Herr Bauer, zu Beginn der Corona-Pandemie und bis in den Sommer 2020 hinein standen bei vielen Produktionen die Kameras still. Befürchtet wurde ein reihenweiser Ausfall von Programm. Mit Blick auf die nun öffentlich gemachten Fernsehpreis-Nominierungen: Haben sich die Befürchtungen bewahrheitet?
Wolf Bauer: Es ist ganz erstaunlich, was trotz der pandemiebedingten Einschränkungen geleistet wurde. Ich selbst weiß von einigen Produktionen, die einen kurzzeitigen Stillstand hatten oder mit Verzögerungen kämpfen mussten, weil es Corona-bedingte Ausfälle von Teammitgliedern gab. Das waren aber in der Regel begrenzte Zeitabschnitte von wenigen Wochen. Strenge Hygienekonzepte und Unterstützungsprogramme haben sehr geholfen. Insgesamt aber ist es bemerkenswert, was in der Pandemie-Zeit an programmlicher Vielfalt in exzellenter Umsetzung produziert wurde. Für mich ist das auch ein Beweis dafür, was das erweiterte Fernsehangebot, und dazu zähle ich auch Streaming- und andere Pay-TV-Anbieter, gerade in der Zeit einer Pandemie für einen essentiellen Beitrag leistet für die geistige und emotionale Befindlichkeit in der Gesellschaft.
Welchen Einfluss hatte die Pandemie dennoch auf die Nominierungen? Sonderlich viele Produktionen mit Corona-Bezug sind ja nicht nominiert.
In den Kategorien der Informationsprogramme, der Magazine und Talkshows, aber auch bei den hochklassigen Dokumentationen und Reportagen waren die drängenden Themen der Gegenwart sehr präsent und haben Orientierung in schwieriger Zeit geboten. Im Bereich des fiktionalen Erzählens finden aktuelle Bezüge immer erst zeitversetzt statt. Immer dann, wenn sich bestimmte Ereignisse als besonders dramatisch herausstellen, braucht es einen gewissen Abstand, bis es zum Programmthema wird. Einige Corona-Experimente hat es in der Fiktion durchaus gegeben. Aber man sieht ja auch an anderen Faktoren, dass es erhebliche Einwirkungen gegeben hat. So haben beispielweise in der Unterhaltung gesellschaftliche Themen Einzug gehalten: Gender, Diversity, Pflegenotstand oder auch Fluchtschicksale wurden hier verhandelt
Und was unterscheidet den Jahrgang 2021 ganz grundsätzlich von den vorangegangenen Jahren?
Wenn Sie so wollen, haben wir in diesem Jahrgang insgesamt so etwas wie eine neue Ernsthaftigkeit beobachtet, die durchaus die gesellschaftliche Stimmungslage widerspiegelt. Wir haben uns bemüht, diese Entwicklung in der Auswahl der Nominierung abzubilden. Außerdem haben wir versucht, richtungsweisende Erzählvarianten hervorzuheben, und das unter dem Gesichtspunkt, dass wir einen verstärkten Wettbewerb sehen zwischen den verschiedenen Marktteilnehmern. Dieser Wettbewerb befördert den Variantenreichtum der Programme und bringt eine neue Vielfalt in den Erzählformaten mit sich. Vor allem sehen wir eine deutliche Erweiterung im Genre-Spektrum. Wir sehen Dystopien und Endzeit-Dramen, Mystery-Serien, History-Stoffe und Remakes von großen Marken aus dem Kino. Und an den Zahlen der Mediennutzung sieht man, dass die Menschen in der Pandemie das erweiterte Angebot und deutlich mehr Programme konsumiert haben. Es ist ja fast schon eine Binsenweisheit und dennoch richtig: Wettbewerb verstärkt überall den Ehrgeiz und die Bemühungen und dadurch ergeben sich neue Chancen. Übrigens auch für junge Talente.
