Manchmal vergisst man ja, die naheliegendsten Geburtstage zu feiern – also holen wir das an dieser Stelle nach: Happy Birthday, "Gremlins"! Die amerikanische Horrokomödie von Joe Dante, Chris Columbus und Steven Spielberg ist in diesem Jahr vierzig Jahre alt geworden. Und es ist ein bisschen erstaunlich, dass aus den niedlichen Mogwais rund um Sympathie- und Fellträger Mogwai seitdem kein internationales Franchise geworden ist.
Dabei vergisst man die flauschigen Wesen, die man auf keinen Fall nach Mitternacht füttern durfte, weil sie sich sonst in gefräßige kleine Monster verwandelt haben, eigentlich nur schwer.
Nicht nur wegen der zwischenzeitlichen Begriffsumwidmung durch Günther Jauch.
Sondern auch, weil die deutschen TV-Sender mit ihren Streaming-Plattformen gerade ein ganz ähnliches Problem haben: Was als artiges kleines Zusatzangebot begann, entwickelt sich gerade zur heimlichen Macht, die das lineare Fernsehprogramm wie eine Horde wildgewordener Monsterchen vor sich hertreibt. Nur dass RTL+, Joyn & Co. nicht erst zur Geisterstunde, sondern fast rund um die Uhr mit neuem Content vollgestopft werden.
Die Strategie funktioniert — zu gut
Da ist zum Beispiel das in der vergangenen Woche zu Ende gegangene "Sommerhaus der Stars": RTL lockt seine Zuschauer:innen schon seit längerem damit, neue Folgen der Reality-Show bereits vor der TV-Ausstrahlung bei RTL+ sehen zu können. Ideal, um zahlende Abonnent:innen zu gewinnen. In diesem Jahr hat die Strategie aber so gut funktioniert, dass die aktuelle Staffel diverse Streaming-Rekorde brach – in Köln meldete man zuletzt 1,25 Millionen Fans, die sich das Format bei RTL+ ansehen wollten.
Der Erfolg hat einen Haken: Die Quote im linearen Fernsehen sinkt und sinkt. Während das "Sommerhaus" früher mühelos zweistellige Marktanteile einfuhr, freut man sich heute teilweise schon über 9 Prozent. Das ist eine Entwicklung, die dem Sender nicht gefallen kann. Denn die Werbeeinnahmen im linearen TV sind noch immer eine ungleich wichtigere Einnahmequelle – und nun mal an die klassische Quote gekoppelt.
Bei RTLzwei wiederholt sich das Spiel gerade mit "Love Island VIP": Linear läuft die Dating-Show deutlich schlechter als erhofft, aber im Stream ist sie ein Hit. In der vergangenen Woche schauten über 800.000 Menschen zu, wie sich die Promi-Singles einander annähern – fast doppelt so viele wie noch einen Monat zuvor.
Vom Spätprogramm-Mogwai zur Primetime-Herrscherin
Für die Sender wird das zum Balanceakt, wie RTL-Deutschland-CEO Stephan Schmitter beschreibt: "Im Linearen sind wir immer noch Marktführer, haben Millionen von Zuschauern. Aber es wird Tag für Tag, Woche für Woche und Jahr für Jahr weniger linear geschaut", hat er gerade im OMR-Podcast gesagt. "[I]rgendwann in den nächsten drei bis fünf Jahren kriegen wir diesen Kipppunkt", nach dem es lineares TV zwar immer noch geben werde. Aber: "In diesem Zeitfenster muss uns dieser Switch schon weitestgehend gelungen sein auf RTL+, damit wir dann ein neues Geschäftsmodell haben, um unabhängiger zu werden von dem alten."
Im Moment sieht es so aus, als könnten das ziemlich taffe Jahre werden. Zumindest im Reality-Genre, das sowohl von RTL+ als auch vom Münchner Mitbewerber Joyn (und Branchengrößen wie Netflix) massiv forciert wird, scheint der "Kipppunkt" inzwischen jedenfalls schon erreicht zu sein: Die Fans der Zoff-Promis vermehren sich online wie Gremlins nach dem Mitternachtssnack.
