Nur fünf Wochen bleiben, bis Deutschland eine neue Regierung wählt – und trotzdem bleibt im wahrscheinlich kürzesten Bundestagswahlkampf der Geschichte momentan genügend Zeit für ungewöhnlich Begegnungen. Während sich die Spitzenkandidat:innen in den kommenden Wochen noch dutzendfach in klassischen TV-Formaten duellieren werden, suchen sie parallel dazu den Weg in Shows und Kanäle, die mit Politik sonst eher wenig am Hut haben.

Der Bundeskanzler löffelt bei den YouTube-Zwillingen von "World Wide Wohnzimmer" Fertigspaghettieis ("Schmeckt Ihnen, Herr Scholz?" – "Nö"); sein Vize philosophiert bei einem der erfolgreichsten deutschen Twitch-Streamer über die Relevanz von Malzbier; und Ende des vergangenen Jahres hat die Ex-Kanzlerin im Interview mit einer bekannten Comedienne zu ihrer neu erschienen Biografie bereits eine Vorliebe für Arztserien offenbart.

Ein nachvollziehbarer Schachzug

Aus Sicht der Wahlkampf- und Promotionstrateg:innen ist das so clever wie nachvollziehbar: Die Politiker:innen demonstrieren Nahbarkeit und Nähe, vor allem aber zeigen sie, dass sie die Welt, in der sich jüngere Wähler:innen bewegen, akzeptieren und verstehen wollen.

"Ich glaube, dass ganz viele das gucken und es viele gibt, die sich auf diese Weise informieren", erklärte Olaf Scholz, als er auf dem Sofa im Köln-Lindenthaler Keller von Dennis und Benni Wolter vor dem Ananastisch mit Wasserglas und Schokobrötchen Platz nahm – und so authentisch, wie es die eigene Scholzigkeit zuließ, befand: "Gute Sache."

Dass diese Besuche gezielt eingefädelt sind, versteckt niemand – im Gegenteil. Als gerade "der Robert" plötzlich bei Twitch-Star HandofBlood im improvisieren Studio stand ("Hi Chat, Moin auch von mir – wo muss ich eigentlich reingucken?"), stellte der Gaming-Host von vornherein klar: "Dein Team hat Ende letzten Jahres angefragt, ob du mal zu Besuch vorbeikommen kannst."

Und warum auch nicht? Die Politik kann bei diesen Auftritten fast nur gewinnen – neue Reichweiten, kontrollierbare Gesprächssituationen, dankbare Gastgeber:innen. Am Ende vielleicht sogar ein Lob von den zusehenden Journalist:innen ("Spiegel" über Habeck: "schlauer Move").

Das Dilemma eines Twitchers

Für die Gastgeber:innen gilt das umgekehrt aber nicht zwangsläufig genau so. Einerseits müssen sie sich geehrt fühlen, dass führende Politiker:innen ihre zielgruppenspezifische Relevanz anerkennen. Andererseits verbiegen sie sich im Zweifel stärker als die Gegenseite, die sich bloß auf Spontaneität und Nonsens einzulassen braucht.

Als Twitcher Max "Hänno" Knabe mit Habeck am Fliesentisch Platz nahm, gestand er seinen Fans: "Das ist auf jeden Fall weit aus meiner Komfortzone". Was man schon deshalb sympathisch finden kann, weil dadurch Gelegenheit war, die eigene Verantwortung zu reflektieren, die ihm seine Bekanntheit neben den monetären Annehmlichkeiten und dem eigenen Sponsoren-Malzbier eingebracht hat.

Es zeigt aber auch das Dilemma eines Gamers, der sonst eher für derbe Sprüche bekannt ist und sich plötzlich in einen ernsten Fürsprecher der Demokratie verwandelte: "Deutschland kann sich nicht mehr zurücklehnen und so weitermachen wie bisher." Und: "Ich möchte meinen Beitrag dazu leisten, dass sich jüngere Menschen vermehrt wieder mit Politik beschäftigen."

Dönerpreisbremse und Alien-Frage

"Wenn ich euch den Abend versaue, schmeiß mich wieder raus", disclaimerte Habeck, bevor er von seiner eigene Politisierung, den Fehlern in der Ampel und den Herausforderungen für die Zukunft erzählte. Aber dazu ist es natürlich nicht gekommen: Im Livestream haben stattdessen bis zu 51.000 Fans zugesehen, bis Freitagmittag erzielte der YouTube-Mitschnitt noch einmal 500.000 zusätzliche Views, Tendenz weiter steigend.

