Außergewöhnliche Erfolge haben oft ihre ganz eigene Vorgeschichte. Als Netflix das Projekt "Liebes Kind" auf den Tisch bekam, waren die sechs Episodendrehbücher bereits fertig geschrieben. Gemeinsam mit Co-Autor Julian Pörksen und Constantin-Film-Produzent Tom Spieß hatte Isabel Kleefeld so fest an den Psychothriller-Stoff geglaubt, dass ihr die Vorarbeit ohne Greenlight ein überschaubares Risiko schien. Das Manuskript von Romy Hausmanns Roman, auf dem die Serie basiert, hatte sie noch vor dessen Veröffentlichung in die Finger bekommen. "Ich habe die ganze Nacht gelesen", so Kleefeld.

Viereinhalb Jahre später ist "Liebes Kind" die meistgestreamte deutschsprachige Netflix-Serie aller Zeiten, hat "Dark" und "Barbaren" überrundet, war vier Wochen die weltweite Nummer eins und in über 90 Ländern in den Top 10 der Streaming-Plattform. Ein Sensationserfolg, mit dem in diesem Ausmaß keiner der Beteiligten gerechnet hatte. Das Besondere an "Liebes Kind" ist die abgründige Charakterstudie einer jungen Frau, der gleich zu Beginn die Flucht aus jahrelanger Gefangenschaft gelingt. Was anderswo Happy End wäre, ist hier der Einstieg in eine beängstigende Konstellation und die Erkenntnis, dass der Horror auch nach der Flucht unvermindert andauert.

"Exzellenz in Casting und Gewerken", urteilte das Medienmagazin DWDL.de, und weiter: "ein Meilenstein, dem man sich schon nach 15 Minuten nicht mehr entziehen kann". Der "Spiegel" lobte das "psychologische Erzählen", durch das "sensationsheischende Aspekte kaum eine Rolle" spielten, das US-Magazin "Time" die "originellen, beunruhigenden Wendungen", die "Dear Child" – so der englische Titel – auf eine Stufe mit Thrillern wie "Gone Girl" oder "Room" stelle. Aus Sicht der Macherin selbst steht und fällt die Serie mit "diesem Gefühl, dass es einen doppelten Boden gibt, dass hier irgendwas nicht stimmt, ohne durchschaubar oder langweilig zu werden", wie sie im "Zeit"-Interview treffend zu Protokoll gab.

Dreharbeiten Liebes Kind © Netflix/W. Ennenbach Intensive Arbeit am Set: Isabel Kleefeld erklärt Naila Schuberth und Sammy Schrein die nächste Szene

Für Isabel Kleefeld bedeutet "Liebes Kind" einen großen Sprung. Die 57-jährige Düsseldorferin, die als Regieassistentin einst für Detlev Buck, Oliver Hirschbiegel, Sönke Wortmann oder Christian Zübert arbeitete, hat zwar schon etliche – überwiegend öffentlich-rechtliche – TV-Movies geschrieben und noch mehr inszeniert, für die sie zwei Deutsche Fernsehpreise und einen Grimme-Preis einsacken konnte. Doch erst ihre konsequente Hinwendung zur Streaming-Serie schleuderte sie nun mit Nachdruck aufs internationale Parkett, wo sie fortan zu Recht gefragt sein wird.

Es spricht für Kleefelds bodenständige Haltung, dass sie selbst die Auswirkungen lieber kollektiviert: "Der Erfolg der Serie ist natürlich auch gut für unsere gesamte Branche, weil international wahrgenommen wird, dass aus Deutschland heraus wieder ein globaler Hit auf Netflix geglückt ist. Und dass das auch erneut möglich sein kann."

In der Tat spielt das Werk über den eigenen Erfolg hinaus eine spezielle psychologische Rolle für die verunsicherte Kreativbranche im Jahr 2023: Mit all den Kürzungen und Einsparungen infolge von Inflation und Werbeflaute musste sich mancher ehrgeizige Serienaspirant fragen, ob der Markt noch Platz für Aufwand und Anspruch hat oder ob künftig auch bei den Streamern nur noch abgeflachter Mainstream geht. Die Antwort von "Liebes Kind" ist ebenso reizvoll wie optimistisch: Man kann den Mainstream geschickt revolutionieren, indem man ein reichlich vorhandenes, stets gefragtes Genre aufs nächste Level hebt. Isabel Kleefeld zumindest hat bewiesen, dass sie es kann.