Das führt dazu, dass sich die Streaming-Plattformen vom Zusatzangebot zu heimlichen Programmchefs entwickeln – auf verschiedenen Wegen. Während manche Shows inzwischen speziell fürs Streaming produziert werden und andere dort zuerst starten, verändert längst auch die zeitversetzte Nutzung bestehender TV-Formate die lineare Programmplanung. Bei ProSieben musste gerade der internationale Format-Hit "Destination X" nach nur zwei Folgen seinen linearen Primetime-Sendeplatz räumen, weil "Das Große Promi-Büßen" über Nacht vom Spätprogramm-Mogwai zur Primetime-Herrscherin wurde.
Die mit Olivia Jones als Camp-Chefin fürs Spätprogramm vorgesehene Reality-Show hatte ihre Reichweite durch zeitversetzte Nutzung im Nachhinein verdoppelnt. Also zog ProSieben kurzerhand die Reißleine und tauschte die Sendeplätze im Linearen – um prompt davon überrascht zu werden, dass das auch nicht so klappte wie erhofft.
Das Gremlins-Dilemma der Sender
Die TV-Sender stehen derweil vor ihrem ganz eigenen Gremlins-Dilemma: Wie lässt sich der hungrige Streaming-Nachwuchs so hochpäppeln, dass er groß und stark und umsatzträchtig wird – ohne dass die kleinen Monster in rasender Geschwindigkeit vorher das klassische TV-Geschäft wegfressen?
RTL hat, wie Schmitter einräumt, den großen Vorteil, dass über Jahrzehnte im Linearen etablierten Formatmarken wie "GZSZ" & Co. inzwischen eine "Riesen-Fanbase" aufgebaut haben, die dank Vorab-Verfügbarkeit ins Streaming gelockt werden kann. Das funktioniert: Mit durchschnittlich 19 Nutzungstagen pro Monat und Abonnent:in sieht sich RTL+ in Deutschland – was die Nutzungsdauer angeht – auf Platz 2 nach Netflix. Aber der Preis dafür sind eben auch: sinkende TV-Quoten.
Insofern wird es interessant zu beobachten sein, ob die Wette aufgeht, die RTL mit der Verpflichtung von Stefan Raab eingegangen ist. Der soll mit seiner wöchentlichen Präsenz auf RTL+ einerseits eine tendenziell ältere männliche Zielgruppe ins Bezahl-Streaming locken; und gleichzeitig im Linearen Leuchtturm-Shows produzieren – eine "starke Brücke zwischen klassischem Fernsehen und Streaming", wie RTL-Chef Schmitter meint.
Stefan Raab als Brücken-Beauftragter
Mit dem klitzekleinen Problemchen, dass – wie die meisten Leute inzwischen wissen – dieses Land ein größeres Problem mit seinen Brücken hat, die entweder marode oder schon eingestürzt sind. (Wenn Raab aber Erfolg haben sollte, kann ihn Friedrich Merz, sobald der über den Einsatz Dieter Bohlens in der künftigen Regierung entschieden hat, ja zu seinem Brücken-Beauftragten machen.)
Die zentrale Frage ist: Kann das Streaming-Geschäft schnell genug wachsen, um die Reichweitenverluste im Linearen aufzufangen, bevor das klassische Business in seiner bisherigen Dimension zu zerbröseln beginnt?
Wer weiß: Vielleicht sehen wir ja in näherer Zukunft auch die ersten Formate, die explizit nicht vorab in der Mediathek laufen, um Zuschauer:innen noch lange genug im linearen TV zu halten. Oder die TV-Programme bestehen irgendwann nur noch aus Formaten, die sich im Stream als Hit erwiesen haben, ein "Best-of" des Nicht-Linearen. Die kleinen Streaming-Monster werden in jedem Fall weiter gefüttert werden müssen. Bloß: Wer ist hier jetzt der Boss: die Sender – oder ihre eigenen Mediatheken?
Und damit: zurück nach Köln.