Sage und schreibe ein Vierteljahrhundert lang schien die Rezeptur für den Polittalk nach dem "Tatort" ungefähr so in Stein gemeißelt wie die Coca-Cola- oder die Haribo-Goldbären-Formel. Eine Fünfer- oder Sechserrunde in konkav zur Kamera geöffneter Sitzordnung pflegte unter Christiansen-Jauch-Will-Anleitung den routinierten Streit zum Wochenendausklang. Im Lauf der Zeit ließ sich nur noch schwer feststellen, was ausgelutschter war: der ewige Vergleich mit der Rollenverteilung beim Kasperletheater oder das Format selbst. Abgewichen wurde davon lediglich, wenn aus besonderem Anlass der Kanzler oder die Kanzlerin zur Solostunde vorbeischaute.

Vor diesem Hintergrund muss man Caren Miosga wohl als Revolutionärin einordnen. Dass sie das televisionäre Ersatzparlament zugunsten einer deutlich konzentrierteren Gesprächsform abgeschafft hat, war der zweitgrößte Gewohnheitsbruch des Jahres im Ersten – gleich nach dem Verzicht auf "meine Damen und Herren" in der "Tagesschau"-Begrüßung. Spitzenpolitiker werden von Miosga nun meist erst einzeln vernommen, ehe in der zweiten Sendungshälfte zwei Experten oder Journalisten hinzustoßen, um die Gastgeberin beim Abwägen und In-die-Zange-Nehmen zu unterstützen. Das führt in der Regel zu intensiveren und dadurch aussagekräftigeren Dialogen, wird aber je nach Themen- und Gästelage auch alle paar Sendungen mal umgeworfen.

Die langjährige "Tagesthemen"-Moderatorin hatte sich diese Gestaltungsfreiheit offenbar ausbedungen, bevor sie dem NDR zusagte, "Caren Miosga" zu moderieren und zu produzieren. "Dass ich sagen durfte, ich möchte das ein bisschen anders machen, möchte gelegentlich die Person ein bisschen mehr in den Fokus stellen und nicht nur das Thema – dass die ARD das mitgemacht hat, das hat mich gefreut", so Miosga Mitte November im Podcast "Hotel Matze". "Und wenn sie gesagt hätten, nee, du musst das genauso weitermachen, weiß ich gar nicht, ob es mich so interessiert hätte."

Nach der Premiere im Januar mit Oppositionsführer Friedrich Merz als erstem Gast lobte der "Tagesspiegel", Caren Miosga könne "mit ihrer intelligenten Zuwendungstaktik mehr Erkenntnis gewinnen als mit jeder verbalen Erpressung". Miosga setze "[Anne] Wills gesellschaftspolitischer Fatigue nun eine Art Revitalisierungsbad entgegen", befand der "Spiegel". Der neue Aufbau biete "mehr Dynamik und Spielmöglichkeiten, die Sendung wirke "dynamischer und weniger starr als 'Anne Will'", urteilte DWDL.de.

Es liegt in der Natur der Sache, dass man Miosga im ersten Sendejahr bei so viel Mut zum Experimentieren auf einer wöchentlichen Lernkurve verfolgen konnte, die nicht immer linear nach oben verlief. Mag sein, dass im Talk mit AfD-Vormann Tino Chrupalla etwas weniger Wohlfühlatmosphäre zielführender gewesen wäre, dass man die strategischen Unklarheiten in Michael Kretschmers Sprachgebrauch deutlicher hätte decouvrieren können und Robert Habeck nach dem Ampel-Aus ähnlich hartnäckig hätte befragen sollen wie eine Woche später Christian Lindner.

Unterm Strich steht jedoch insgesamt ein moderner Polittalk, der den aufgeladenen Zeiten besser gerecht wird als die alten TV-Rituale: freundliches, aber dennoch intensives Nachhaken statt performativer Streit-Simulation; das jeweilige Gegenüber als Mensch mit anderer Meinung, nicht als Fundamentalgegner. Es ist ja kein Zufall, dass auch Miosgas Vorgängerin Anne Will mit ihrem Politik-Podcast bewusst in diese Richtung steuert und viel ausgeruhter daherkommt als früher am Sonntagabend.

Obwohl Sehgewohnheiten ein beharrliches Phänomen sind und Miosga nach eigenem Bekunden auf der Straße noch gelegentlich als "Frau Will" angesprochen wird, kann die ARD mit der Quotenbilanz des neuen Formats zufrieden sein. Durchschnittlich 3,1 Millionen Zuschauer hatte "Caren Miosga" im ersten Jahr – und damit etwas mehr als die 2,95 Millionen im letzten Jahr von "Anne Will". Der Marktanteil kletterte von 13,3 auf 14,3 Prozent. In einer von "Hörzu" beauftragten Forsa-Umfrage erhielt Miosga auf Anhieb die besten Noten aller Polittalker – vor Sandra Maischberger und Markus Lanz. Da ist es nur folgerichtig, sie 2025 häufiger als bisher auf Sendung zu schicken. Dank verkürzter Weihnachtspause ist die Frau mit dem "maliziösen Lächeln" ("Tagesspiegel") ab Mitte Januar wieder im Einsatz – rechtzeitig vor den Neuwahlen.