"Hast du das Gefühl, wir sind an 'nem Punkt, wo wir so'n bisschen überpräsent sind?", fragt Tom Kaulitz seinen Zwillingsbruder Bill in ihrer seit dem Sommer bei Netflix laufenden Reality-Show (zur DWDL.de-TV-Kritik). Und während der vielleicht noch überlegt, ob er diese existenzielle Frage lieber mit seiner Astrologin besprechen sollte, nachdem die ihm bereits ein "Empire" angekündigt hat, können wir die Antwort eigentlich vorwegnehmen: Aber hallo!

Gerade beweisen die beiden im Halloween-Special des Amazon-Dauerbrenners "LOL: Last One Laughing", dass sie auch dann noch die Fassung bewahren können, wenn Paul Potts neben ihnen aus einem Sarg steigt und in eine Wurst singt. Davor sammelten sie in der (gar nicht so üblen) "Superduper Show" von ProSieben die wertvolle Erfahrung, wie sich das anfühlt, unverschuldet blitzabgesetzt zu werden. Im vergangenen Jahr waren sie Juroren bei "The Voice of Germany" und heimsten für das RTL+-Showcover "That's My Jam" ihren allerersten Fernsehpreis ein, auf den andere eine Ewigkeit warten.

Und wem das immer noch nicht genug Kaulitz-Content ist, der kann den Brüdern wöchentlich auf Spotify dabei zuhören, wie sie per Podcast ihren "Senf aus Hollywood" dazu geben.

Herr Supernase sieht die Parallele nicht

Anders gesagt: Die eineiigen Zwillinge aus Magdeburg, die sich gegenseitig liebevoll "Maus" nennen, sind gerade ungefähr so schwer zu übersehen wie die Glitzerkreationen aus Bills Kleiderschrank. Was auch deshalb so erstaunlich ist, weil sie zu Beginn ihrer Erstkarriere als Musiker der immer noch erfolgreich tourenden Band Tokio Hotel so sehr unter der medialen Dauerbeobachtung litten, dass sie damals aus Selbstschutz von Deutschland nach Los Angeles aussiedelten.

Inzwischen suchen sie das Rampenlicht nicht mehr nur auf Live-Bühnen, sondern auch im deutschen Bewegtbildmarkt, wo sie Sendern und Streaming-Anbietern abwechselnd als Moderatoren, Spielpartner oder Personality-Stars zur Verfügung stehen. Und sich mit ungeheurem Geschick als Wanderer zwischen den Genre-Welten bewegen.

Bislang wird dieser Ehrgeiz vielerorts eher mit Spott und Ignoranz betrachtet: Tom kann die mittelguten Gags, die über ihn als jüngeren Partner in der Ehe mit Heidi Klum gemacht werden, inzwischen vermutlich nicht mehr zählen. Und Bill musste sich gerade von einem rapide gealterten Thomas Gottschalk anhören, wie traurig es sei, dass die junge Generation mehr über ihn wisse als über Jimi Hendrix – ohne das Herrn Supernase die Parallele zu seiner eigenen Karriere aufgefallen wäre.

Poolparty-Probleme und Hauspersonal-Drama

Dabei ist die eigentlich offensichtlich: Während der eine stets aus Malibu anreiste, um das deutsche Samstagabendfernsehen mit seinen Sprüchen aufzumischen (und dann wieder zurück zu verschwinden), kommt der andere jetzt halt mit seinem Bruder aus Los Angeles, um einen neuen Typus Star zu verkörpern, der sich in wechselnder TV-Umgebung wohlfühlt – weil er sich dafür nicht mehr unnötig zu verstellen braucht.

In ihrer Netflix-Reality (die nach der Premiere gleich auf Platz 1 der deutschen Netflix-Charts landete) geben "Kaulitz & Kaulitz" die Edel-Geissens mit Poolparty-Problemen und Hauspersonal-Drama ("Die Käsesoße vom April ist immer noch im Kühlschrank!"), besitzen aber trotzdem eine erstaunliche Nahbarkeit, wenn im nächsten Moment die Mama antelefoniert wird, damit das gemeinsame Waffelbacken gelingt.

Bill kokettiert mit seinem Image als "schüchterne Maus", die beim "Insta-Tindern" auf der Couch liegt, aber trotz aller Selbstzerrissenheit auf Prinzipientreue schwört, um sich nicht für andere zu verbiegen: "Es kommt für mich nicht in Frage, mich anzupassen." Tom spielt bewusst mit seiner Rolle als Gegenpart. Er macht sich über sein "Spießerleben, nur ein bisschen bigger" lustig, lässt sich vom Bruder vorwerfen, "Angst vorm Leben" zu haben und "bloß keine neue Erfahrung machen" zu wollen, hat dafür aber einen entspannteren Umgang mit seiner Vergangenheit gefunden, auch wenn er "bei jeder Art von Blitzlichtgewitter" immer noch hofft, "dass es schnell vorbeigeht".

Kontrolle über die Selbsterzählung

Die Brüder akzeptieren die Vorurteile gegen sie nicht nur, sie umarmen sie. "Ist das was Religiöses? Dann kennen wir's nicht", referenzieren sie ihre fehlende Allgemeinbildung. Und als Bill im vergangenen Jahr das Quiz-Panel von "Wer stiehlt mir die Show?" bereicherte (bedauerlicherweise ohne dass ihm vergönnt war, die Sendung selbst zu moderieren), stellte er sich vorne hin und kündigte direkt an: "Ich bin nur bis zur achten Klasse in die Schule gegangen!" (Um das später mit Spezialwissen über Britney Spears wettzumachen.)

