Es klang wie eine Drohung. Vor allem: an sich selbst.

Und so saß der vermutlich erfolgreichste deutsche TV-Produzent der Nullerjahre gerade wieder als Jury-Chef in einem TV-Studio, nestelte in einer Tour an der Krawatte herum, die er sonst genauso selten trägt wie den schwarzen Anzug, und dozierte professorenhaft dazu, was einen Eurovision-Hit ausmacht: "Ein guter ESC-Song ist immer der, der die Leute berührt und leicht zu erinnern ist." – "Ist nicht immer zwingend, dass so 'ne Uptempo-Nummer gewinnt." – "Timing ist das Allerwichtigste."

Mit weit gespreizten Fingern erklärte Raab Hooks und Refrains; fand Songs "unglaublich tight, supergut durcharrangiert"; kritisierte andere, die er "nicht auf Anhieb zurücksingen" konnte; verwechselte zum wiederholten Mal, dass der potenzielle Mädchenschwarm am Klavier beim Erstauftritt keinen eigenen Song performt hatte; und verirrte sich in länglichen Ausführungen, während Jury-Kollege Elton nebendran in drei Sätzen auf den Punkt brachte, was man als Normalzuschauer:in dachte (bevor er im Finale nun seltsamerweise wegen eines "privaten Termins" fehlte).

Clever inszeniertes Retro-Spektakel

Seit dem gestrigen Abend steht jedenfalls endgültig fest, wer für Deutschland am 17. Mai beim ESC in Basel auf der Bühne steht ("Ist doch der 17., oder?", musste sich Raab vergangene Woche rückversichern): Abor & Tynna mit "Baller".

Und die spannende Frage ist gar nicht (nur), auf welchem Platz wir damit landen. Sondern auch, was das mit dem Verursacher anstellt. Denn für den geht es nicht bloß um den erwünschten ersten Platz, sondern um nichts Geringeres als die Frage, ob Stefan Raab noch Stefan Raab sein kann.

In den zurückliegenden Monaten ist der Mann, der gerade innerhalb weniger Wochen die musikalische Elite des Landes mobilisiert hat, vor allem damit aufgefallen, dass ihm nicht mehr so arg viel einfällt. Der erneute Boxkampf gegen Regina Halmich war ein clever inszeniertes Retro-Spektakel – aber auch nicht mehr; seine inzwischen ins RTL-Hauptprogramm gehievte Wochenshow "Du gewinnst hier nicht die Million bei Stefan Raab" ist ein Mix aus "TV total" und "Schlag den Raab" mit überdurchschnittlichem Kandidat:innenverschleiß; "Stefan und Bulli gegen irgend son Schnulli" eine weitere Variation der bewährten Wettkampf-Idee; die "Pokernacht" knüpft an das an, was schon vor zehn Jahren seinen Zenith überschritten hatte. (Und man kann bloß hoffen, dass die Rechte fürs "Quizboxen" irgendwo sicher verschlossen in den Brainpool-Katakomben liegen.)

Wie heißt du nochmal?

Statt mit Ideen fällt Raab zunehmend durch sein erratisches Verhalten auf, das teilweise harte Gottschalk-Vibes spüren lässt.

Seine Mitjurorin Yvonne Catterfeld, deren Namen er kurzzeitig vergaß ("Wie heißt du nochmal – Scherz!"), unterbrach er bei "Chefsache 2025": "Soll ich nochmal meinen Lieblings-Reggae-Gag erzählen?" Und referierte trotz versuchter Intervention durch Moderatorin Barbara Schöneberger ("Den kenn ich auch schon") denselben Witz, der drei Tage zuvor schon bei "Du gewinnst hier nicht die Million" nicht zünden wollte.

In derselben Sendung hatte er bereits über die in China produzierte Merch-Mütze der Grünen gewitzelt (die sei "nicht von Kindern" hergestellt, "sondern nur von ganz kleinen Erwachsenen") – und in der Woche drauf gleich nochmal, nachdem er zuvor schon die von ihm selbst bestrittenen Sendeabende durcheinander gebracht hatte, um einen Howard-Carpendale-Witz unterzukriegen.

Dass die von sich selbst kopierten Formate in den neuen Varianten schon an ihren Namen kranken, hat sich Raab innerhalb der Branche bislang noch niemand zu sagen getraut – sondern erst Robert Habeck bei seinem Besuch auf dem Zwischenstopp zum "Quadrell", als er den Sendungstitel mehrfach verwechselte ("Du kriegst hier nicht die Million"): "Ist halt'n sperriger Titel."

Schweinemett, Schweinemett, Ihr Applaus!