"Wir haben uns als Jury in diesem Jahr dazu entschlossen, verstärkt junge Formate hervorzuheben."
Sehr sichtbar wird das bei den Drama- und Comedy-Serien. Hier gibt’s einige Überraschungen aus dem Bereich der Young Fiction, viele High-Budget-Produktionen von großen Anbietern fehlen dagegen. Meinen Sie das, wenn Sie von "richtungsweisenden Erzählvarianten" sprechen?
Wir haben versucht herauszufinden, was richtungsweisend sein könnte. Was sind die Trends in den verschiedenen Kategorien? Wir haben uns als Jury in diesem Jahr dazu entschlossen, verstärkt junge Formate hervorzuheben. Ich denke, die Jury hat dabei eine gute Balance gefunden. Bei den Mehrteilern und den Fernsehfilmen sind die nominierten Formate im klassischen Sinne mehrheitsfähige Programme. Und auf der anderen Seite haben wir Entwicklungen gesehen, die für uns zukunftsrelevant erscheinen. Die Diskussionen in der Jury waren hart, das will ich nicht verleugnen, aber gleichzeitig sehr leidenschaftlich, differenziert und facettenreich.
Weil Sie die Mehrteiler angesprochen haben: Wie sind diese eigentlich noch von den Drama-Serien zu unterscheiden? Hier verschwimmen die Grenzen doch immer mehr.
Das ist tatsächlich so, es wird immer schwieriger, klare Einteilungen vorzunehmen. Das war in diesem Beobachtungszeitraum noch stärker zu sehen als zuvor. Für die Jury war letztlich ausschlaggebend, dass ein Mehrteiler eine in sich geschlossene Geschichte erzählt. Ähnlich wie ein Roman. Eine Serie ist auf Fortsetzbarkeit hin konzipiert. Das definiert sich über die Ausgestaltung der Charaktere, aber auch über offene Erzählstränge zur Weiterführung des Plots. Aber natürlich kann man darüber trefflich streiten. Wir sehen zudem häufiger, dass sich Serien im Erzähltempo sehr viel Zeit lassen und sich dabei am Ende die Frage aufdrängt, ob es nicht ausgereicht hätte, aus dem Stoff einen Zwei- oder Dreiteiler zu machen.
Könnten bei einem weiteren Verschwimmen der Grenzen auch Veränderungen auf den Deutschen Fernsehpreis zukommen?
Der Fernsehpreis muss sich an seinem Beobachtungsobjekt orientieren. Wenn es dort neue Programm- oder Erzählformen gibt, wird sich die Jury auch damit auseinandersetzen. Bislang jedoch haben die Kategorien der Jury ausreichenden Spielraum zur Erfassung des Programms gegeben. Und diese Debatte betrifft ja vor allem die Werk-Kategorien. Der Jury geht es aber auch darum, die Wertigkeit der Einzelleistungen stärker in den Vordergrund zu stellen. Das ist - wie wir alle wissen - immer ein schwieriger Balanceakt für Award Ceremonies, in denen fast zwangsläufig die Werk-Kategorien dominieren. Wir wollen mit dem Deutschen Fernsehpreis aber auch ein hochwertiger Preis sein für die Kreativen, die für die Exzellenz eines Werkes entscheidend sind. Das Publikum sieht ja das fertige Programm, das kann faszinieren, emotionalisieren, unterhalten, zu neuen Einsichten führen oder einen Blick in andere Welten bieten. Das Programmergebnis entsteht aber zumeist auf einer langen kreativen Reise, auf der viele Talente hinter der Kamera, die oft jahrelang an einem Projekt arbeiten, ihre gemeinsame Vision umsetzen.
"Ich glaube, dass es noch viele Potenziale gibt, die wir heben können."
Ist diese Haltung auch schon bei den Kreativen angekommen? Die haben in den vergangenen Jahren ja durchaus gefremdelt mit dem Fernsehpreis.