Der entscheidende Unterschied zu früher ist: Anders als als Teenager haben die Medienprofis inzwischen die Kontrolle über diese Form von Selbsterzählung. Sie bestimmen selbst, welche Geschichten sie von sich erzählen und wieviel sie preisgeben.

Und sie spielen damit auf der Metaebene, etwa wenn Tom seinem Beschützerinstinkt folgend den zunehmend angetrunkenen Bruder beim Flirten und Knutschen mit dessen Oktoberfest-Begleitung erinnert: "Du weißt: Hier sind nicht nur unsere Kameras, die uns filmen."

Aus dieser Dynamik der Gegensätze machen die beiden beinahe eine eigene Kunstform. Und vielleicht ist es genau diese Mischung aus Selbstironie und Wandelbarkeit, die Bill und Tom Kaulitz zu den derzeit interessantesten Figuren im deutschen Fernsehen macht.

Zwischen Glamour und Bodenständigkeit

Beide verkörpern glaubwürdig den Hollywood-Glamour, sie sind sich aber nicht zu schade dafür, die Kamera nach dem großen Nagelunfall von 2023 auch noch zum Handchirurgen mitzunehmen (Bill: "Jetzt bin ich für immer der Mann mit dem komischen Fingernagel") oder mit Totenkopfohrring im Zwillingsanzug durch eine Show zu wackeln. Schon aus Eigeninteresse verziehen sie kein Minchen, wenn sie Olaf Schubert in "LOL" als "Till und Bom" veralbert, und Torsten Sträter die Eselsbrücke verrät, wie er sie auseinander hält: "Edward mit den Scherenhänden und Chewbacca".

Dann isst Tom in einer Tour Äpfel, um sich das Lachen zu verkneifen, und Bill presst die Lippen so doll zusammen, dass man Angst kriegt, es könnte ein dauerhafter Schaden zurückbleiben – bevor die beiden ihre Gegner:innen mit einer Elefantenpimmelunterhosen-Überraschung aus dem Spiel zu kegeln versuchen.

Wie gut kalkuliert diese Zweitkarriere ist, zeigt sich vielleicht am deutlichsten in ihrer Netflix-Reality (Staffel 2 ist bereits beauftragt). Zwischen Geburtstagsparty im sündhaft teuren "Invisible House" im Joshua Tree National Park, "Soundweltenbauen" im Studio, Kontrolltermin beim Hautarzt und Garagenausmisten mit Kuschelhund aus der "Memory Box" pendelt die Show gekonnt zwischen Glamour und Bodenständigkeit.

Respekt von der TV-Prominenz

Es gibt kurze Reflexionen über die Zeit, als sich die beiden wie "Tanzbären" mit "krassen Knebelverträgen" fühlten – und den Schluss daraus zogen: "Wir wollen nie wieder von jemandem abhängig sein."

Das scheint der Schlüssel zu ihrer neuen TV-Präsenz zu sein. Die Kaulitz-Brüder nutzen Fernsehen und Streaming heute sehr bewusst, um ihr eigenes Narrativ zu erzählen und dabei gemeinsam an Kontur zu gewinnen. "Wenn man kein eineiiger Zwilling ist, kann man gar nicht verstehen, wie connected wir eigentlich sind", sagt Bill.

Damit erarbeiten sich Maus & Maus gerade nicht nur die Akzeptanz eines Publikums, das sonst vermutlich eher nicht auf Tokio-Hotel-Konzerten abhängen würde; sondern auch den Respekt der restlichen TV-Prominenz. Oder wie Torsten Sträter es bei "LOL" auf den Punkt bringt: "Wir denken: 'Durch den Monsun', lass stecken. Und in Wirklichkeit ziehen die uns von hinten die Unterhose übern Schädel." (Bevor er später darüber staunt, dass die zwei als "richtige Prominente" nicht direkt wieder rausgeflogen sind; aber das sehen Sie sich am besten selbst mal an.)

Elegante Neuerfindung mit Mitte 30

Dafür, dass ihnen die Öffentlichkeit, in der sie unter größeren Komplikationen zu Stars wurden, lange Zeit ziemlich übel mitgespielt hat, geben Bill und Tom Kaulitz genau der gerade ziemlich viel zurück: Indem sie mit Selbstironie, Weltoffenheit und guter Laune dafür sorgen, dass alle, die ihnen zusehen, einen guten Fernsehabend haben.

Die fremdbestimmten Teenie-Stars von damals haben ihre Chance genutzt, sich mit Mitte 30 elegant nochmal selbst neu zu erfinden und ihre eigene Entertainment-Nische zu schaffen. Zwischen Hochglanz-Reality, Comedyshow und Promi-Homestory sind Bill und Tom Kaulitz zu einer absoluten Bereicherung für das deutsche Fernsehen geworden.

Jetzt müssen sie nur noch daran arbeiten, dort am Ende nicht'n bisschen überpräsent zu werden. Aber vielleicht lässt sich dazu ja auch einfach nochmal Bills Astrologin befragen.

Und damit: zurück nach Holly… – äh, Köln.

Das "LOL: Halloween Special" ist seit kurzem bei Prime Video abrufbar; "Kaulitz & Kaulitz" läuft bei Netflix.