Heute dürfte man die Zuschreibung "Dein Tag hat mehr als 24 Stunden" in den Bereich des Boomersprechs einsortieren. Ein Schenkelkopfer-Spruch, den man kurz vor laut werden wieder schnell leise runterschlucken möchte. Und doch drängt sich die Variante in Form einer Frage beim Mittvierziger Micky Beisenherz so sehr auf, dass man sich windet und schließlich dem Drang erliegt. Also: "Wieviele Stunden mehr hat denn ein Tag im Leben des Moderations- und Gagschreibers, Polit- und Freitagabend-Talkers, Kolumnisten, Buchautors und Podcasters?" Nicht zu vergessen diverse Auftritte als Gast in anderen Sendungen und Podcasts. Angesichts des Pensums, der Themenvielfalt und der dabei vermittelten Leichtigkeit dürfte die Antwort dem normalen 24-h-Menschen einen Hauch von Schamesröte ins Gesicht treiben. Eine andere Erklärung ist aber vermutlich plausibler: er kann es einfach.
Ein Weltenwanderer zwischen Politik, Sport, Zeitgeschehen, Popkultur, Reality, der sich in so vielen Bereichen auszukennen scheint und nebenbei auch seine eigene Social Media-Timeline pflegen muss, kann wenig Zeit zur intensiven Vorbereitung haben und hat es stattdessen wohl alles abrufbar im Kopf. Und das auch noch mit passenden Punchlines und viel Gespür für Timing. Eine feine Beobachtungsgabe, die in einer Reihe mit der eines Benjamin von Stuckrad-Barres steht und ihn immer mehr zu einem Chronist unserer Zeit werden lässt. Einer, der dem Leben mit Witz begegnet und es gar als einen ansieht und sich einen Spaß daraus macht, die "Bild"-Kolumne von Franz Josef Wagner mit Homer-Simpson-Stimme zu verlesen. Dass er diesen verehrt, konnte man nicht zuletzt in der "SZ" anlässlich des 80. Geburtstags der "Boulevard-Legende" nachlesen.
Überrascht hat so gesehen auch die Meldung Ende November wenig, dass sich seine Schlagzahl beim "Kölner Treff" ab 2024 von zweiwöchentlich auf wöchentlich erhöht und das obwohl der WDR ein umfangreiches Casting vollzogen hatte. Nach dem Abschied von Bettina Böttinger setzte man bei der von ihr produzierten Sendung eigentlich auf eine andere Ergänzung neben dem Duo Beisenherz/Link. Der Plan wurde geändert und auch beim "Kölner Treff" manifestiert sich, dass man ihm gerne dabei zuhört, ein guter Gesprächspartner zu sein. Und so talkt der Hamburger aus Henrichenburg an der Seite von Susan Link fortan immer am Freitagabend und kann wie jüngst eine auf dem Silbertablett liegende Vorlage mit Gast Reiner "Calli" Calmund, der von seinem Kalifornientrip erzählte, in "Callifornia" verwandeln. Die Omnipräsenz des Mannes aus dem Ruhrpott gefühlt überall kam jedoch häppchenweise. Der Reihe nach.
Auch wenn er die Krönung von Dschungelkönig Costa Cordalis und damit den Auftakt von "Ich bin ein Star - Holt mich hier raus!" nicht als Autor begleiten durfte, ist er mit bald 15 Jahren Zugehörigkeit doch ein Routinier bei der Realityshow von RTL. Aufgrund gemeinsamer Projekte überzeugt hatte ihn im Jahr 2009 Jens Oliver Haas. Seitdem denkt und gagt er sich mit ihm und weiteren Kolleginnen und Kollegen ins Camp rein und profitiert davon, wenn die Selbstwahrnehmung der Campbewohnerinnen und -bewohner im australischen oder südafrikanischen Dschungel nicht deckungsgleich zur Fremdwahrnehmung ist. Wie lang seine Ära bei dem 2013 für einen Grimmepreis nominiertem Format ist, wird auch daran erkennbar, dass er von Dirk Bach, über Daniel Hartwich und Jan Köppen alle männlichen Moderatoren an der Seite von Sonja Zietlow begleitet hat. Und ihr und ihnen bissigen Charme auf den Moderationsleib schrieb.
Doch nicht nur beim RTL-"Dschungel" profitierte man vom Comedy-Gen des begnadeten Stimmenimitators mit einer Range von Karl Lauterbach, über Florian Silbereisen, hin zu Herbert Grönemeyer und Uli Hoeneß. Auch für die "heute-show" oder die Kunstfigur Atze Schröder lieferte er in der Vergangenheit Input hinter den Kulissen. Neben Polit-Comedy, Gags für ein Bühnenprogramm und dem "Dschungel" kommt vor allem 2015 mit "Das Lachen der Anderen - Comedy im Grenzbereich" eine weitere Ausdifferenzierung hinzu. Ein Projekt zusammen mit Oliver Polak, der ein paar Jahre später Teile des Konzepts in "Your Life Is A Joke" bei Netflix überführte.