Das gilt sicherlich nicht für die Nominierten und die Preisträger:innen. Ich hoffe, dass es über die Zeit gelingt, dass der Deutsche Fernsehpreis die Auszeichnung ist, die man in der kreativen Community respektiert und anerkennt wird, von der man sich wünscht, dass man sie bekommt. Immerhin ist der Deutsche Fernsehpreis der einzige Wettbewerb mit einem differenzierten und genreübergreifenden Kategoriensystem für kreative Einzelleistungen.
Das heißt aber auch: Noch hat der Fernsehpreis bei den Kreativen nicht den Wert, den Sie sich wünschen.
Aus meiner Sicht ist der Deutsche Fernsehpreis ist die wichtigste Anerkennung für kreative Programmarbeit. Darin inkludiert sind selbstverständlich journalistische und unterhaltende Formate. Wir wollen die Spitzenleistung für die Branche sichtbar machen, aber auch für das Publikum. Wir wollen zeigen, was das Fernsehen in seiner ganzen Bandbreite leistet. Das Fernsehen hat eine enorme Wirkungsmacht und die soll durch den Fernsehpreis deutlich gemacht werden. Einerseits für das Publikum, andererseits für die Talente.
Wie schwierig ist es eigentlich, das Gleichgewicht zu halten zwischen etablierten Formaten, die bislang noch nicht ausgezeichnet wurden und neuen Sendungen? Andrea Kiewel moderiert den "Fernsehgarten" doch gefühlt seit 20 Jahren gleich. Nun ist sie ebenso nominiert wir die Politmagazine "Panorama" und "Frontal".
Es ist eine der Aufgaben einer Jury, ein Gesamtbild darzustellen. Wir müssen uns aber auch auf bestimmte Entwicklungen fokussieren, die wir im Zeitraum der Beobachtung als relevant erachten. Dazu gehört nicht nur, Neues hervorheben, sondern immer wiederauch etablierte Formate und kontinuierliche Leistungen in den Blick zu nehmen, die mit großer Beständigkeit erzählerische, unterhaltende und informative Programmleistungen erbringen.
Wird die Preisverleihung am 16. September eigentlich der große Aufschlag, den man ja eigentlich schon für 2020 angekündigt hatte oder wird das noch eine Not-Veranstaltung sein, die der Pandemie Rechnung trägt?
Es wird eine große Open-Air-Veranstaltung im Kölner Tanzbrunnen, moderiert von Barbara Schöneberger und zeitversetzt ausgestrahlt bei RTL. Pandemiebedingt ist das Ganze aber natürlich etwas kleiner, als wir alle uns das gewünscht hätten. Aber es wird eine große Show. Ursprünglich war der Plan, den Deutschen Fernsehpreis an zwei Abenden zu feiern, als eine Art Festival des Programmgeschehens. Das konnten die Stifter wegen Corona in diesem Jahr leider nicht realisieren, das ist dann hoffentlich 2022 möglich. Der Fernsehpreis darf ja auch wachsen und sich entwickeln im Gleichschritt mit der Entwicklung des Programms und des verschärfenden Wettbewerbs der Programmanbieter. Deshalb glaube ich, dass es noch viele Potenziale gibt, die wir heben können.
Wo kann sich das Fernsehen noch verbessern? Was wünschen Sie sich für den Fernsehpreis 2022?
Im zurückliegenden Beobachtungszeitraum haben wir deutlicher denn je gesehen, dass das Fernsehen ein Spiegel der Gesellschaft ist. Andererseits ist das Fernsehen aber auch Akteur, der aktuelle Trends aufgreift und fortführt. Diese Rolle wird immer wichtiger für eine Gesellschaft, die Zusammenhalt braucht und Teilhabe für jeden einzelnen schaffen will. Dabei spielt das Fernsehen eine große Rolle.
Herr Bauer, vielen Dank für das Gespräch!