Manchmal braucht es sieben Anläufe, um das deutsche Fernsehen auf den Kopf zu stellen: Zwischen 1989 und 1991 produzierte Radio Bremen eine Comedyserie, in der alles genau nicht so war, wie es der Name versprach: "Total Normal" mit Hape Kerkeling.
Zum 60. Geburtstag schenkte das Erste dem Entertainer am vergangenen Montagabend nicht nur eine sehr sehenswerte Doku über dessen Karriere – sondern ermöglichte auch eine kleine Zeitreise in die Fernsehvergangenheit: In der ARD Mediathek lässt sich Kerkelings Fernsehfrühwerk, das er in Zusammenarbeit mit Achim Hagemann ablieferte, seitdem in voller Länge ansehen.
Wer sich den Spaß macht, das Anarcho-Fernsehen von damals mehr als drei Jahrzehnte später zu bingewatchen, der stellt schnell mehrere Dinge fest: Dass Kerkeling schon damals ein ziemliches Ausnahmetalent war, als das er heute noch gefeiert wird. Dass die Verantwortlichen damals den Mut hatten, ihn einfach machen zu lassen.
Und natürlich, in welchem Ausmaß "Total normal" auf das Fernsehen von heute abgefärbt hat.
Hochkultur-Parodie und Politiker-Überrumpelung
Kerkeling foppte Medien, Politik und sein Publikum gleichermaßen. Er polterte in den SPD-Parteitag, um sich einem belustigten Gerhard Schröder als Minister anzudienen, nachdem Björn Engholm beteuert hatte, ihn "mit aller Macht" als Parteivorsitzenden zu verhindern und von Oskar Lafontaine verächtlich angeschaut zu werden. Er stellte sich und seine Show voll und ganz in die Werbedienste seines fiktiven Kaffeemaschinen-Sponsors; trieb die Prinzipien einer Quizshow-verhätschelten Mediengesellschaft auf die Spitze ("Wir sind ein Volk von Kandidaten geworden"); und nervte Strack, Fischer & Carrell beim "Telestar".
Er platzte mit eigenen Kaffeemaschinen in echte Kaffeefahrten herein; und lauerte Kund:innen beim Supermarkteinkauf als selbst ernannte "Müllpolizei" auf, um ihnen in die Tüten zu grapschen oder sie bis in die nächste Reinigung zu jagen: "So, winzig kleinen Moment mal, ich handele im Auftrag der Bundesregierung, Sie haben unnötigen Verpackungsmüll eingekauft!"
Mit der Hochkultur-Parodie "Hurz!" und seinem Überrumpelungs-Auftritt als Königin Beatrix auf Schloss Bellevue hat er zweifellos Fernsehgeschichte geschrieben.
Als Gesamtkomposition einzigartig
Die siebte und letzte "Total normale" Episode teilte Kerkeling kurzerhand in zwei und ließ mittendrin den Abspann laufen.
All das war nicht nur im besten Sinne formatsprengend. Sondern auch "ein absolutes Novum. Sowas gab es vorher noch nicht. Und es ist auch hinterher nie richtig gut kopiert worden", erinnerte sich seine damalige Radio-Bremen-Redakteurin Birgit Reckmeyer in der ARD-Doku. Aber das stimmt nur zum Teil.
Als Gesamtkomposition ist "Total normal" in der Tat einzigartig geblieben. Aber seine Wirkung auf andere Programme war dennoch gewaltig: Für die humorige Stürmung von Parteitagen ist schon seit längerem die "heute show" im ZDF zuständig; bei "Late Night Berlin" auf ProSieben setzt sich Klaas Heufer-Umlauf regelmäßig gern ans Telefon, um Ahnungslose zu pranken; und wenn sich Sebastian Pufpaff bei "TV total" (wie vor drei Jahren) hinter die Kulissen von "Wetten, dass...?" mogelt, dann erinnert das unweigerlich an das, was Kerkeling über zwei Jahrzehnte zuvor bereits erfolgreich ausprobiert hat.
Gesellschaftskritisch, aber unpolitisch
Was "Total normal" auch heute noch besonders macht, ist Kerkelings Gabe, all diese Elemente vereint zu haben: Überraschungsmomente, Verkleidungskunst, Mediensatire – und vor allem: ein Humor, der Autoritäten zwar herausforderte, dabei aber stets respektvoll blieb. Was die Bundespressekonferenz nicht davon abhielt, ein Hausverbot gegen Kerkeling zu verhängen, nachdem der dort mit seiner Steuererklärung winkend wissen wollte, wo die von ihm gezahlten Steuergelder eingesetzt werden und warum hier eigentlich kein Gebäck gereicht werde.