In der zehnteiligen WDR-Reihe tauchen Beisenherz und Polak in verschiedene, ihnen weniger vertraute Lebenswelten ein. Menschen, die sich qua eines Merkmals an den Rand gedrängt fühlen, oder vom Mainstream dort verortet werden. So geht es beispielsweise um Menschen mit Down-Syndrom, HIV oder Sehbehinderung. Nach teilweise ziemlich berührenden Begegnungen steht am Ende jeder Folge ein Stand-up Polaks, um die jeweilige Gruppe zu roasten. In der drei Jahre nach dem "Dschungel" in der Kategorie "Unterhaltung / Innovation" für einen Grimmepreis nominierten Comedy-Doku ging es vor allem darum, die Grenzen des Humors auszuloten. Was darf man? Was findet die jeweilige Gruppe lustig? Was nicht? Der Untertitel "Comedy im Grenzbereich" zeigte genau das, was wichtig war: den richtigen Ton zu treffen. Witze auch miteinander zu machen, statt nur übereinander. Und das gelang.
Regelmäßigkeit und eine weitere Facette erhielt die TV-Präsenz Beisenherz' aber vor allem durch den "Kölner Treff" beim WDR und seine eigene Show bei ntv, bei der man seine Person durch eine Titeländerung nochmals stärkte, oder wie der Mann der Tausend Rollkragenpullover selbst meinte: "Wenn eine Sendung meinen Namen trägt, können Gottschalk oder Silbereisen die nicht so einfach übernehmen". Gestartet war der Polit- und Gesellschaftstalk im Februar 2020 mit dem Ausbruch der Pandemie als "#timeline" bis sie im August 2021 vor der Bundestagswahl mit erhöhter Schlagzahl und dem neuem Titel "#beisenherz" daher kam.
Eine höhere Dosis Beisenherz und zwar statt zweiwöchentlich im Wechsel mit "Klamroths Konter" jeden Montagabend um 23:30 Uhr. Mit zwei Gästen aus den Bereichen Journalismus, Politik, Medien, oder Prominenz werden unter Einhaltung eines Zeitlimits jeweils fünf trendende Themen aus der Social-Media-Welt diskutiert. Das Konzept brachte eine neue Farbe in die Talkwelt, bei der nicht ausufernd, dafür aber kontrovers diskutiert wird, was auch mit der Besetzung und einem reflektierten Moderator zusammenhängt.
Filterkaffee vom "Ruhrpottphilosophen"
Zusammen mit dem ebenfalls ungefähr zu der Zeit gestarteten Newspodcast "Apokalypse & Filterkaffee" über "die frisch gebrühten Schlagzeilen des Tages" mit seiner Lebenspartnerin Nikki Hassan-Nia festigte sich das weitere Standbein des Besprechers und Einordners aktueller Themen. Das Projekt begann als Gespräch über Meldungen und Schlagzeilen in einem Haushalt. Mittlerweile kann man die wechselseitige Begrüßung "Guten Morgen Nikki" - "Guten Morgen Micky" meist nur noch einmal die Woche montags hören, stattdessen brät er das "News-Omelette" mit der Zielgruppe, die sich etwas mit der von "#beisenherz" deckt. Erkennbar aus den eigenen vier Wänden heraus ist der Podcast nach draußen gewachsen, aber auch in Breite und Tiefe.
Vielleicht ist es dann doch auch ein wenig dem Zeitmanagement geschuldet, dass er "ApoFiKa" dienstags als "Nachrichtenmüsli" Markus Feldenkirchen und Yasmine M'Barek und jeden zweiten Donnerstag Jagoda Marinić mit dem "Newskaviar" überlässt. Und dennoch bleibt ein fast täglicher Podcast mit Gesprächspartnerinnen und -partnern, zu denen auch schon Politiker wie Robert Habeck, Lars Klingbeil oder Carsten Linnemann zählten, aber ebenso die Journalistin Nele Pollatschek, Produzent Friederich Oetker oder Politik-Kenner Robin Alexander. Immer um den Perspektivwechsel bemüht, gibt es auch bei den eingeladenen Diskussionspartnerinnen und -partnern eine entsprechende Range.
Diese Breite zeigt sich in seinem ganzen Schaffen, auch dann wenn man sich die Ausrichtung seiner regelmäßigen Podcasts ansieht. Denn neben dem genannten "ApoFiKa" stehen zwei weitere. So dröselt er bei "Fußball MML" zusammen mit Maik Nöcker und Lucas Vogelsang die Fußballwelt auf und bei "Friendly Fire" wird es im Verbund mit seinem Freund Oliver Polak, der ihn kürzlich treffend als "Ruhrpottphilosoph" bezeichnete, im so genannten "Labern" auch gerne mal persönlicher. Man kommt fast außer Atem bei all dem Output und so ist es vielleicht gar nicht so verwunderlich, dass auf der Unterseite "Unser Moderations-Team" des WDR zum "Kölner Treff" nach dem ausführlichen Profil von Susan Link bislang nichts über ihn steht. "Der Text zu Micky Beisenherz folgt ganz bald". Vielleicht kann Franz Josef Wagner helfen?