Es war der kürzeste Bundestagswahlkampf in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland; sogar die Wahlprogramme der Parteien sind im Schnitt fast 20.000 Wörter kürzer gewesen als vor vier Jahren (pdf). Trotzdem fühlt es sich an, als würde die Strapaze schon ewig gehen. Vielleicht, weil die Spitzenpolitiker:innen sich diesmal im Tagestakt durch die TV-Formate haben treiben lassen: Heute ein Duell, morgen die Bürgersprechstunde, dazwischen noch ein Auftritt bei Stefan Raab und auf Twitch. Dazwischen dokumentieren Journalist:innen auf allen Kanälen die "Baustelle Deutschland".
Der Tonfall ist nicht erst seit dem Migrationsantrag der Union im Bundestag deutlich schärfer geworden, die Themen wechseln in atemberaubendem Tempo: von Wirtschaftskrise über Terrorangst bis zur Trump-Drohung gegen Europa.
Drei Tage vor der Wahl sind trotzdem noch 27 Prozent der Wähler:innen unentschlossen, haben die Forscher:innen fürs ZDF-"Politbarometer" ermittelt. Aber vielleicht ist das auch kein Wunder: Denn obwohl das deutsche Wahlkampf-Fernsehen dieses Mal so tat, als hätte es sich ein Stück weit neu erfunden, reproduzierte es in Wahrheit genau die Probleme, die es der Politik vorwirft.
Format-Innovation als Verschlimmbesserung
Nirgends zeigt sich das besser als beim in der vergangenen Woche gestarteten WDR-Format "Hart aber fair 360" für die Mediathek. Optisch ist das durchaus gelungen: Statt üblicher Polittalk-Kulisse gibt es einen angeleuchteten Stuhlkreis aus der Vogelperspektive im sonst komplett dunklen Studio; in der Mitte sollen Gäste:innen aus der Politik Bürger:innen, die sie scharf kritisieren, Rede und Antwort stehen (zur DWDL.de-TV-Kritik).
Endlich echter Dialog? Im Gegenteil: Robert Habeck blieben zum Auftakt gerade mal 45 Sekunden Zeit, um die Probleme des Dublin-Verfahrens erklären, bevor sich der nächste Herausforderer in die Runde buzzerte. Kritiker:innen haben nicht mal Zeit, sich mit Namen und Beruf vorzustellen. Einmal versuchte der Grünen-Chef zu kontern: "Das waren viele Aussagen und viel Meinung – die müssten Sie eigentlich mal belegen." Aber die Uhr am Bildschirmrand tickte schon gnadenlos weiter zur nächsten Themenrunde.
Ein ehemaliger Junge-Alternative-Funktionär, eine Welt-TV-Moderatorin, ein Polizist und FDP-Mitglied sowie der Gründer einer Facebook-Gruppe namens "Fridays for Hubraum" schleuderten vorbereitete Statistiken um sich. Und mit Tempolimit, Energiepreisen und Migration wurden in gerade mal 45 Minuten gleich mehrere Aufreger-Themen durchgespielt.
Politiker:innen als "Antwortmaschinen"
"Manche haben ja schon gebuzzert, bevor ich überhaupt antworten konnte", resümierte Habeck am Ende ernüchtert. Gastgeber Louis Klamroth, auf den das Format gut und gerne verzichten könnte, weil er darin keine Rolle spielt, schien dennoch sichtlich zufrieden mit diesem Desaster-Fernsehen, das als verbaler Gladiatorenkampf symptomatisch für gleich mehrere große Probleme der TV-Berichterstattung dieses Wahlkampfs steht.
Statt echten Austausch zu ermöglichen, werden Politiker:innen immer häufiger zu "Antwortmaschinen" degradiert. Sie sollen sich in völlig verschiedenen Themengebieten auskennen, in Windeseile Problembeschreibungen anerkennen und ihre Antworten formulieren, bevor der nächste Buzzer oder die nächste Unterbrechung zuschlägt.
Witzig und schlagfertig sollen sie zwischendurch bitte auch sein, um sie besser als Menschen kennenzulernen: Lieber Opposition oder Dschungelcamp? Wie sehr schmerzt das, wenn der potenzielle Koalitionspartner einen als "Wuschelbär" tituliert? Guck mal, ich hab einen lustigen Wahlkampfsong für euch gemacht!
Dazu kommt der Druck, dass Politik im Wahlkampf mehr denn je als Konfrontation inszeniert wird: als "Duell", "Showdown", als Kampf der Bundestagsstars – wie eine Polit-Reality.
