Herr Lamby, was macht gute Dokumentationen und Reportagen aus?

Ganz oben steht die Relevanz des Themas. Dazu kommen der persönliche Blick, die Pars-pro-Toto-Erzählung, das Aufzeigen von Zusammenhängen und Hintergründen sowie die filmsprachliche Originalität, vor allem Interviewführung, Kameraarbeit, Montage. 

War es vor diesem Hintergrund denn ein gutes Fernsehjahr in der Information?

Es war ein bewegendes Fernsehjahr, vor allem wegen der hohen Konzentration von Berichten über Kriege und Krisen. Daraus ergibt sich ein thematischer Schwerpunkt, der sich auch bei den Nominierungen erkennen lässt. Wir haben eine hohe Anzahl von Auslandsthemen - der Krieg in der Ukraine, Entwicklungen in Russland, auch der Konflikt zwischen Israel und der Hamas. Andere Themen haben wir nicht aus dem Blick verloren, da gab es ebenfalls herausragende Produktionen. 

Warum ist es aus Ihrer Sicht so wichtig, abgesehen von der Tagesaktualität, ausgeruht auf die Weltlagen zu schauen?

Ganz allgemein ist die besondere Qualität von Dokumentationsformaten, dass sie Entwicklungen über einen längeren Zeitraum beobachten können. Auch dass sie einen anderen Blick auf Personen und Ereignisse ermöglichen. Eine Nachrichtensendung kann wegen der Kürze der Sendezeit nur sehr begrenzt Hintergründe und persönliche Schicksale aufzeigen, daher bieten dokumentarische Formate eine sinnvolle Ergänzung. Das zeichnet die nominierten Produktionen in hervorragendem Maße aus. Jenseits der Kriege in der Ukraine und im Nahen Osten sind uns auch viele Produktionen mit völlig anderen Themen aufgefallen - AfD, Korruption, Terrorismus, Kriminalität, Gesundheit, außerdem Geschichte und Geografie. Daneben haben wir im Beobachtungszeitraum eine Vielzahl an herausragenden Sportdokumentationen und Musik-Dokus gesehen. Da hat sich viel getan.

Doku-Serien sind auf dem Vormarsch. Der Fernsehpreis berücksichtigt diese Formate in einer eigenen Kategorie. Wie blicken Sie auf diese Entwicklung?

Das ist eine großartige Entwicklung. Ich produziere seit über 25 Jahren Dokumentationen und fand es immer problematisch, in das enge Korsett eines Programmschemas gepresst zu werden. Warum muss ein Thema in 45 Minuten erzählt werden? Das kann gutgehen, aber es gibt viele Geschichten, die eine ganz andere Erzählweise erfordern. Die Mediatheken und Streamingdienste bieten inzwischen neue kreative Freiräume. 

Wann ist ein Stoff so gut, dass es sich lohnt, ihn als Doku-Serie zu erzählen?

Wenn wir es mit einem umfangreichen Thema zu tun haben, einer großen Geschichte, wenn viele verschiedene Protagonisten und Antagonisten vorkommen, eventuell mit Parallelhandlungen, dann lohnt es sich, über eine Doku-Reihe oder -Serie nachzudenken. In vielen Stoffen steckt häufig mehr als das, was in einem kurzen Format erzählt wird. Glücklicherweise machen immer mehr Produzentinnen und Produzenten, Autorinnen und Autoren, aber auch Redaktionen von den erweiterten Erzählmöglichkeiten Gebrauch. Das ist eine Befreiung.

 

"Die Formate sind längst nicht mehr so starr, wie man das lange Zeit gesehen hat."

 

Stellen Sie auch in Ihrer persönlichen Erfahrung eine neue Offenheit von Sendern und Plattformen fest?

Bislang war es meistens so, dass man vom Einzelfilm für das klassische Programmschema ausgegangen ist und sich dann überlegt hat, wie man eventuell einen Mehrteiler oder eine Serie daraus machen kann. Das hat sich in die andere Richtung entwickelt. Inzwischen kann man einen Stoff für einen Mehrteiler oder eine Serie planen – und sich dann überlegen, wie ein Einzelfilm dazu aussehen könnte. Da hat es in den letzten zwei, drei Jahren eine erfreuliche Entwicklung gegeben.

