"Es ist erst drei Tage dunkel und schon wird’s gruselig", sagt Polizist Hank Prior defätistisch in der vierten Staffel der Anthologie-Serie "True Detective" von HBO zu seiner Dienststellen-Leiterin Liz Danvers (Jodie Foster) und seinem Sohn Peter, genannt "Prior". Sie haben sich auf der abgelegenen Forschungsstation Tsalal, circa 150 Meilen nördlich des Polarkreises, eingefunden, weil alle acht dort lebenden Wissenschaftler überraschend verschwunden sind. Eine abgeschnittene Zunge auf dem Boden lässt vermuten, dass nicht eine Team bildende Schneewanderung zur Abwesenheit führte, sondern etwas Grauenvolles passiert sein muss. Auch könnte der Satz "Wir sind alle tot" auf der Flipchart ein Hinweis sein, was Phase ist. Weit weg von New York City und Los Angeles, analogen wie digitalen Sehnsuchtsorten, entspinnt sich im abgelegenen und fiktiven Ennis, eine Krimi-Geschichte, die auf den Untertitel "Night Country" hört.
Die Rede ist von der neuesten Iteratin der Anthologie-Reihe "True Detective, die erstmals einen Untertitel spendiert bekam, den es wörtlich zu nehmen gilt. Denn "Night Country" spielt mit Alaska nicht nur geografisch gesehen weit abgelegen von den anderen Bundesstaaten der USA an einem Rand, der sonst nicht gerade das große Scheinwerferlicht abbekommt, das Licht ist so gesehen in den nur sechs Folgen fast gänzlich aus. Mit dem 17. Dezember, so lernen Zuschauerinnen und Zuschauer zu Beginn, handelt es sich um den letzten Sonnenuntergang des Jahres – es folgt: Dunkelheit. Die Polarnächte machen den Tag zur Nacht und die Nacht bleibt Nacht, was schon an sich etwas Gruseliges mit sich bringt, zusätzlich zur oben genannten Zunge mit Zwei-Tages-Verwesung. In dem vierten, erstmalig von Issa Lopéz inszenierten Durchgang gibt es zusätzlich zur Dauernacht noch eine weitere Neuerung: so steht dort entgegen der Vorgängerstaffeln mit Jodie Foster (Liz Danvers) und Kali Reis (Evangeline Navarro) ein rein weibliches Ermittler-Duo im Fokus, das dem "whodunit" nachgeht. Es handelt sich zudem um die erste Ausgabe ohne Nic Pizzolatto auf dem Posten des Showrunners. Lopéz war neben diesem Job nicht nur für die Regie, sondern auch für das Drehbuch zuständig.
Und wie von "True Detective" zu erwarten ist, kreist die Staffel um einen, beziehungsweise mehrere Morde, und changiert – analog zur ersten und dritten Staffel – zwischen unterschiedlichen Zeitebenen, vor allem 2019 und 1999. Denn es gibt noch einen ungeklärten Mordfall an einer Indigenen, die die Vergangenheit in die Gegenwart katapultiert und die Frauen stärker zusammenbringt, als ihnen zunächst lieb ist. Zwischen der genannten Dunkelheit, dem vielen Schnee, der sichtbaren Eiseskälte, den Fellmützen, Fellrandmützen, Fellkapuzen und Rentieren behaupten sich die beiden Ermittlerinnen mit Wort und Hand gegen ihre männlichen Kollegen oder Kontrahenten. Das gefiel auch der Academy, denn beide Schauspielerinnen sind für ihre Leistungen nominiert: Foster für die beste Hauptdarstellerin und Reis für die beste Nebendarstellerin.