Bei "World Wide Wohnzimmer" versuchten sich die Wolter-Zwillinge wenige Tage zuvor in einem Drahtseilakt zwischen Entertainment und politischer Relevanz. Scholz stellten sie Fragen aus der eigenen Community: Warum nochmal Kanzler werden? Wie reagiert er auf Deepfakes? Geht mehr Geld ins Ausland als ins eigene Land und falls ja: wieso? Waren Sie schon mal auf der Sonnenbank? Und: Gibt es Aliens bzw. würde er denen bei ihrer Ankunft auf der Erde die Tentakel schütteln?

Scholz machte den Spaß mit, erklärte geduldig, warum er auf eine "Dönerpreisbremse" verzichten würde – und nutze die Gelegenheit, in seinen mit Fahrstuhlmusik unterlegten Antworten über notwendige Reaktionen auf den Krieg in der Ukraine, die Wirtschaftskrise, sozialen Zusammenhalt und fiskalische Stabilität zu sprechen, was von den Herrschaften hinterm Schreibtisch nachfragelos abgenickt wurde.

Das war einerseits frei von größeren Peinlichkeiten, machte den Kanzler im V-Neck-Pullover mit darunter geöffnetem Hemdkragen aber auch nicht deutlich nahbarer als sonst.

Die Ehrfurcht als Stolperfalle

Besonders auffällig war die Diskrepanz zwischen Erhofftem und Gesagtem, als Hazel Brugger Ende des vergangenen Jahres im Auftrag eines großen Verlags Angela Merkel zum einstündigen Gespräch über ihre gerade in Buchform erschienen Erinnerungen traf – und dabei vor lauter Respekt fast vollständig die schlagfertige Ironie vermissen ließ, für die sie eigentlich bekannt ist.

Nun mag es durchaus angemessen verwesen sein, für ein solches Interview die eigene Comedy-Power ein Stück weit runter zu fahren, um nicht so zu tun, als befände man sich gerade in der "heute show". Aber so war das Interview, für das sich die Damen in mittelblauem Blazer und hellblauem Hosenanzug gegenübersaßen, um Merkels "gesunden intrinsischen Wissensdrang" zu feiern, eben nicht viel mehr als das, was es offensichtlich sein sollte – ein PR-Gespräch über "ein wunderbares Buch". Bei dem sich Brugger gleich noch als Anhängsel für die bevorstehende Lesereise empfahl: "Brauchen Sie noch jemand, der Sie anmoderiert?"

Nur in wenigen Momenten, als die Ehrfurcht langsam der Gewöhnung wich, blitzte die Brugger'sche Originalität durch – und es war bloß erahnbar, was das für eine hübsche Unterhaltung hätte werden können, wenn die Interviewerin eher ausgelotet hätte, wie ihre Gesprächspartnerin auf sanfte Zuspitzungen reagiert.

Zu Mini-Maischbergers mutiert

Am Ende sind diese Aufeinandertreffen meistens seltsam unentschlossene Begegnungen: Die Politiker:innen geben sich betont locker, ihre Gastgeber:innen betont seriös – und verspielen dabei die Chance auf echte Interaktion. Was als Schachzug auf Wahlkampf und Buch-Promotion einzahlt, führt vor allem dazu, dass sich die beteiligten Entertainment-Talente unter Wert verkaufen.

Aus Angst, dem hohen Besuch nicht gerecht zu werden, lassen sie genau die Qualitäten vermissen, die sie und ihre Formate sonst auszeichnen. Die Politik erreicht so zwar neue Zielgruppen, aber auf Kosten derer, die diese sonst unterhalten. Womöglich wäre es klüger, wenn die Hosts einfach das täten, was sie am besten können – und Politiker:innen sich dieser Situation dann ehrlich stellen müssten.

Klar ist: Auch die AfD hat längst erkannt, dass sich über alternative Kanäle potenziell neue Wählerschichten erschließen lassen. Chefin Alice Weidel machte es gerade vor – im Gespräch mit ihrem amerikanischen Fanboy Elon Musk auf dessen Propagandaplattform X.

Das sollte den etablierten Parteien zu denken geben. Es mag ja sein, dass Auftritte bei Twitch, YouTube & Co. ein Weg sind, um wieder mehr jüngere Menschen für Demokratie und Politik zu begeistern und das nicht alleine Rechtsaußen zu überlassen. Aber wenn es am Ende dazu führt, dass authentische Entertainer:innen zu Mini-Maischbergers mutieren, ist niemandem geholfen – denn statt echter Nähe bleibt am Ende bloß: Kanzler mit Fertigeis.

Und damit: zurück nach Köln.

Olaf Scholz bei „WWW“ ist bei Joyn abrufbar; Habecks Besuch bei HandofBlood und Bruggers Gespräch mit Angela Merkel bei YouTube.