Da müssen Sie aber ein Stück weit häufiger mit Cliffhangern arbeiten, oder?

Da haben Sie recht. Das ist eine andere Dramaturgie, es gibt andere erzählerische und handwerkliche Erfordernisse. Auffällig ist, dass viele, möglicherweise die meisten Dokuserien ohne Kommentartext auskommen. Die Möglichkeiten, den Stoffen ausschließlich mit filmischen Mitteln gerecht zu werden, werden bei Doku-Reihen und -Serien häufiger genutzt als bislang bei Einzelfilmen. 

Die internationalen Themen, über die wir zu Beginn sprachen, dominierten auch die Talk- und Gesprächsformate. Die stehen jedoch häufig in der Kritik, dass sich deren Erkenntnisgewinn oft in Grenzen hält. Dieser Kritik versuchen die Macher aber zunehmend mit neuen Ansätzen entgegenzuwirken. Täuscht der Eindruck?

Es gibt auch eine Weiterentwicklung der Talkformate, die wir durch die Nominierungen von "Hart aber fair" und "Maischberger" in der Besten Information, aber auch durch "Die 100" im Besten Infotainment berücksichtigt haben. Die Formate sind längst nicht mehr so starr, wie man das lange Zeit gesehen hat. Das ist jetzt lebendiger und spannender – und wird den besprochenen Themen eher gerecht.

Allerdings scheint es, als sei es schwerer geworden, die Politikerinnen und Politiker zu "knacken". 

Politikerinnen und Politiker stellen sich auf die neuen Formate ein und werden gezielt gebrieft. Es ist jetzt Aufgabe der Moderatorinnen und Moderatoren, die Sprachblasen zum Platzen zu bringen und überraschende Gedanken herauszuarbeiten. Da ist es natürlich hilfreich, wenn man mehr Zeit für Einzelgespräche oder Diskussionen im kleineren Kreis hat. 

Sie selbst haben viel mit den Mächtigen in Deutschland zu tun. Hat sich der Zugang, den Politiker gewähren, im Laufe der Jahre verändert?

Ja. Als ich angefangen habe, war es sehr schwer, Politikerinnen und Politiker davon zu überzeugen, sie über einen langen Zeitraum mit der Kamera zu begleiten. Politik wurde häufig wie etwas gehandhabt, das die Öffentlichkeit nichts anzugehen hat. Ab und zu gab es eine Pressekonferenz, das war es dann. Das hat sich geändert. Es gibt eine höhere  Bereitschaft, sich bei der Arbeit beobachten zu lassen. Ich spüre sogar ein wachsendes Interesse, in solchen Doku-Formaten vorzukommen. Gelegentlich bekomme ich Anfragen von Pressesprechern, ob nicht Protagonisten aus dem politischen Bereich in einem meiner  Filme vorkommen können. Das geht zu weit. Man sollte als Filmemacher die Nähe zum politischen Betrieb suchen, aber gleichzeitig die notwendige Distanz zu ihm wahren. An den Anfragen kann man aber ablesen, dass es heute eine größere Offenheit gegenüber Doku-Formaten zu politischen Themen gibt als damals.

Auf der anderen Seite gibt es die Politikerinnen und Politiker, die sich ihre eigenen Plattformen suchen.

Umso wichtiger ist der unabhängige journalistische Blick, um der Kommunikation über soziale Medien etwas entgegenzusetzen. Es ist entscheidend, dass wir als Journalisten eine Gatekeeper-Funktion bewahren, dass wir richtig von falsch unterscheiden, wichtig von unwichtig; dass wir Akzente setzen, Zusammenhänge und Hintergründe aufzeigen. All das macht guten Journalismus aus, auch im Doku-Bereich. 

Herr Lamby, vielen Dank für das Gespräch.