Janine Dauterich © Stefan Birnbaum Janine Dauterich
Kaum ein Genre im Fernsehen, darüber herrscht großteils Einigkeit, hat in der jüngeren Vergangenheit einen ähnlichen Boom erlebt wie das der Dokumentation – insbesondere Doku-Serien wurden fleißig beauftragt. Nicht nur von klassischen Fernsehsendern, sondern auch von Streamern. Beim Deutschen Fernsehpreis, der kommende Woche in Köln verliehen wird, sind in den Werks- und Personenkategorien der Information entsprechend viele öffentlich-rechtliche Produktionen, aber auch Formate von kommerziellen Anbietern vertreten. Etwa "Der Fall Jens Söring: Tödliche Leidenschaft" von Netflix. Die Doku-Serie geht in der Kategorie "Beste Montage Information/Dokumentation" ins Rennen, auf einen Preis hoffen Chris Wright und Janine Dauterich.

Über den Mix aus klassischem Sender einerseits und Stream-Plattformen andererseits ist Dauterich jedenfalls erfreut, wie sie DWDL.de verrät: "Mein Wunsch ist, dass sich Sender und Streamingdienste gegenseitig anspornen, den Qualitätsstandard von Serien weiter zu verbessern, anstatt zu sparen. Eine gute Dokuserie zu entwickeln, zu produzieren und zu postproduzieren braucht Zeit. Je mehr kreative Konkurrenz, desto besser." Jeder zusätzliche Tag, jede Woche, jeder Monat mehr im Schneideraum könne eine Geschichte erheblich verbessern, berichtet sie. "Aus Hunderten von Stunden Material formen wir eine Erzählung, die die Zuschauer:innen packen und aus ihrem Alltag in eine andere Welt entführen soll."

Das ist auch die Arbeit von Annette Muff. Beauftragt vom WDR, dem RBB und Arte, hat sie "Capital B – Wem gehört Berlin?" umgesetzt – und ist nun ebenfalls in der Kategorie "Beste Montage Information/Dokumentation" nominiert. Aus ihrer Sicht bietet insbesondere der derzeitige Trend hin zu Dokuserien gegenüber zu Dokus in Filmfassung mitunter einen Vorteil. "Die knapp 35 Jahre erzählte Zeit, den multiperspektivischen Ansatz und die knapp 30 Protagonist:innen von 'Capital B' hätte man zum Beispiel nur schwer in einem einzigen Film realisieren können. Für einen einzelnen Film über Berlin wären mögliche Themen eher Einzelaspekte oder Personen, wie die Geschichte des Techno oder Hip Hop, oder der Berliner Bankenskandal oder Gentrifizierung, um ein paar Beispiel aus unserer Serie zu nennen", sagt Muff zu DWDL.de. Anders gesagt: Hier Projekt in der Form war nur als Serie so realisierbar.

Ob Film oder Serie, das hänge eben immer von der Grundlage ab. Bei einer einzigen Figur etwa, deren Geschichte "eine emotionale Wucht" hat, sei ein Film im Vorteil. Es würde verlieren, "wenn ich es auf fünf Folgen verteilen müsste", berichtet Muff. Zudem gelte es eine andere Frage zu beantworten, schiebt Jens Afflerbach ein. Der Geschäftsführer von Story House Productions hofft ebenfalls auf eine Auszeichnung beim Deutschen Fernsehpreis. Sein Unternehmen kann mit "ZDFzeit: Putins Krieger" in der Kategorie "Beste Doku-Serie" auf eine Auszeichnung hoffen.

Jens Afflerbach © SHP Jens Afflerbach
Afflerbach berichtet, dass in seinem Hause oft diskutiert werde, ob "uns ein Stoff über drei oder mehr Folgen trägt oder besser als 90minütiger Dokumentarfilm erzählt werden kann. Das gilt beispielsweise oft für politische Stoffe." Gleiches gelte auch für True-Crime-Formate, die sich zuletzt bekanntlich ebenfalls großer Beliebtheit erfreuten. Sie hätten aber nicht immer ausreichend Tiefgang, findet Afflerbach, dass sie als Serie funktionieren. Für ihn jedenfalls steht fest: "Dreimal 30 sind nicht dasselbe wie einmal 90 – auch, wenn aus Effizenzgründen häufig so produziert wird."