Die Serie mit den starken Frauenfiguren vor und hinter der Kamera (Lopéz wird übrigens auch die fünfte Staffel kreativ betreuen) bekam am 17. Juli insgesamt 19 Nominierungen zugesprochen, Pole Position in der Kategorie und viertbeste Produktion im Gesamtklassement. Vier Nominierungen weniger wurden der ebenfalls nicht unbekannten, sondern schon ausgiebig erzählten Anthologie-Serie "Fargo" von FX spendiert, die immer mit dem Prolog beginnt, dass es sich um eine "true story" drehen würde, auch wenn dem nicht so ist. Hierbei handelt es sich schon um die fünfte Staffel mit neuem Cast, neuer Geschichte, aber bekanntem Ort. Was bleibt ist das Spiel mit Provinzialität, das bereits im Film "Fargo" aus dem Jahr 1996 von den Coen-Brüdern etabliert und in Serie weiter erzählt wurde und damit irgendwie auch eine Parallele zu "True Detective" darstellt (der Film lässt sein Ensemble darüber hinaus auch viel im Tiefschnee versinken, nicht so Staffel fünf). Analog zum Film taucht die Serie von FX abermals in den Mittleren Westen, genauer genommen in und um Minnesota herum, ein, und puzzelt sich zugleich eine Ode an die Provinzialität zusammen: die Weite, das Ursprüngliche, die Isolation, die aber auch zur Bedrohung werden kann. Alles atmosphärisch dicht erzählt.
Noah Hawley geht mit der fünften Staffel "Fargo" ebenso wie "True Detective" hauptsächlich ins Jahr 2019 und rückt damit im Vergleich zu den Staffeln zuvor näher an die Gegenwart ran. Zum Vergleich: Staffel vier spielte in Kansas der 1950er Jahre. Im Mittelpunkt steht die von Juno Temple ("Ted Lasso") gespielte Dorothy "Dot" Lyon, die ein dunkles Geheimnis mit sich trägt und von Männern der unbarmherzigen Sorte entführt werden soll. Auch sie wird von ihrer Vergangenheit eingeholt, so dass die empathische, 1.57 Meter kleine und "45 Kilo schwere" Vorstadt-Frau mit dem Nachnamen Lyon (statt Lion) zu einer "Löwin" mutiert und bereits zu Beginn in bester "Kevin allein zu Haus"-Manier mit Schlaghammer an der Decke, einem mit Nägeln zur noch stärkeren Waffe umfunktionierten Baseballschläger und einer Stromschläge verursachenden, selbst gebauten Falle Superheldinnen artig ihre Identität im eigenen Haus verteidigt.
Diese versucht nämlich Jon Hamm als Sheriff Roy Tillman offenzulegen und das weniger wegen seiner Position, sondern eher aus privater Natur. Sein Motiv: Ehre, woraus Rache folgt. Hamm legt den aus "Mad Men" bekannten Anzug Jahre später so was von ab, um ihn gegen den Cowboyhut und Nippelpiercings zu tauschen und spielt in "Fargo" eine härtere, toxischere, gefährlichere Alphatier-Version, als je zuvor. Eine durch die seine Figur Don Draper schon fast milde und gutherzig wirkt. Ein Vergewaltiger, Frauenschläger, Mörder, einer, der auf einem Billboard mit "A hard man...for hard times" für sich und sein Amt als so genannter Aufräumer mit Vorliebe fürs Alte Testament und Trump wirbt. Beide liefern sich einen erbitterten Kampf, was von der Academy mit zwei Nominierungen bedacht wurde: die Britin Temple und der Amerikaner Hamm gehen am Abend der 76. Verleihung auch in den Kategorien für die beste schauspielerische Darstellung ins Rennen.
Neben die bekannten Marken "True Detective" und "Fargo" gesellt sich eine weitere Serie, die bereits eine Vorgeschichte hat, einen USP im Feld der Nominierten besitzt und ursprünglich 13 Nominierungen zugesprochen bekam. Basierend auf dem ersten Kriminalroman "Der talentierte Mr. Ripley" von 1955 und den weiteren Romanen der fünfteiligen "Ripliade" von Patricia Highsmith schlüpften schon Alain Delon, Dennis Hopper, John Malkovic und Matt Damon in die Film-Rolle des Protagonisten, Tom Ripley. Nun hat sich Netflix an eine Serienaufarbeitung mit dem irischen Schauspieler Andrew Scott gemacht, die als einzige in schwarz-weiß daher kommt und dadurch das Lebendige des Dolce Vita unterdrückt. Denn genau dorthin verschlägt es einen in den acht Folgen: Rom, Neapel, italienische Küstenorte. Alles um 1960. Im Gegensatz zu den anderen beiden Produktionen reist "Ripley" also mit Ausnahme weniger Szenen nach Europa und bemüht konträr zu "True Detective" das "whydunit", die Motive.