"Kein Mensch hätte sich das getraut, keine Redaktion hätte das zugelassen. Während das bei uns vom Abteilungsleiter abgesichert war. Wir konnten damals machen, was wir wollten", sagt Redakteurin Reckmeyer.
Was es umso kurioser macht, dass ausgerechnet für Kerkelings Humorfarbe heute so wenig Platz in dem Medium ist, das ihn großwerden ließ.
Kerkelings Späße waren medien- und gesellschaftskritisch, aber tendenziell unpolitisch. Er platzte mit Kamera und Gitarrenbegleitung in die Künstleragentur der DDR, um vorzusingen – und bekam prompt ein Auftrittsangebot. Phil Collins überrumpelte er in seiner Garderobe mit Radio-Bremen-Aufkleber und der Frage: "Would you come to my show?"
Aufgespaltener TV-Humor
Das Publikum amüsierte sich in erster Linie über die Absurdität der von Kerkeling provozierten Situationen. Es war ein Lachen, für das niemand der Lächerlichkeit preisgegeben werden musste (außer ihm selbst) und das auch nicht kathartisch wirken musste, um damit die Schlechtheit der Welt zu besiegen.
In seinen Rollen konfrontierte Kerkeling die Gesellschaft mit Karikaturen ihrer selbst und prüfte, die die Reaktionen empörend oder komisch ausfielen. (Meistens erst das eine, dann das andere.)
Heute hingegen ist der Humor im Fernsehen vornehmlich in zwei Extreme aufgespalten: Sebastian Pufpaff und der wiedergekehrte Stefan Raab machen sich über Fehler, Versprecher, Unzulänglichkeiten anderer lustig und lassen sich von ihrem Publikum dafür feiern, dass das nach einem harten Arbeitstag nicht nachzudenken braucht, wenn ihm Gags über korpulente Politikerinnen und doofe Reality-Show-Teilnehmer:innen serviert werden. Jan Böhmermann, Carolin Kebekus & Co. greifen in ihren Public-Impact-Comedy-Shows journalistisch aufbereitete Themen auf, opfern dafür aber bereitwillig jede Leichtigkeit.
Dem Fernsehen tut die Anarchie gut
Dabei war es Böhmermanns "Neo Magazin Royale" lange Zeit genug, als popkultureller Rundumschlag gesellschaftliche Phänomene der Gegenwart in den Arm zu nehmen und dann durch die Mangel zu drehen – gespickt mit überraschenden Gastauftritten, wie sie auch bei "Total normal" an der Tagesordnung waren.
Und bei "Circus Halli Galli" demonstrierten Joko und Klaas mit ihrem falschen Ryan Gosling bei der "Bambi"-Verleihung nicht nur, wie unterhaltsam Medienkritik auch funktionieren kann; sondern nutzten auch die Kerkeling'schen Prinzipien zur Etablierung von Running Gags.
Auch im Fernsehen von heute (und den Nachfolgeformaten der oben genannten) ist Platz für das Unerwartete im Sinne des frühen Kerkelings. Und vielleicht hat ProSieben mit den regelmäßig als Event veranstalteten "15 Minuten" für Joko und Klaas am ehesten begriffen, wie sehr dem Medium von Zeit zu Zeit ein bisschen Anarchie gut tun kann.
Mehr Gebäck!
In einem Programm, das sehr viel durchformatierter ist als damals, wird es aber zunehmend schwerer, Flächen dafür freizuschlagen. Dabei ist Kerkelings Karriere und der Durchbruch mit "Total normal" eigentlich die beste Erinnerung daran, wie wichtig es ist, genau das zuzulassen.
Oder, um es im Sinne eines großen deutschen TV-Entertainers zu sagen, der eine Rückkehr auf die große Bühne für sich ausgeschlossen hat, obwohl er doch mal sang, sein Leben "ist die Show und das wird sich niemals ändern": Wer im Fernsehen heute was verändern will, sollte von vornherein für ausreichend Gebäck sorgen.
Und damit: zurück nach Köln.
Der Dokumentarfilm zu 60. Geburtstag und alle sieben Ausgaben von "Total normal" sind in der ARD Mediathek abrufbar.