 

"90 Minuten sind doch eine wunderbare Länge für viele Filme."
Janine Dauterich


Ohnehin, erklärt Janine Dauterich, seien gute Gedanken bezüglich der Gestaltung im Vorfeld wichtig. "Eine Serie lohnt sich meiner Meinung nach nur, wenn in jeder Folge ein neuer, interessanter Aspekt der Geschichte erzählt werden kann." Und bei Filmen, so sagt sie, "muss abgewogen werden, ob der Stoff für 90, 120 oder 150 Minuten ausreicht. In den letzten Jahren gab es den Trend, Kinofilme in die Länge zu ziehen. Das gelingt nur wenigen wirklich gut. Viele dreistündige Filme lassen mich die alte Verleiherzeit zurückwünschen, in der aus Kostengründen keine so langen Filme möglich waren. 90 Minuten sind doch eine wunderbare Länge für viele Filme."

Für Dokuserien spräche, erklärt Jens Afflerbach, dass sie ein "starkes Versprechen" abgeben. Nämlich "echte Storys mit so hoher immersiver Kraft, dass sie ihr Publikum über mehrere Episoden in ihren Bann ziehen". Die traditionelle Dokureihe im linearen Fernsehen biete eher mal Ein- und Ausstiegspunkte, weil jede Folge für sich steht. "Die moderne, horizontal erzählte Serie fordert ihr Publikum, aber auch das Publikum hat zu Recht höhere Ansprüche: wenn man schon so viel Zeit investiert, dann müssen Recherche, exklusive Inhalte, Storytelling und Gestaltung absolut überzeugen", sagt Afflerbach.

Andererseits fordert offenbar aber auch das Publikum etwas von einer guten Doku-Serie. Dauterich sagt: Ein Interesse weckender Anfang sei besonders wichtig. Er müsse in die Geschichte ziehen und die Zuschauer davon überzeugen, in den nächsten Minuten nicht abzuschalten. "Zweites ganz wichtiges Element: Der sehr spannende Cliffhanger." Den brauche es bei der Serie, um die Zuschauerinnen und Zuschauer zum Anklicken der nächsten Folge zu bewegen. "Und hier liegt der wesentliche Unterschied zum Film. Sie brauchen den fesselnden Anfang und den spannenden Cliffhanger für jede Folge der Serie. Das erfordert Zeit und Geduld bei der Gestaltung."

Es gibt ihrer Erfahrung nach sogar komplexere Phasen während eines Films. Oft liege der schwierige Teil "zwischen Minute 50 und 70. Hier sollte ein neuer Aspekt aufkommen, ein Plot Point oder ein Turning Point", sagt Dauterich, "sonst kann es schleppend werden". Hier habe die Serie einen Vorteil. Sie könne "in jeder Folge ein oder mehrere Turning Points setzen, wodurch das Erzähltempo oft schneller wirkt. Dabei sollte man aber versuchen nicht zu viel zu verraten, damit am Ende der Serie noch überraschende Enthüllungen möglich sind."

Annette Muff © Annette Muff Annette Muff
Der auffällige Boom der Dokuserien für Mediatheken und Streamer habe Erzählweisen populär gemacht, die es im linearen Fernsehen schwer hatten, berichtet Jens Afflerbach. Man erzähle jetzt Storys und Menschengeschichten anstatt Themen zu präsentieren. Bildgestaltung und Schnitt würden dabei vielfältiger werden, weil sie nicht mehr an Formate gebunden seien. Sich hier zu unterscheiden, findet etwa Janine Dauterich wichtig. Es wäre ja langweilig, sagt sie, wenn Routine eintrete und jede Serie ähnlich wirke. Trends gebe es, genau wie in der Mode. "Manche sind für ein paar Jahre 'in', dann plötzlich 'out', und wie in der Musik oder bei Kleidungsstilen kehrt einiges nach einer Weile zurück – etwa Weißblitze, Jump Cuts im Takt der Musik, Blenden, Fade to Black und mehr. Jedes Element sollte mit einem klaren Zweck und nicht willkürlich eingesetzt werden." Bezogen auf Schnitt und Tempo sei es also eher eine Frage des Zeitgeistes und nicht der Form Film oder Serie: "Es gibt nicht per se einen Zwang zu schneller und Mainstream. Die Montage, die Erzählweise  muss zum jeweiligen Thema passen, das Tempo zu dem, was ich erzählen will", sagt Annette Muff.  

Und so ist jede Doku, egal ob Film oder Serie, eben als ganz eigenständiges Werk zu sehen. Mit eigenen Herausforderungen und möglicherweise Gesetzen. Die Vielzahl an zuletzt bestellten Produktionen und die Möglichkeit, die Stoffe auch mehr in der Nische auszuspielen, spiegeln sich auch in den Nominierungen beim Deutschen Fernsehpreis wider.