Vor allem aber macht der neue Raab nahtlos dort weiter, woran der alte schon zu scheitern drohte: Während er an den Kameras vorbei auf die Pappen mit den aufgeschriebenen Gags schielt, verheddert er sich in seinen Stand-ups, ist von seinen flugs dahinkomponierten Gag-Songs selbst am begeistertsten, tauft Alexander Bommes "Wilfried" und beömmelt sich, wenn bei "MDR Hier um 4" jemand "wixen" sagt, der SWR-Wahlreporter wegen einer Konfettikanone zusammenzuckt oder ein Welt-Moderator sein Glas umschmeißt.

Neu ist nur, dass Raab inzwischen seine private Trollfabrik erfolgreich darauf ansetzt, Promis tausendfach irgendeinen Quatsch in die Instagram-Kommentare zu posten: Erst musste Kai Pflaume dran glauben; und gerade folgten knapp 20.000 Nutzer:innen dem Raab'schen Aufruf, Kollege Giovanni Zarrella "Schweinemett" in die Fan-Edition seiner neuen CD zu quatschen.

Oder wie der selbsternannte "hardest working man in German Showbusiness", RTL-Chef und Vizekanzler in Personalunion anschließend giggelte: "Schauen Sie mal: Schweinemett, Schweinemett. Wirklich, das ist Ihr Applaus. Das haben Sie geschafft! Ich bin so stolz auf Sie."

Unter sichtbaren Anstrengungen

Er versuche Entscheidungen zu treffen, "die am Ende des Tages die größte Chance auf Erfolg haben", erklärte Raab vor einer Wochen bei "Chefsache ESC" sein Erfolgsrezept. Ein bemerkenswerter Satz für einen, der gerade vor allem seine alten Hits covert und seinen neuen Auftraggeber dazu gekriegt hat, die so zu positionieren, dass sie seinen früheren Erfindungen maximal in die Quere kommen. Was den bittersüßen Eindruck hinterlässt, Raab sei es inzwischen wichtiger, anderen die Quote zu verhageln, als selbst einen Hit zu landen.

Vielleicht erklärt das auch, warum nicht nur der ESC Raab so verzweifelt braucht – sondern auch andersherum.

Seine bisherigen Kernkompetenzen hat der 58-Jährige längst an die nächste Generation verloren. Frech und mutig? Sind heute die Typen bei YouTube und TikTok. Überraschendes, modernes Entertainment? Kann Florida Entertainment besser (und lässt das auch viel, viel besser aussehen). Das Gespür für das nächste Ding des Jahres? Ist Raab bislang schuldig geblieben. Und die Spiele bei "Du kriegst hier nicht die Million" gewinnt Raab zwar regelmäßig, inzwischen aber unter sichtbaren Anstrengungen ("Man muss ja alles geben, sag ich mal"), um seine Herausforderer:innen hernach völlig außer Puste aus der Sendung rauszusingen.

Das Ende einer Selbsterzählung?

Und so entscheidet sich Mitte Mai in Basel einerseits, ob der Mann, der Lena 2010 zum Sieg lotste, sein bislang größtes Kunststück noch mal wiederholen kann. ("Wenn sich alle erkälten sollten, würd ich zum Schluss auch selber hinfahren", scherzte er vor einer Woche.) Und andererseits auch, was die Zukunft für ihn selbst bereit hält.

Denn ein mittelmäßiger Platz wäre mehr als nur eine Niederlage. Es wäre das Ende seiner Selbsterzählung als TV-Macher, der immer einen Schritt weiter geht als andere. Der größer denkt. Alles riskiert. Und zum Schluss auch noch gewinnt.

Stefan Raab hat sein TV-Comeback an die eine Sache geknüpft, die ihn immer definierte: den unbedingten Siegeswillen. Was aber, wenn dieser Plan nicht mehr aufgeht? Dann bliebe am Ende: ein Millionenvertrag für vorhersehbares Format-Recycling; und ein Typ im Fernsehen, der Namen verwechselt, Gags doppelt erzählt, erfolgreich "Schweinemett"-Postings auf Instagram initiiert und es bislang als größte Herausforderung zu verstehen scheint, seinen ehemaligen Verbündeten mal so richtig "Pa aufs Maul" zu geben.

Es ist das vielleicht größte Risiko, das er in seiner Karriere bislang eingehen wollte. Weil sich diesmal herausstellt, ob Stefan Raab wirklich noch der Alte ist. Oder nur noch eine sehr teure Version seiner selbst.

Das Finale von "Chefsache ESC 2025" ist in der ARD Mediathek abrufbar; "Du kriegst hier nicht die Million" (oder so ähnlich) läuft mittwochs ab 8.15 Uhr bei RTL+ und abends bei RTL.