Lange Einstellungen, langsames Erzähltempo, so gesehen das Gegenteil zu einem Film wie "Everything, Everywhere All at Once". Kein Koks, sondern Valium. Keine Farbexplosion, sondern die Entdeckung der Langsamkeit in schwarz-weiß. Viele Szenen bleiben stehen und werden dadurch zum Gemälde, so wie die des frühbarocken Malers Caravaggios, dessen Geschichte und Mythos immer wieder in der Serie thematisiert wird. Denn Caravaggio soll getötet haben, was uns zur Handlung von "Ripley" bringt. Tom Ripley bekommt ein "unerwartetes Geschäftsangebot" und reist im Auftrag eines vermögenden Schiffbauunternehmers von New York City nach Italien, um den reichen Sohn nach Hause zu den reichen Eltern zu holen. Angezogen vom Müßiggang des dekadenten Lebens, des künstlerischen wie kulturellen Genießens seines Auftragssubjekts Richard "Dickie" Greenleaf und der von Dakota Fanning gespielten Marge, mit der Dickie "eine Verbindung" pflegt, gerät das Projekt "Heimkehr" schnell aus den Augen. Verstimmungen führen dazu, dass Tom Dickie tötet und fortan noch mehr mit Identitäten spielt, was im Zeitalter der Schreibmaschine etwas einfacher scheint.
"True Detective" und "Fargo" gehen in der Nacht vom 15. auf den 16. September mit sechs Nominierungen ins Rennen. "Ripley" mit fünf Nominierungen, die in fünf Siege verwandelt werden könnten. Den Highscore am Abend der Verleihung selbst - und Gewinner in der wichtigen Kategorie des besten Castings bei den "Creative Arts Emmys" - nimmt jedoch eine andere Produktion ein, die ebenfalls in Europa, vor allem in London, spielt und auf der Insel produziert wurde. Mit sieben Nominierungen, jedoch nur sechs Chancen (Doppelnominierung in der Kategorie der besten Nebendarstellerin) geht "Baby Reindeer", beziehungsweise "Rentierbaby", von Netflix in die 76. Verleihung. Dabei handelt es sich um eine Weiterentwicklung einer Stand-up-Show von Richard Gadd, die wiederum auf selbst Erlebtem basiert. Gadd, Schöpfer und Autor, spielt sich zugleich selbst, allerdings unter dem Namen Donny Dunn, der als Komiker mit dem Nebenjob Barmann eine verhängnisvolle Begegnung am Tresen des Ladens macht. Martha, die vorgibt eine Anwältin zu sein, stalkt und belästigt ihn fortan, was ihn in eine Abwärtsspirale treibt, bis hin zu einer Vergewaltigungsserie durch einen Comedy-Mentor.
Nicht nur, dass die an Gadds Leben orientierte Mini-Serie ein riesiger, globaler Erfolg für Netflix war, die Produktion machte auch andere Schlagzeilen, denn "die echte Martha" wurde zügig von Fans ausfindig gemacht, so dass die enttarnte Fiona Harvey aus Schottland ankündigte, den Streamingdienst verklagen zu wollen. Die Serie von und mit Gadd spiele mit dem Label der wahren Begebenheit (Stalking, sexueller Missbrauch), dabei seien aus ihrer Sicht mehrere Unwahrheiten verbaut, die sie zu einer Schadensersatzforderung von 170 Millionen US-Dollar veranlasste, inklusive einer Gewinnbeteiligung, bei der für sie "unwahren Geschichte". So sei sie keine "zweifach verurteilte Stalkerin", zudem wies sie sexuellen Missbrauch von sich.