Eine Kaskade von Einzelschicksalen
Spitzenpolitiker:innen haben unterschiedliche Wege gefunden, damit umzugehen. Etwa, indem sie immer wieder dieselben Phrasen wiederholen: Olaf Scholz die Reformierung der Schuldenbremse, um Unterstützung für die Ukraine nicht zulasten des sozialen Friedens in Deutschland finanzieren zu müssen; und Friedrich Merz, um den Begriff der "Brandmauer" zu umgehen, mit dem schiefen Bild, den "Brand hinter der Mauer nicht zum Flächenbrand" werden lassen zu wollen.
Alice Weidel schwenkte direkt auf Publikumsbeschimpfung um: Als ein Pflegeheim-Chef im ZDF-Townhall-Format "Klartext" das AfD-Wahlprogramm als "absolute Enttäuschung" hinsichtlich Aussagen zur Zukunft der Pflege kritisierte, entgegnete Weidel: "Ich habe den Eindruck, dass Sie mir nicht zugehört haben, dass Sie unser Wahlprogramm nicht gelesen haben und dass Sie das, was Sie gerade sagen, auswendig gelernt haben."
Die Bürger:innensprechstunden sind es auch, die den Kandidat:innen noch weitere Beherrschung abverlangen: konfrontiert mit einer Kaskade von Einzelschicksalen, müssen stets verständnisvoll agieren, beherrscht sein – und kommen doch oft nicht über die Problembeschreibung hinaus.
Denn: Die Zeit drängt, die bzw. der nächste Fragesteller:in wartet schon und – schau mal: gerade ist bereits der Kandidat von der Konkurrenz vor dem Studio angekommen.
Überall ist nur "Baustelle"
Zahlreiche Reportage-Formate wie "Was bewegt Deutschland?" (Das Erste), "Baustelle Zukunft – Was sich nach der Wahl ändern muss" (SWR) oder "Jenke.Report: Baustelle Deutschland" (ProSieben) folgen diesem ermüdenden Muster: Ausführliche Problembeschreibung, betroffene Bürger:innen zu Wort kommen lassen, kurz ein paar "Positivbeispiele" erwähnen – aber wenig Zeit für echte Lösungsdiskussion.
"Die Angst geht um in Deutschland", schauderte der SWR. "Dass die Krise der Auto-Industrie das Ende der einstigen Autonation einläuten könnte." Man befinde sich in einer "Abwärtsspirale, die die neue Bundesregierung unterbrechen muss" – illustriert mit einem alten Auto, das gerade aus der Schrottpresse fällt.
Zamperoni fragte die Kölner Familie, aus der gleich drei Generationen bei Ford arbeiten, wo nun massiv Stellen abgebaut werden: "Wie leben Sie mit dieser Ungewissheit?" – "Schlecht."
Und ProSieben-Reporter Jenke von Wilmsdorff stand vor der Großbaustelle am Berliner Reichstag und diagnostizierte: "Wohnungsnot, es gibt keine Kitaplätze, es gibt keine Arzttermine, die Brücken stürzen ein, die Straßen sind marode, die Deutsche Bahn – es scheint wirklich so als würde momentan in diesem Land nichts so richtig funktionieren." (Außer natürlich die Baustellenreportagenindustrie.)
Lösungen suchen sollen die anderen
Klar, es gibt sie: Die Münchner Genossenschaft, die bezahlbaren Wohnraum schafft, weil die Stadt nach dem besten Konzept auswählt und nicht nach dem Meistbietenden. Den Ingenieur mit dem Expressbrückenbau-Patent, der Bauzeiten von 24 auf 6 Monate reduzieren kann. Den Malerbetrieb in Bremen, der ohne Zuwanderer:innen "große Schwierigkeiten" hätte und seinen syrischen Mitarbeiter zum Teilhaber macht.
Auch funktionierende Beispiele aus dem Ausland werden erwähnt: Japan feiert seinen Shinkansen als "Stolz der Nation", die Schweizer Bahn investiert pro Einwohner:in viermal mehr als Deutschland. In Italien ermöglicht ein Notstandsgesetz schnelleren Brückenneubau. Und der Digitalisierungsexperte aus Estland erklärt, wie sein Land die Verwaltung revolutioniert hat.
Aber diese konstruktiven Ansätze bleiben Randnotizen in der großen Erzählung vom deutschen Reformstau.
