Wer wie Natalie Scharf im unmittelbaren Umfeld einer psychiatrischen Anstalt aufwächst, weil der Vater diese als Neurologe betreibt, bekommt schon als Kind alles mit, was für eine Karriere in der TV-Industrie prädestiniert. "Entweder zieht dich das runter in den Abgrund oder es macht dich stark", erklärte die Autorin und Produzentin Jahrzehnte später in der "Welt". Dass es in ihrem Fall letztere Variante geworden ist, versteht sich von selbst. Schließlich zählen blühende Fantasie und psychologisches Einfühlungsvermögen heute zu Scharfs beruflichen Stärken.
Die haben sie 2023 zu neuen Höhen geführt, denn ihr ZDF-Mehrteiler "Gestern waren wir noch Kinder" hat mehr erreicht, als die meisten deutschen Fernsehproduktionen für gewöhnlich erreichen. Über fünf Millionen Live-Zuschauer bei der Erstausstrahlung, über 23 Millionen Abrufe in der ZDF-Mediathek, ein Deutscher Fernsehpreis für das beste Drehbuch und ein Blauer Panther für die beliebteste Serie. Besonders ungewöhnlich aber: "Top Gun"-, "Fluch der Karibik"- und "CSI"-Produzent Jerry Bruckheimer hat sich im Sommer die Rechte für ein US-Remake gesichert.
"Dass ich einmal in die Situation komme, mich zwischen diversen Hollywood-Produzenten und US-Sendern entscheiden zu müssen, hätte ich im Leben nicht gedacht", sagte Scharf im September der "Bild am Sonntag". Zu diesem Zeitpunkt war sie bereits bei der Hollywood-Agentur CAA unter Vertrag. Auch wenn längst nicht jeder Rechtekauf in eine realisierte Serie mündet, hat die einstige Jugendbuchautorin nun einen Fuß in der Tür des begehrten US-Markts. Ganz so überraschend kommt der Schritt freilich nicht. Wenn es hierzulande eine Fiction-Frau gibt, die seit Jahr und Tag erfolgreich nach dem amerikanischen Writer/Producer-Modell arbeitet, dann Natalie Scharf. Übrigens lange bevor die Zahl der selbst ernannten "Showrunner" in die Höhe schoss. Sie selbst benutzt den Begriff nach wie vor nicht gern, bevorzugt stattdessen "schreibende Produzentin" oder "Filmemacherin", wie sie im DWDL.de-Interview verriet.
Seit mittlerweile zwölf Jahren liefert sie dem ZDF verlässlich die "Herzkino"-Reihe "Frühling" mit Simone Thomalla als Dorfhelferin Katja Baumann. Anfangs noch zusammen mit Nico Hofmann und der UFA Fiction, seit 2017 in alleiniger Fertigung durch ihre Produktionsfirma Seven Dogs. Immerhin sechs 90-Minüter pro Jahr entstammen ihrer Feder. Kein Wunder also, dass sie neben all der Routinearbeit sechs Jahre für "Gestern waren wir noch Kinder" brauchte. "Unter den 100 Drehbüchern, die ich geschrieben habe, kann ich mich mit diesem hier am meisten identifizieren", so Scharf. "Schon, weil ich damit mehr Zeit denn je verbracht habe."
Wie klug Scharf auf allen Ebenen hinter dem i-Tüpfelchen her ist, zeigte sich auch an der Wahl ihrer 24-jährigen Hauptdarstellerin Julia Willecke alias Julia Beautx. Die Influencerin mit 3,8 Millionen Instagram-Followern (O-Ton Scharf: "Julia ist besser als manch ausgebildete Darstellerin") spielt in der "Frühling"-Reihe Simone Thomallas Praktikantin und trägt "Gestern waren wir noch Kinder" als Vivi wie auf dem Silbertablett in die junge Zielgruppe. Ihre Community sorgte dafür, dass die Server beim Publikumsvoting des Blauen Panthers zweimal zusammenbrachen, und war wohl auch an den hohen Abrufzahlen in der Mediathek nicht ganz unschuldig.
Mitte Dezember stand anlässlich der Wiederholung der Serie auf ZDFneo die Frage nach einer möglichen Fortsetzung im Raum, die Julia Beautx bereits im Februar – wohl etwas voreilig – auf ihrem YouTube-Kanal versprochen hatte. "Nach der gelungenen ersten Staffel von 'Gestern waren wir noch Kinder' finden derzeit Gespräche über eine mögliche zweite Staffel statt", teilte das ZDF offiziell mit. So oder so dürfen wir mit weiteren packenden Lagerfeuer-Stunden aus Natalie Scharfs Kreativschmiede rechnen.