Neben Richard Gadd, der mit Jon Hamm, Andrew Scott, Tom Hollander ("Feud: Capote vs. The Swans") und Matt Bomer ("Fellow Travelers") um die Trophäe für den besten männlichen Hauptdarsteller kämpft, ist auch Jessica Gunning für die Nebenrolle als Martha nominiert. Dort kämpft sie ausgerechnet gegen Nava Mau aus der selben Produktion, sowie gegen Dakota Fanning, Kali Reis, Lily Gladstone ("Under The Bridge"), Diane Lane ("Feud: Capote vs. The Swans") und Aja Naomi King ("Lessons In Chemistry").
Und dann wäre da noch "Eine Frage der Chemie", beziehungsweise "Lessons in Chemistry" von Apple TV+, welches vor zwei Monaten zehn Nominierungen zugesprochen bekam, am Abend selbst mit fünf Nominierungen dabei sein wird. Wie auch "Ripley" wird in der Zeit zurück gereist, allerdings ins Kalifornien der 50er/60er Jahre und nicht in schwarz-weiß. Die Serie aus dem Produktionshaus von Jason Bateman basiert auf dem Roman von Bonnie Garmus und setzt Elizabeth Zott ins Zentrum des Geschehens. Mit ihrer überdurchschnittlichen Begabung in Chemie läuft sie in der patriarchalisch strukturierten Wissenschaftswelt immer wieder gegen verschlossene Türen und wird aus der Not geboren zum TV-Host einer Kochshow. In den 1980er Jahren hätte man solch eine Frau wohl als Powerfrau bezeichnet – ein Role Model für alle, denen an Emanzipation und weiblicher Selbstbestimmtheit gelegen ist. Allerdings muss man feststellen, dass es sich bei der Vorkämpferin um keine Person aus der Geschichte handelt, sondern um eine Romanfigur.
Eben diese wird von Bri Larson gespielt, die mit Jodie Foster, Juno Temple, Sofia Vergara ("Griselda") und Naomi Watts ("Feud: Capote vs. The Swans") in der Kategorie der besten Hauptdarstellerinnen auftaucht. Darüber hinaus kann sich auch Lewis Pullmann Hoffnungen in der Kategorie "Bester Nebendarsteller" für seine Rolle als Calvin Evans bei "Eine Frage der Chemie" machen. Etwas dagegen haben jedoch John Hawkes ("True Detective"), Lamorne Morris ("Fargo"), Tom Goodman-Hill ("Rentierbaby"), Jonathan Bailey ("Fellow Travelers"), Robert Downey Jr. ("The Sympathizer") und Treat Williams ("Feud: Capote vs. The Swans"). Alle fünf für die beste Mini- oder Anthologieserie nominierten Produktionen haben übrigens auch eine Nominierung in der Kategorie "Beste Regie" bekommen. Bis auf "Eine Frage der Chemie" erhielten auch alle eine für das beste Drehbuch.
Wenn man sich von der obigen Teilung "Altes" gegen "Neues" löst, könnte man auch einen Blick auf die Vorjahressieger werfen. Während 2020 "Watchmen" von HBO siegreich war, war Netflix 2021 mit dem "Damengambit" an Platz Nummer eins. 2022 folgte "The White Lotus" von HBO und bei der Jubiläumsgala jubilierte "Beef" von Netflix. HBO, Netflix, HBO, Netflix. Dem Rhythmus zufolge müsste nun also wieder HBO mit "True Detective" dran sein. Und hey, selbst da gibt es Rentiere.
Die Verleihung der Emmys ist aufgrund der Zeitverschiebung hierzulande zu nächtlicher Stunde zu sehen. Magenta TV überträgt die Verleihung in der Nacht vom 15. auf den 16. September ab 2 Uhr live auf #dabeiTV, zuvor gibt's ab 0:30 Uhr schon Vorberichterstattung und Bilder vom Roten Teppich.