Nach 57 Minuten Problembeschreibung fasst ARD-Moderator Ingo Zamperoni zusammen: "Es ist komplex. Es gibt nicht nur die eine einfache Lösung. Aber diese Probleme zu lösen, ist nicht nur Aufgabe der Politik. Sondern von uns allen." Sagt's – und verschwindet in den Abspann, als gehe ihn das nichts mehr an.
Die Erzählung vom Abwärtsstrudel
Die Sender bleiben damit in derselben Falle stecken wie die Politik, die sie so gerne kritisieren: Sie setzen auf bekannte Erzählmuster, auf Oberflächlichkeiten, auf Show. Und indem sie das kritisiert, macht diese Kolumne exakt dasselbe.
Umso wichtiger wäre es, dass wir uns mit Blick auf die Zukunft gemeinsam fragen, wie Politikberichterstattung im Fernsehen aussehen muss, um nicht als Teil des Abwärtsstrudels zu funktionieren, in dem sich die Laune des Landes zu befinden scheint.
TV-Verantwortliche müssen sich zuallererst dem Problem bewusst werden, dass Politik nicht immer bloß als Konfrontation inszeniert werden kann – auch wenn gerade Wahlkampf natürlich harte Auseinandersetzung und Rivalität unterschiedlicher Positionen vorherrschen. Die Frage ist. Welche Erwartungen wecken Journalist:innen, wenn sie satzgenau die Wahlprogramme der Parteien vermessen, ohne dazu zu sagen, dass vieles davon im Laufe von Koalitionsgesprächen naturgemäß in Bewegung sein wird – weil im demokratischen Prozess Mittelwege gefunden werden müssen.
Mittelwege allerdings sind medial eher unsexy. Und Bürger:innen nachher umso enttäuschter, weil sie sich um die Maximalversprechen betrogen fühlen, die sie gewählt haben.
Wie Politik im TV auch aussehen könnte
Zu kurz kommt im Fernsehen nur allzu oft, was Politik auch bedeutet: Kollaboration, Zusammenarbeit, Kompromissfindung. Da hilft's auch nicht, wenn das Erste Start-up-Unternehmerinnen unwidersprochen dahin plappern lässt, die Deutschen bräuchten erstmal wieder eine "gesunde Beziehung zur Leistung", damit sich was ändert.
(Was auch nur bedingt hilft, wenn die Leistung dann darin besteht, weiträumig irgendwelche vollgesperrten Autobahnbrücken umfahren zu müssen, um zur Arbeit zu kommen.)
Es wäre sehr wohl möglich, Politik in ihrer ganzen Gestaltungsfähigkeit auch im Fernsehen abzubilden. Statt "Hart aber fair 360" könnte ein Format Expert:innen, Bürger:innen und Politiker:innen einen Tag lang gemeinsam an konkreten Lösungen arbeiten lassen: Wie lässt sich bezahlbarer Wohnraum schaffen? Mit neuen Strategien, Hindernissen, Konzepten. Am Ende stünde nicht die eine Lösung – aber ein gemeinsames Verständnis dafür, wie der Weg aussehen könnte.
Eine Renovierung des Politikfernsehens
Auch Sendungen, die konkrete Szenarien entwickeln, wie Deutschland 2030 aussehen soll, sind denkbar – nicht als Utopie oder Dystopie, sondern als Mut machender Annäherungsversuch. Mit Menschen, die heute schon in dieser Zukunft leben. Oder Formate, in denen Bürger:innen eigene Lösungsvorschläge präsentieren und Politiker:innen dazu Stellung nehmen – statt andersherum.
Vom Anpacken und Sanieren hat auch Ulrich Wickert gesprochen, als er sich für "Was bewegt Deutschland?" in Hamburg mit seinem "Tagesthemen"-Nachfolger Ingo Zamperoni auf dem Markt traf: "Deutschland befindet sich in einem Status, wo man sagen muss: Hier muss runderneuert werden." Und wenn die Menschen glauben, dass das nicht passiere, will Zamperoni wissen? Dann führe das zu "Staatsverdruss", meint Wickert.
Aber immerhin wissen die meisten, wo sie den live fast rund um die Uhr begutachten können – bei ihnen zuhause: im Fernsehen.
Und damit: zurück nach Köln.
"Hart aber fair 360 mit Robert Habeck", "Was bewegt Deutschland?" und "Baustelle Zukunft – Was sich nach der Wahl ändern muss" stehen in der ARD Mediathek, die "Klartext"-Runde auf ZDF.de; "Jenke.Report: Baustelle Deutschland" ist auf Joyn abrufbar.