Selbstkritik gehört jetzt nicht unbedingt zu den Kernkompetenzen von Politik und Medien. Umso bemerkenswerter ist ein Vorgang, der sich gerade in deutschen Talkshows abspielt: Nicht nur, aber vor allem Journalist:innen feiern die Grünen-Politikerin Ricarda Lang dafür, wie offen, authentisch und ehrlich sie sich seit ihrem Rücktritt als Partei-Chefin gibt. Und es stimmt ja auch: Die 31-Jährige wirkt wie verwandelt, seitdem sie nach den verkorksten Landtagswahlen im Osten die Konsequenzen gezogen und ihre bisherige Verantwortung abgegeben hat – ohne sich deswegen aus der medialen Öffentlichkeit zurückzuziehen.
Im Gegenteil: Lang geht weiter in Talkshows, um gehört zu werden – und die Redaktionen laden sie weiter ein. Nur halt nicht mehr aufgrund ihrer Funktion. Sondern als Politikerin, die sich nicht scheut, Klartext zu sprechen.
Man muss als Gastgeber:in nur immer kurz weghören, wenn Lang erklärt, wen sie auch in die Pflicht dafür nimmt, dass diese vielgelobte Verwandlung erst nach dem Rückzug vom Spitzenamt möglich war: die Medien und ihre Mechanismen, über Politik zu berichten.
Mist als Gold verkaufen
Es gebe da dieses "Talent" von Spitzenpolitiker:innen, Dinge zu vernebeln und Misserfolge schönzureden, argumentierte Caren Miosga Mitte Dezember, als Lang in ihrer ARD-Talkshow am Tisch saß. Anschließend zeigte sie ihrer Gästin den Ausschnitt, in dem Lang im Jahr zuvor in einem Pressegespräch verklausuliert-übereuphorisch eine Solar-Initiative angekündigt hatte. Obwohl die ganz offensichtlich bloß das Grünen-Trostpflaster dafür war, dass der damalige Koalitionspartner FDP sich in der vorherigen Runde beim Autobahnausbau durchgesetzt hatte.
"Wie ist das hinterher: Geht man da raus und fragt sich, warum rede ich eigentlich so einen Stuss?", wollte Miosga wissen. Lang erwiderte: "Da schämt man sich natürlich." Und Miosga hakte nach: "Wovor fürchtet man sich so, dass man so roboterhaft redet?"
Woraufhin ihre Gästin eine Erklärung lieferte, die es in sich hatte: "Ich glaube, dass wir angefangen haben, Politik – und da würde ich Ihren Berufsstand und meinen mit reinnehmen, beide Seiten – so sehr nach Gewinnen und Verlieren [zu bewerten], also Maßstäben, die im politischen Berlin funktionieren, so einer Blasenlogik, dass man danach rausgeht und das Gefühl hat: Jetzt steh ich in dieser Pressekonferenz (…) und das ist jetzt ein Battle, wer am Ende am meisten rausgetragen hat. Dann fängt man an, Mist für Gold zu verkaufen, und so einen Unsinn zu reden wie ich."
Welcher Schnipsel landet im Netz?
Die Schere im Kopf komme nicht von ungefähr, führte Lang in der Sendung weiter aus. "Man ist in Talkshows wie dieser und hat teilweise schon die Angst: Welcher 30-Sekunden-Schnipsel landet nachher im Netz?" Diese Skandalisierungsfurcht führe dazu, dass kaum noch jemand einen Gedanken unvollendet in den Raum stelle oder eine Position zur Diskussion anbiete.
Dazu stellten Journalisten vermehrt Fragen, "die ausschließlich Menschen interessieren, die in Parteizentralen oder Fernsehstudios arbeiten". Statt Inhalte zu debattieren, werde jede Pressekonferenz zum Kampf um die Diskurshoheit – und die bessere Schlagzeile.
SPD-Kollege Peer Steinbrück, ebenfalls zu Gast bei Miosga, pflichtete bei: Die "wachsweichen Sprechblasen" seien auch der verzweifelte Versuch, sich gegen die Empörungswellen in den sozialen Medien zu immunisieren: "Formuliere so unkonkret wie möglich, damit du durchkommst."
Talkshows ohne echten Mehrwert
Was Lang und Steinbrück beschreiben, ist mehr als nur ein Kommunikationsproblem: Es ist eine systematische Dysfunktion zwischen Politik und Medien. Je mehr virale Momente und klare Gewinner-Verlierer-Narrative an Bedeutung gewinnen, desto schematischer agieren Politiker:innen – was wiederum das Vertrauen der Bürger:innen in sie untergräbt. Das Ergebnis ist offensichtlich ein nur noch schwer zu durchbrechender Teufelskreis aus medialem Druck und politischer Selbstzensur. "Wir funktionieren so oft nach unseren eigenen Logiken", kritisiert Lang, "und fragen gar nicht mehr: Verstehen die Leute da draußen, was wir sagen?"
Nun ist Langs Verwandlung gar nicht so drastisch, wie manche sie wahrnehmen. Schon während ihrer Amtszeit reflektierte sie die Rolle der Medien kritisch. Im Gespräch mit dem Journalisten Markus Feldenkirchen, der Lang für seine ARD-Politiker:innen-Portätreihe "Konfrontation" anderthalb Jahre mit der Kamera begleitete (exakt bis zu ihrem Rücktritt als Parteivorsitzende), erklärte sie: "Ich komm schon aus vielen dieser Talkshows raus und denk mir: Weiß nicht, ob ich da als Bürgerin einen Mehrwert registriert hätte." Gleichzeitig könne sie sich dem System nicht vollständig entziehen.
Feldenkirchen bilanzierte in seinem Film: "Lang muss für die Öffentlichkeit und für die eigene Partei die Dinge schönreden", mit "Floskel-Politsprech" und "abgezirkeltem Sprechen" – und zollte ihr gleichzeitig Respekt dafür, "wie kontrolliert, furchtlos, souverän sie öffentlich auftritt, gerade in ihrem jungen Alter".
Applaudieren statt hinterfragen
"Ich hab manchmal steifer, weniger authentisch, laberiger gewirkt als ich's eigentlich bin", bilanzierte Lang ihr Verhalten im Amt nachher selbst. Und das Paradoxe daran ist: Ausgerechnet mit dem Scheitern als Parteichefin findet sie nun zu der Authentizität, die vorher alle an ihr vermisst haben. "Ich hatte das Gefühl, ich muss allen gerecht werden. Davon bin ich jetzt freier."
So frei, dass sie mit dem "Zeit Magazin" gerade offen übers Abnehmen gesprochen, das "geplant und hart erarbeitet" gewesen sei – unabhängig von den Hass-Kommentaren und dem Spott über ihr Gewicht in den sozialen Medien. Lange habe sie nicht über ihren Körper sprechen wollen, weil das überdeckt habe, "was ich politisch zu sagen habe". Thema war es trotzdem dauernd. "Und (…) dann will ich auch selbst die Deutungshoheit darüber haben.“
Die Medien applaudieren ihr für den Klartext – und gehen zügig zur gewohnten Tagesordnung über, ohne auch nur den Anschein zu erwecken, die eigene Rolle in diesem Spiel zu hinterfragen.
Stur in die andere Richtung geschaut
Dabei wäre genau das nötig: Ein System, das Politiker:innen in eine permanente Rechtfertigungshaltung zwingt und jedes unbedachte Wort sofort gegen sie verwendet, trägt erhebliche Mitschuld am voranschreitenden Vertrauensverlust in die Politik. "Wenn man auf der Straße die Menschen fragen würde: Wollt ihr ehrliche, fehlerhaftere, kantigere Politiker? Da würden wahrscheinlich 100 Prozent ja sagen", glaubt Lang. Aber wer das – zumindest in herausgehobener Funktion – versucht, muss im Zweifel damit rechnen, medial schnell dafür abgestraft zu werden.
Als Parteivorsitzende mag Ricarda Lang daran gescheitert sein, es allen in der Partei recht zu machen, und den Bürger:innen das Gefühl zu geben, die Grünen seien mit ihrer Politik für sie da, anstatt sie zu bevormunden. Aber was man ihr zweifellos hoch anrechnen muss, ist, dass sie immer wieder die problematischen Mechanismen unseres Mediensystems benennt.
"Viele trauen sich gar nicht, das anzusprechen", hat sie dem "Zeit Magazin" in Bezug auf ihren Gewichtsverlust gesagt. Ricarda Lang traut sich gerade, ziemlich viele wichtige Dinge anzusprechen. Während die, die gemeint sind, stur in die andere Richtung sehen.
Ein Problem mit der Debattenkultur
Deutschland hat – das wird derzeit im Wahlkampf und vermutlich auch nach absolvierter Bundestagswahl Ende Februar überdeutlich – außer all den schon bekannten und öffentlich diskutierten Problemen auch ein massives mit seiner Debattenkultur; weil die von der medialen Art, politische Geschehnisse zu begleiten und in Talkshows zu verwursten, zunehmend beeinflusst und ruiniert wird. Dass die Medien eine Debatte darüber nicht selbst führen, ist nicht verwunderlich, aber trotzdem eine Schande.
Dabei wäre es allerhöchste Zeit, die Runden bei Miosga, Maischberger, Illner & Co. regelmäßig auch zur problematischen Rolle einzuberufen, die Medien und Journalist:innen im Kampf um das Grundvertrauen in die Demokratie spielen.
Vielleicht kann ihnen die Frau, die bei der Bundestagswahl Ende Februar für die Grünen im Wahlkreis Backnang Schwäbisch Gmünd kandidiert, mal zeigen, wie sie dafür die Schere im Kopf loswerden.
Ricarda Lang bei "Caren Miosga" ist in der ARD Mediathek abrufbar; ebenso wie "Konfrontation – Markus Feldenkirchen trifft Ricarda Lang". Gerade war sie zudem bei "Maybrit Illner" zum Thema "Trumps neue Weltordnung" zu Gast.